Sonntag, 28. April 2024

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EU und Brexit
"Um zu verhandeln, braucht man zwei Partner"

Innerhalb der Europäischen Kommission müsse man sich entscheiden, wie ein Austritt Großbritanniens aus der EU aussehen könne, sagte die ehemalige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart im Dlf. Die Vorschläge der britischen Regierung seien von der Kommission nicht so ernst genommen worden, wie das hätte sein sollen.

Dirk-Oliver Heckmann im Gespräch mit Gisela Stuart | 05.10.2017
    Gisela Stuart war die Chefin der "Vote Leave"-Kampagne
    Gisela Stuart war die Chefin der "Vote Leave"-Kampagne (imago / i Images)
    Dirk-Oliver Heckmann: Theresa May, die britische Regierungschefin, gilt als extrem angeschlagen. Von mehreren Seiten steht sie erheblich unter Druck. Da sind die Verfechter eines harten Brexit auf der einen und die eines weichen Brexit auf der anderen Seite. Dann noch ihre fatale Entscheidung, Neuwahlen herbeizuführen, bei denen ihre Konservativen ihre absolute Mehrheit nicht ausbauten, sondern verloren. Man durfte also gespannt sein auf ihre Rede vor dem Parteitag der Tories gestern. Angeschaut hat sich die auch Gisela Stuart, ehemalige Labour-Abgeordnete. Sie hat eine zentrale Rolle bei der Volksabstimmung über den Brexit gespielt. Sie war nämlich die Chefin der Vote Leave Campagne. Sie ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Frau Stuart!
    Gisela Stuart: Guten Morgen!
    Heckmann: Die Stimme Mays ist ja wegen einer Erkältung mehrfach eingebrochen. Einem Spaßvogel gelang es, ihr auf offener Bühne eine Entlassungsurkunde zu überreichen. Und am Ende löste sich sogar noch die Hintergrundkulisse auf. Ist das sinnbildlich für die Lage, in der Theresa May steckt?
    Stuart: Ich glaube, heute Morgen wird sich sowohl Theresa May als auch ihr Team um sie herum an gestern mit Schrecken erinnern. Es war wirklich nicht der Parteitag, den man sich wünschte. Natürlich, ihre Einführung war ganz akkurat. Man muss aber noch dazu sagen, dass man das im Vergleich zu dem Labour-Parteitag sehen muss, der die Woche zuvor erfolgreich voll mit Energie, voll von jungen Leuten war. Es ist also nicht nur ein Problem in der konservativen Regierung, sondern auch ein Problem in der konservativen Partei: Welche Richtung soll man einschlagen? Und das ist ein Problem, das viele von den europäischen Volksparteien im Augenblick erfahren.
    Heckmann: Da sind sich allerdings die Labour-Politiker offenbar auch nicht ganz einig. Denn dort, was Brexit ja oder nein angeht und in welcher Form, da gibt es ja nun auch Korrekturen im Kurs, sage ich mal. Aber um noch mal zurückzukommen auf Theresa May: Ihr eigener Außenminister Boris Johnson, der hat gesagt, May wird in einem Jahr nicht mehr Premierministerin sein. Was haben wir da für eine Theresa May gestern gesehen? Ist sie eine Premierministerin auf Abruf?
    Stuart: Zwei Sachen sind passiert. Premierministerin May musste ja immer sagen, dass sie natürlich plant, in die nächste Wahl als Regierungschef und Führer der Konservativen zu gehen, denn jeder Premierminister, sobald es mal ein Datum dafür gibt, wann er abtreten will, wird noch erheblich geschwächter. Ich glaube aber, dass keiner geglaubt hat, dass sie länger wie die Brexit-Verhandlungen bleiben wird. Und das hat sie gestern ganz einfach noch klarer gemacht. Ich glaube, es kann sich keiner vorstellen, dass sie einen Wahlkampf führen würde. Wie sich das jetzt aber auf die Brexit-Verhandlungen auswirkt, sehe ich ganz einfach im Augenblick keine Alternative für die Konservativen. Wird man wirklich den Parteivorsitzenden ändern, ohne eine interne Wahl zu haben? Keiner will eine Neuwahl, weder innerhalb der Partei, oder eine Wahl im ganzen Land. Und ich habe den Verdacht, dass man vielleicht sich entscheidet, dass May diese Verhandlungen zu Ende bringen muss, und dann sieht man, wer ihr Nachfolger sein könnte.
