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Evolution durch die Kinderstube

Der Mensch hat den Ruf, ein soziales Wesen zu sein: Er spendet Blut, Geld und hilft alten Menschen beim Gepäck tragen. Sein Hang zu selbstloser Fürsorge ist einzigartig im Tierreich. Warum der Mensch aber fähig ist, nur um des Helfens willen zu kooperieren, ist bisher nicht beantwortet.

Von Martin Hubert | 04.10.2009
    Der Kleine schreit. Seine Ärmchen fuchteln wild umher.

    Die Mutter kommt und fragt sich: Hat er Hunger?

    "Frauen und Kinder wurden in der Geschichte der Evolution außen vorgelassen."

    Die Tante kommt dazu. Vielleicht, meint sie, will er einfach nur spielen?

    "Darwins Theorien wurden beeinflusst vom Zeitgeist der männerdominierten Viktorianischen Epoche, in der er lebte. Er hatte daher Probleme, die evolutionäre Rolle von Frauen und Kindern überhaupt wahrzunehmen."

    Jetzt ist auch die Oma gekommen. Wahrscheinlich hat er Bauchweh, stellt sie fest.

    "Ich habe in den letzten drei Jahrzehnten versucht, die Darwinsche Theorie zu ergänzen. Ich möchte die Bedürfnisse, die evolutionäre Rolle und die Perspektive wirklich beider Geschlechter berücksichtigen."

    Die Mutter nimmt den Kleinen auf den Arm, die Oma gibt ihm einen Schnuller, die Tante spricht freundlich auf ihn ein. Allmählich beruhigt er sich.

    Seit einigen Jahren versuchen Wissenschaftler, die Geburt des Sozialen neu zu erklären. Dabei rücken sie die Kinderaufzucht ins Zentrum ihrer Überlegungen. Den größeren Fortpflanzungserfolg hatten unsere Vorfahren demnach, wenn sich die ganze Gemeinschaft um den Nachwuchs kümmerte. Der Mensch wurde "ultra- oder hypersozial".

    "Ultrasozial - das soll heißen, dass der Mensch viel stärker als andere Arten motiviert ist, zu helfen und zu teilen."

    Michael Tomasello, Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie:

    "Die allgemeine Erklärung für soziales Verhalten von Tieren lautet ja, dass sie nur deshalb in Gruppen zusammen bleiben, um sich nach außen vor Fressfeinden zu schützen. Der ultrasoziale Mensch jedoch hat damit begonnen, sich wirklich altruistisch zu verhalten. Er hilft anderen und teilt mit ihnen, weil er sich mit ihnen innerlich verbunden fühlt."

    Michael Tomasellos Forscherteam hat systematisch die Fähigkeiten zweieinhalbjähriger Kinder mit denen der nächsten Verwandten des Menschen, den Menschenaffen, verglichen. Das Ergebnis: Wenn es darum ging, die natürliche Welt zu verstehen, also zum Beispiel Quantitäten einzuschätzen oder die Ursache von Lärm zu entdecken, schnitten Kleinkinder und Menschenaffen ungefähr gleich gut ab. Wenn es sich aber um soziale Fähigkeiten handelte, waren schon die zweieinhalb-jährigen Kinder besser als Schimpansen oder Orang-Utans. Zwar besitzen auch Menschenaffen in gewissem Maß eine sogenannte "Theory of mind", sie können sich also in andere hineinversetzen und erkennen, was diese gerade wahrnehmen oder worauf sie sich konzentrieren. Aber sie nutzen das eigentlich nur, um mit Artgenossen um Futter oder Sexualpartner zu konkurrieren oder um Konflikte zu vermeiden.

    "Menschliches Verhalten hat natürlich die gleichen Wurzeln. Darüber hinaus aber wird es durch eine neue, kooperative Art und Weise beeinflusst, den Geist anderer zu lesen. Die Menschen haben irgendwann angefangen, ihre Köpfe im wahrsten Sinne des Wortes "zusammenzustecken". Sie entwickelten gemeinsame Absichten und Interessen, eine sogenannte geteilte Intentionalität."

