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Eurovision Song Contest
Eine Krimtatarin für die Ukraine

Die Krimtatarin Jamala reist für die Ukraine zum Eurovision Song Contest. Angesichts der Annektion der Halbinsel durch Russland ist die Kandidatin eine gewagte Wahl. Die 32-Jährige beteuert, mit ihrem Song "1944" keine Politik machen zu wollen. Dabei ist ihr Lied hochbrisant.

Von Sabine Adler | 23.02.2016
    Die ukrainische Sängerin Jamala, die der Minderheit der Krimtataren angehört, tritt für ihr Land beim Eurovision Song Contest (ESC) in Stockholm an.
    Die ukrainische Sängerin Jamala, die der Minderheit der Krimtataren angehört, tritt für ihr Land beim Eurovision Song Contest (ESC) in Stockholm an. (pa/dpa/EPA)
    Die 32-jährige Jamala, die tatsächlich Susanna Dschamaladinowa heißt, hat "1944" für ihr letztes Album geschrieben. Sie tauchte dafür tief in die Geschichte ihrer Familie ein, die der sowjetische Diktator Josef Stalin in eben jenem Jahr 1944 von der Krim nach Zentralasien zwangsumsiedeln ließ.
    Erinnern an Gewaltexzesse
    Der Liedtext beginnt mit den Worten: "Wenn Fremde kommen, wenn sie in euer Haus kommen, alle töten und sagen, sie seien nicht schuld" - eine Erinnerung an die damaligen Gewaltexzesse.
    Die Hälfte der fast 250.000 deportierten Krimtataren kam ums Leben. Ihre Urgroßmutter überlebte. Sie musste in einen Viehwagen steigen und wurde nach Kirgisistan gebracht. Ihr Vater, Krimtatare, ihre Mutter, Armenierin, kehrten 50 Jahre später, Anfang der 1990er Jahre, auf die ukrainische Halbinsel zurück, wo Jamala aufwuchs.
    "Es geht um meine Familie und meine Wurzeln. Es ist kein ausgedachter Text. Oder der Versuch, Politik zu machen. Der Text reicht in meine Kindheit zurück und noch viel weiter." Jamala weiß, dass jeder, der ihren Titel hört, sofort auch an die Okkupation der Krim 2014 durch Russland denkt.
    Die ukrainische Sängerin Ruslana, die vor 12 Jahren mit diesem Titel "Wild Dances" den Eurovision-Wettbewerb für die Ukraine gewann und auf dem Maidan 2004 wie auch 2013/14 eine prominente Aktivistin war, saß in der Jury und sagte: "Jamala, dir ist etwas Großes gelungen, durch deine Musik fühle ich den schmerzlichen Verlust der Krim." Die Künstlerin, eine nachdenkliche Person, erklärt, dass es ihr um weit mehr als um aktuelle Assoziationen geht.
    "Man kann Parallelen ziehen, aber ich möchte unter keinen Umständen, dass die Ereignisse heute so tragisch wie 1944 enden. Die Menschen sind wie Vieh in Waggons geladen und wochenlang ohne Essen und Trinken nach Zentralasien gefahren worden. Genau deswegen singe ich das Lied, damit wir Jungen wissen, was geschah und nicht die Fehler wiederholen."
    Eurovision Song Contest will apolitisch sein
    Der Eurovisions-Wettbewerb will erklärtermaßen apolitisch sein, die Sängerin, die vor allem Jazz- und Soulmusik interpretiert, und Texte mit Tiefgang bevorzugt, weiß, dass sie anders verstanden werden wird.
    "Ich möchte, dass Europa das eher als einen Teil der Geschichte auffasst. Die Geschichte des Stalin-Regimes, unter dem viele Völker der Sowjetunion gelitten haben. Was man Europa schon jetzt weiß, aber vielleicht das Ausmaß des Mordens und der Verbrechen nicht."
    Jamalas Freunde von der Krim schreiben ihr, dass ihr Titel "1944" derzeit in vielen Cafes und Kiosken gespielt wird und sorgt sich um die Sicherheit ihrer Leute auf der besetzten Halbinsel. "Krimtataren, die offen ihre Position vertreten, verschwinden, jeder lebt gefährlich, der dort sagt, dass die Krim zur Ukraine gehört."
    Die Ukrainer haben mit Patriotismus in diesem Tagen nicht das geringste Problem, nur Konstantin Meladse aus der Jury wagte die Euphorie zu dämpfen: Ihm kamen Jamalas weißes langes Kleid und ihre Performance zu bieder daher. Aber bis Stockholm sind noch 10 Wochen Zeit und vielleicht schafft Jamala, was schon Ruslana 2004 gelang: mit einem Sieg den Contest nach Kiew zu holen.