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"Europäischer Bürgerkrieg" als fundamentale Krise

Der italienische Politikprofessor Enzo Traverso beschreibt in seinem neuen Buch "Im Bann der Gewalt" die Geschichte Europas zwischen 1914 und 1945. Das Besondere: Traverso schildert diese Zeit nicht wie gehabt als ein Sammelsurium national unterschiedlicher, isoliert voneinander verlaufender Entwicklungen, sondern als einen permanenten "europäischen Bürgerkrieg".

Von Helge Buttkereit | 19.01.2009
    Die Interpretation der Geschichte war, ist und wird immer ein Politikum sein. Das gilt insbesondere für eine Zeit von solcher Wirkungsmacht wie die des Nationalsozialismus. Dabei hat es mittlerweile den Anschein, dass dieser Zeit vor allem in der deutschen Geschichtsschreibung nicht mehr ihre unzweifelhafte Sonderstellung zukommt, sondern dass sie quasi der Geschichte entrückt wurde.

    Durch die Singularität und die Unbegreifbarkeit des Holocausts wurde der Nationalsozialismus seinem historischen Umfeld entrissen. Dass er als Antithese der Moderne tief in der europäischen Geschichte verwurzelt war und ohne seine Vorgeschichte nicht zu verstehen ist, ist eine der Kernaussagen von Enzo Traversos neuen Buch "Im Bann der Gewalt", in dem er, so der Untertitel, den "Europäischen Bürgerkrieg" von 1914 bis 1945 beschreibt, der für ihn einen Zyklus darstellt,

    In dem sich eine katastrophale Ereigniskette - Krisen, Konflikte, Kriege, Revolutionen - zu einem geschichtlichen Umbruch verdichtete, dessen Voraussetzungen sich in der langen Dauer im Laufe des vorhergehenden Jahrhunderts herausgebildet hatten. Die Entstehung der Massengesellschaft, der Übergang vom liberalen zu einem monopolisierten Kapitalismus, die Demokratisierung der Politik, die Nationalisierung der Massen und die militärische Revolution gingen dem großen Bruch des Jahres 1914 voraus.

    Die neue Epoche der Weltgeschichte beginnt für Traverso also mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Folge und nicht als Bruch, hier ist er begrifflich inkonsequent, des liberalen 19. Jahrhunderts der Industriellen Revolution. Schließlich habe der Krieg durch seine Brutalität in den Schützengräben, aber auch durch das Verwischen des Gegensatzes Soldat - Zivilist die Qualität des industrialisierten Krieges in die Geschichte gebracht.

    Begonnen im Namen des Mythos vom Heldentod, endete der Erste Weltkrieg dann mit der Gedenkfeier für den "Unbekannten Soldaten". Dieser repräsentierte die unzähligen Opfer eines Kriegs, in dem sich der Akt des Tötens in eine rein mechanische Operation verwandelt und der Tod den Charakter einer kollektiven, anonymen, eigenschaftslosen Erfahrung angenommen hatte.

    Traverso hat den Titel seines Buches mit Bedacht gewählt. Für ihn ist es die Gewalt, die die Menschen Europas nach dem Ersten Weltkrieg in ihren Bann zieht. Revolution in Deutschland, Faschismus in Italien, Bürgerkrieg in Spanien, aber auch die Philosophie des Ausnahmezustands von Carl Schmitt oder Walter Benjamins "Deutsches Trauerspiel" sind für ihn nur einige von vielen Ausdrücken dieser Wirkungsmacht der Gewalterfahrung. Als Bürgerkrieg sieht er die Zeitspanne zwischen 1914 und 1945 deshalb, weil klassische Konflikte zwischen Staaten von innerstaatlichen Kriegen und Krisen flankiert werden und der "totale Krieg" eine alle Menschen traumatisierende Erfahrung war.

    Die Begriffsbildung des "Europäischen Bürgerkriegs" stammt indes von Ernst Nolte. Der deutsche Historiker hat den Schwerpunkt 1987 auf die bolschewistische Oktoberrevolution gelegt. Sie wollte, so argumentierte Nolte, keine russische sein, sondern sie erklärte der bestehenden Welt, dem Kapitalismus, den Krieg und hatte Anhänger in allen Teilen Europas. Damit habe der Bürgerkrieg von Revolution und Konterrevolution gesamteuropäische Dimensionen erreicht. Nolte ging aber noch weiter, wie hier 1987 im Gespräch mit dem damaligen Sender Freies Berlin.