    Kleine Kinder sitzen in einem Experimentierzimmer des Leipziger Instituts und spielen. Dann beginnen die Forscher damit, bestimmte Gegenstände vor den Augen der Kinder zu verstecken. Es ist nichts, was Kinder besonderes interessieren müsste, kein Spiel- oder Naschzeug, sondern zum Beispiel die Brille eines Erwachsenen oder sein Kugelschreiber. Trotzdem schauen die Kinder neugierig zu und deuten auf die Stelle des Verstecks. Sie haben offenbar das Bedürfnis, ihr Wissen mit anderen Menschen zu teilen.

    "Menschenaffen dagegen nutzen Zeigegesten nicht, um Menschen unaufgefordert über etwas zu informieren oder mit ihnen einfach nur die Aufmerksamkeit zu teilen. Auch untereinander tun sie das normalerweise nicht. Im Unterschied dazu definieren Menschenkinder zum Beispiel auch gemeinsame Ziele und verteilen Aufgaben, um sie zu erreichen, etwa beim Spiel. Andere Primaten machen so etwas nicht."

    Menschen spielen Fußball, Menschenaffen nicht. Menschen verabreden sich zum Essen. Menschenaffen nicht. Menschen besitzen also einen inneren Drang, gemeinsam mit anderen zu denken und zu handeln. Ohne diese geteilte oder kollektive Intentionalität sind weder Wissenschaft und Technik noch soziale Institutionen denkbar, in denen gemeinsame Normen und Regeln gelten. Sie ist demnach die Grundlage menschlicher Kultur. Wie aber, fragen sich die Anthropologen, ist diese kulturelle Intelligenz des Menschen in der Evolution entstanden?

    Einige Zeit meinten die Anthropologen, man komme zur kollektiven Intelligenz des Menschen, indem man einfach die kognitiven Fähigkeiten der Menschenaffen multiplizierte. Auch Carel van Schaik von der Universität Zürich hat das versucht. Vergeblich.

    "Und dann habe ich eines Tages gedacht, ja, die Lücke ist zu groß, da ist zu viel anders, das können wir nicht so einfach machen, da ist da irgendwie in der menschlichen Evolution ein neuer Faktor dazugekommen, den es bei den anderen nicht gegeben hat."

    Dieser neue Faktor liegt weniger im kognitiven Bereich. Denn auch Affen können ja ansatzweise den Geist anderer Individuen lesen. Die Lücke klafft eher im psychologischen Bereich: in der Motivation, den Geist mit anderen wirklich zu teilen und sich gegenseitig zu helfen.

    "Schimpansen jagen, aber die jagen relativ wenig. Und wieso? Weil es immer ein Riesengerangel gibt, wenn es dann Fleisch gibt: wer es essen darf, wie es verteilt wird und das gibt dann ein Riesendurcheinander. Stellen sie sich mal vor, Schimpansen würden erfinden, wie man kocht! Das könnte sich nie wirklich entwickeln, denn dann kommt das dominierende Männchen und nimmt alles weg und aller Aufwand wäre umsonst."

    Welcher neue Faktor führte also in der Evolution zum menschlichen Sozialverhalten in seiner edelsten Gestalt? Diese Rätselfrage stellte sich vor einigen Jahren auch die inzwischen emeritierte Anthropologin Sarah Hrdy von der University of California-Davis. Sie setzte sich mit der bisherigen Standardtheorie menschlichen Sozialverhaltens auseinander, die da lautet: Die Menschen hielten in der eigenen Gruppe zusammen, um besser gegen andere Gruppen kämpfen zu können.