    "Ihr Wahlkampf im Sommer war wirklich ein Schulbuchfall"
    Heckmann: Was hat sie denn falsch gemacht aus Ihrer Sicht?
    Stuart: Das ist eben das Problem für sie. Man kommt auf die Napoleon-Frage zurück, der von seinen Generälen immer sagte, da hat er Glück. Und ich glaube, für sie, obwohl die Politikvorschläge eigentlich gut waren für die Konservativen, sie hatte ganz einfach kein Glück, wie dieser Komödiant da reinkam. Ihre Leute hätten ihr sagen sollen, 25 Interviews vor der großen Rede ist keine gute Idee. Und dafür, dass so ein Buchstabe hinten runterfiel, kann man sie wirklich nicht verantwortlich machen. Aber zusammen sieht es aus wie ein Premierminister, der nicht viel Glück hat, und das ist in der Politik natürlich auch schlecht.
    Heckmann: Aber ist das mangelndes Glück, wenn sie Neuwahlen herbeiführt und dann die absolute Mehrheit für die Konservativen nicht ausbaut, sondern verliert? Ist das eine Frage von Glück und Pech?
    Stuart: Nein. Das war nicht nur Pech, das war auch politisch ein großer Fehler. Und sie war auch ganz klar in ihrer Rede am Anfang, dass sie dafür vollkommene Verantwortung übernimmt. Ihr Wahlkampf im Sommer war wirklich ein Schulbuchfall, wie man Wahlen nicht abhalten sollte. Aber wissen Sie, ich war letzte Woche in Deutschland. Die Wähler sind im Augenblick in ganz vielen Ländern nicht bereit, einer Partei eine große Mehrheit zu geben.
    Heckmann: Und das unterscheidet Großbritannien in der Tat nicht von Deutschland. Aber kommen wir noch mal zurück auf die Rede von Theresa May gestern. Sie hat ja angekündigt, der Brexit, der komme so oder so, ob jetzt ein neuer Vertrag mit der EU ausgehandelt ist oder nicht. Man sei auf alles vorbereitet. Haben Sie sich das eigentlich, Frau Stuart, so vorgestellt, als Sie für den Brexit geworben haben?
    Stuart: Wie sich das weiter entwickelt hat, ich glaube, das hat sich keiner so vorgestellt. Aber wissen Sie, was sie über Brexit sagte, ist eigentlich nichts Nachrichtenwürdiges für die britische Presse, denn man hat angenommen, dass man die Europäische Union verlässt. Wovon heute bei uns die Zeitungen voll sind, sind die Energiepreise, die sie vorhat, hier zu begrenzen, die neuen Sozialwohnungen, die sie sagt, sie will sie bauen, und die Vergleiche damit, dass sie eigentlich die Politikvorschläge der Labour-Partei übernommen hat. Und das ist auch ein Zeichen der Krise der Konservativen als eine Partei, dass man sich nicht klar ist, was bedeutet es eigentlich, ein moderner Konservativer zu sein.
    "Europäische Gerichtshof hat nicht mehr das letzte Wort"
    Heckmann: Die Diskurse auf der Insel und auf dem Kontinent, auch in Deutschland sind unterschiedlich. Das haben wir immer wieder natürlich auch feststellen können, auch mit Ihrer Hilfe, Frau Stuart. Aber trotzdem noch mal die Frage: Ein Brexit ohne einen neuen Vertrag mit der EU, ist das für Sie vorstellbar?