    "Ich meine zwar nicht, dass man den russischen Bolschewismus und den deutschen Nationalsozialismus ohne weiteres in das Verhältnis von Revolution und Konterrevolution bringen könnte, aber so viel ist sicher, dass die Vernichtungsmaßnahmen der russischen Revolution den Nationalsozialisten früher bekannt waren als die Vernichtungsmaßnahmen des Nationalsozialismus' umgekehrt den Bolschwiki."

    Mit dieser These die von seinen Gegnern darauf zugespitzt wurde, die Vernichtung der Juden sei eine Antwort auf den Terror der Bolschewisten, löste Nolte den Historikerstreit der Jahre 1986 und 1987 aus. Für die Interpretation des "Europäischen Bürgerkriegs" ist es vor allem wichtig, dass Nolte die Epoche der Gewalt mit der Oktoberrevolution beginnen lässt. Dadurch, dass Traverso drei Jahre früher ansetzt und das mit der alles dominierenden Gewalterfahrung gut begründet, holt er die Krise des demokratischen, liberalen Kapitalismus der Vorkriegszeit mit in die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs hinein.

    Nolte hingegen setzt durch den Fokus auf die Revolution einen unschuldigen Liberalismus als Antithese zum totalen Staat von Faschisten und Bolschewisten. Allerdings sieht auch Traverso, trotzdem er immer auf die Unterschiede pocht, Gemeinsamkeiten zwischen Braun und Rot, die nach seiner Auffassung die ganze Epoche prägen.

    Revolution und Gegenrevolution, Kommunismus und Faschismus führten gegeneinander einen Kampf um Leben und Tod, teilten aber gleichzeitig das Bewusstsein, in einem bewaffneten Jahrhundert zu leben, einem Jahrhundert des Krieges, das der Ära des Friedens, des Liberalismus, des Parlamentarismus und des friedlichen Fortschritts ein Ende gemacht habe.

    Traverso beschreibt den Europäischen Bürgerkrieg mit seinem radikalsten Ausdruck im Nationalsozialismus und der industriellen Vernichtung der europäischen Juden als fundamentale Krise des modernen Fortschrittsglaubens überhaupt. Er spricht es nur nicht aus. Dabei böte doch gerade die Öffnung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs hin zum Ersten einen anderen Blick auf die europäische Tradition, für die Hitler die extremste historische Möglichkeit, aber keine Notwendigkeit war. Es wäre interessant gewesen, das nach 1945 konstatierte "Ende Mitteleuropas" weiter zu verfolgen. Denn es war nicht nur Nostalgie sondern der Bezug auf eine abgebrochene Tradition, wenn, so beschreibt es Traverso, Joseph Roth und Elias Canetti Mitteleuropa

    mit dem Erbe des multinationalen und kosmopolitischen Habsburgerreich identifizierte[n], das ja gerade das Gegenteil eines monolithischen, auf den Begriff des deutschen "Volkes" gegründeten Deutschlands gewesen war.

    Dass die Geschichte Mitteleuropas nicht aufhört sondern untergründig weiter wirkt, begreift heute leider nur die extreme politische Rechte. Traverso hingegen nimmt - vielleicht sogar deshalb - seine eigene Steilvorlage nicht auf. Dabei wäre sein gesamteuropäischer Ansatz eine gute Grundlage, weiter zu denken.

    Seine Analyse ist dennoch hochpolitisch. Zu recht weist er auf die Tendenz hin, das Zeitalter der Kriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen auf die Schrecken des Totalitarismus zu reduzieren, wodurch die Erinnerung an die Kämpfer alles Beispielhafte verliere - auch an die für eine gute Sache. Ihr Antifaschismus werde direkt mit den stalinistischen Gulags verbunden und damit werde jegliches positive Engagement obsolet. Dabei darf es laut Traverso nicht bleiben. Allerdings:

    Wenngleich die Veränderung der Welt weiterhin eine Notwendigkeit bleibt, die vielleicht auch wieder zu einem konkreten Projekt werden könnte, so müssen die Wege dorthin auf radikale Weise neu überdacht werden. Die Erfahrungen dieser Generation erfordern nicht zuletzt deswegen eine genaue Untersuchung, die ohne Nostalgie und Tabus erfolgen sollte."

    Traversos "Im Bann der Gewalt" ist ein zweifellos ein Schritt auf diesem Weg.

    Helge Buttkereit über Enzo Traverso: Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914 - 1945. Erschienen im Siedler Verlag, 399 Seiten zum Preis von 24 Euro und 95 Cent.