    "Ich glaube nicht, dass das völlig falsch ist. Denn die Sozialpsychologen wissen schon lange, dass man besser miteinander kooperiert, wenn man einen gemeinsamen Feind hat. Das ist eine altbekannte Methode, um solidarisches Verhalten nach innen zu stärken. Aber das erklärt meiner Meinung nach nicht den Übergang von Kreaturen wie den Schimpansen zu menschlichem Verhalten. Der frühe Mensch entwickelte sich innerhalb des Pleistozän, also vor 1,8 Millionen bis 10 000 Jahren. Und meines Wissens gibt es keine Evidenz dafür, dass die Menschen in dieser Zeit ständig in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt waren. Das wäre für sie auch viel zu risikoreich gewesen. Sie lebten in dieser Periode ja weit verstreut in sehr kleinen Jäger- und Sammler-Gruppen zusammen. Wenn sie im Kampf mehrere erwachsene Mitglieder verloren, konnte das die Existenz der ganzen Gruppe gefährden. Ich bin deshalb nicht davon überzeugt, dass der Kampf gegen Feinde erklärt, wie ursprünglich der soziale Impuls entstand, sich gegenseitig helfen zu wollen."

    Woher kommt dann der Impuls, weniger aggressiv und dominant zu sein und sich dem anderen zuzuwenden? Sarah Hrdy hat als Anthropologin vor allem über die Rolle der Frauen und Mütter in der Evolution geforscht. Für sie war der Weg nicht weit zu folgender Idee: Wirklich soziales Verhalten muss auch in einem sozialen Bereich entstanden sein. Und wohl der wichtigste dieser Bereiche ist die Aufzucht von Kindern. Wobei es bei Menschenkindern nicht genügt, wenn nur die Mutter für den Nachwuchs sorgt.

    "Menschliche Mütter konnten es alleine gar nicht schaffen, die 13 Millionen Kalorien herbeizuschaffen, die ein Kind nach der Geburt braucht, bis es zu einem selbstständigen Lebewesen herangewachsen ist. Gleichzeitig musste die Mutter ja auch noch für sich selbst sorgen. Wenn die Kinder also überleben sollten, mussten auch andere Mitglieder der Gruppe den Eltern dabei helfen, die Kinder zu pflegen und zu versorgen. Wenn es zu wenig Nahrung gab, halfen zum Beispiel Verwandte der Mutter mit Essen aus. Wenn der Vater einen schlechten Tag beim Jagen hatte, gab es Unterstützung durch einen Onkel, sodass auch dann die Kinder mehrmals am Tag essen konnten. Ich meine also, dass schon die Hominiden im frühen Pleistozän, die man als Homo erectus bezeichnet, gemeinsame Jungenaufzucht betrieben."

    "Cooperative breeding" - das kooperative Brüten oder die gemeinsame Jungenaufzucht - sind für Sarah Hrdy der Schlüssel zur Geburt sozialen Verhaltens beim Menschen. Bei den Menschenaffen lassen die Mütter ihr Kind in den ersten sechs Monaten nur ausnahmsweise von anderen Gruppenmitgliedern versorgen. Beim Menschen dagegen ist die gemeinsame Jungenaufzucht gang und gäbe ist. Neben Vater und Mutter sorgen sich vor allem Opa und Oma um die Kleinen, aber auch Geschwister, Onkel und Tanten kümmern sich um deren Wohl. Die Überlebensvorteile sind enorm: Menschenkinder sterben viel seltener als der Nachwuchs von Menschenaffen. Außerdem können Mütter schneller hintereinander Kinder bekommen: Bringen Menschenaffenmütter durchschnittlich alle sechs bis acht Jahre ein Junges zur Welt, liegt der Durchschnitt beim Menschen bei drei bis vier Jahren. Und die gemeinsame Jungenaufzucht birgt noch mehr Vorteile:

    "Sozialarbeiter und Sozialpsychologen wissen das schon seit langem und Studien bestätigen es: Wenn es eine Großmutter in einem Haushalt gibt, die mithilft, dann entwickeln die Kinder ihre geistigen Fähigkeiten rascher. Wenn es die Mutter der Mutter ist, kümmern sich die Mütter intensiver um die Bedürfnisse ihrer Kinder. Die wachsen dann sicherer gebunden auf. Wenn ältere Geschwister bei der Pflege helfen, entwickeln die Kinder eine bessere Theory of mind. Und man hat auch herausgefunden, dass Kinder, die von mehreren Personen versorgt werden, besser in der Lage sind, die Perspektiven anderer Menschen zu berücksichtigen."