    Stuart: Ich habe eine tiefe Frustration im Augenblick. Um zu verhandeln, braucht man ja zwei Verhandlungspartner, und ich glaube, dass die Vorschläge, die von der britischen Regierung gekommen sind, eigentlich vielleicht nicht so ernst genommen wurden bei der Kommission, als man das hätte machen sollen. Und ich glaube, es ist weder im Interesse der Europäischen Union noch der britischen Regierung, keine Übereinstimmung zu treffen. Es ist aber auch ganz klar, dass für die Briten eine zeitbeschränkte Verhandlungspause ansteht. Und wissen Sie, ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Interesse von irgendjemandem wäre, nicht innerhalb dieser Kommission und dieses Europäischen Parlaments, zu einem Abschluss zu kommen, und das bedeutet, man muss das machen, bevor die nächsten europäischen Wahlen anstehen.
    Heckmann: Und da wartet Brüssel auf entsprechende Vorleistungen und auf entsprechend gemachte Hausaufgaben auch aus London. Das wird immer wieder betont, dass da einfach zu wenig passiert, oder eigentlich fast gar nichts. Theresa May hat in Florenz in ihrer Rede ja auch angekündigt, es werde eine Übergangszeit geben, in der Großbritannien weiter in die EU einzahlen werde. Ist das aus Ihrer Sicht möglicherweise der Ausstieg aus dem Ausstieg?
    Stuart: Man muss sich aber vor dem Anfang der Übergangszeit ganz klar darüber sein, dass man austritt, und die Bedingungen, unter denen man austritt. Eine Übergangsperiode kann nur Sinn machen, wenn man sich entschieden hat, was man am Ende machen will. Und man braucht ganz einfach nur ein bisschen mehr Zeit. Viele wollen das aber so interpretieren, als ob man sich ganz einfach dann am Ende für eine Übergangszeit entscheidet. Und das Allerwichtigste, was ich glaube, dass in Europa noch nicht ganz anerkannt wird, ist, dass für uns der ausschlaggebende Punkt ist, dass der Europäische Gerichtshof nicht mehr das letzte Wort hat. Geld, über das kann man verhandeln. Europäischer Gerichtshof, das ist eine Frage des Prinzips.
    Heckmann: Aber noch mal die Frage, Frau Stuart. Diese Übergangszeit, die ja jetzt von Theresa May in Florenz angekündigt worden ist, ist das möglicherweise ein Hintertürchen, das man sich offenhält, um hinterher sagen zu können, wir machen aus dem Provisorium wieder eine dauerhafte Lösung?
    "Eine Frage, wo beide Seiten noch Illusionen haben"
    Stuart: Nein, das darf nicht so angesehen werden. Und ich glaube, das ist immer eine Frage, wo beide Seiten noch leichte Illusionen haben. Die britische Bevölkerung hat sich entschieden auszutreten. Das bedeutet, dass innerhalb dieser Europäischen Kommission man sich entscheidet, wie ein Austritt aussieht. Dann kann man eine Zeit haben, dass man das dann übersetzt in Praktisches, und ich glaube, dass zur nächsten britischen Nationalwahl die beiden Parteien in den Wahlkampf gehen müssen, dass man sowohl die Entscheidung getroffen hat und auch weiß, dass die Übergangsperiode zum Ende gekommen ist.
    Heckmann: Und diese Neuwahlen oder diese Wahlen, die könnten schneller kommen als man denkt. Es wird ja immer wieder über Neuwahlen spekuliert bei Ihnen. Sogar ein Einzug des Labour-Chefs Jeremy Corbyn in Downing Street wird nicht mehr ausgeschlossen, also Ihr Parteichef. Sind das aus Ihrer Sicht überschießende Spekulationen, oder könnte das so kommen?
    Stuart: Ich gehe ganz einfach davon aus, dass die nächste Wahl in 2022 ist.
    Heckmann: Gisela Stuart war das, die ehemalige Labour-Abgeordnete. Wir haben gesprochen über den Auftritt von Theresa May gestern in Manchester. Frau Stuart, danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
    Stuart: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.