    Die gemeinsame Jungenaufzucht fördert aber nicht nur die sozialen Fähigkeiten der Kinder, sondern auch die der Pflegepersonen. Diese müssen erkennen, wann das Kind Hilfe braucht und wann es Zeit ist, eine andere Pflegeperson zu unterstützen oder abzulösen; wann sie müde ist oder überfordert.

    Dass die Kinderstube eine Schule für soziales Verhalten ist, belegen auch Studien bei archaischen Jäger- und Sammler-Völkern. Die meisten von ihnen leben in egalitären Gruppen zusammen und teilen gemeinschaftlich. Ihre Kinder beginnen oft schon früh selbst damit, anderen etwas zu geben, ohne eine Gegengabe zu erwarten.

    Da Menschenaffen keine gemeinsame Jungenaufzucht betreiben, kann unser ultrasoziales Verhalten nicht aus der Entwicklungslinie stammen, die wir mit den Menschenaffen teilen. Woher aber kommt es dann in der Evolution? Und wieso hatte es gerade beim Menschen so weitreichende Folgen?

    "Es gibt zahlreiche Tiere, die kooperatives Brüten betreiben, sich also gemeinsam um den Nachwuchs kümmern. Zum Beispiel wilde Hunde, manche Vögel, Elefanten oder Meerkatzen. Am interessantesten für die Evolution sozialen Verhaltens aber sind die Krallenaffen, weil sie dem Menschen am nächsten stehen."

    Krallenaffen sind Primaten, aber keine Menschenaffen. Die quicklebendigen Allesfresser leben vor allem in Südamerika. Ihr Fell ist weich, oft seidig, ihr buschiger Schwanz mit zwölf bis 44 Zentimetern länger als ihr kleiner, schlanker Körper. Zu ihnen gehören die Marmosetten und die Tamarine. Beide besitzen Eigenschaften, die stark an den Menschen erinnern.

    "Es gibt nur sehr wenige Tiere, bei denen Eltern dem Nachwuchs gezielt etwas beibringen. Aber Marmosetten und Tamarine machen das offenbar. Man hat wilde Marmosetten und Tamarine beobachtet, die schmackhaftes Futter gefunden haben. Helfer in der Gruppe - also nicht nur Vater oder Mutter - bringen es oft den Jungen und kennzeichnen es mit bestimmten Futterschreien: ‚Schau, Futter!’ Wenn sie Futter abliefern, das für die Jungen völlig neu ist, klingt der Futterschrei anders. Und wenn ein Jungtier giftiges oder unverdauliches Futter in der Hand hält, schreiten sie lautstark ein, bevor das Junge fressen kann. Das ist schon sehr nahe an dem, was wir ‚lehren’ nennen."

    Die Tiere nutzen kommunikative Signale offenbar nicht nur, um etwas zu fordern oder andere zu warnen, sondern auch, um Wissen zu übermitteln. Das ist eines der Indizien dafür, dass sich Krallenaffen und Menschen in sozialer Hinsicht ähneln. Am Anthropologischen Institut der Universität Zürich erforscht Carel van Schaik das genauer. Eine seiner Mitarbeiterinnen ist Judith Burkart. Sie beschäftigt sich mit einer bestimmten Marmosettenart, den Weißbüschelaffen.

    "Ganz ursprünglich stand die Frage im Raum, ob diese Krallenaffen, über was für ein Wissen die bereits verfügen, also ob sie bereits eine Theory of mind haben, ob die das denken, wissen und fühlen können. Studien zeigen: Schimpansen, die Futter sehen, das auch ein höherrangiger Artgenosse sehen kann, rühren es nicht an. Sie können sich in die räumliche Perspektive des anderen hineinversetzen und schließen, dass er sein Vorrecht durchsetzen würde, wenn sie sich dem Futter näherten."

    Judith Burkart hat ein vergleichbares Experiment mit Weißbüschelaffen durchgeführt. Auch sie rührten kein Futter an, wenn es im Blickfeld höherrangiger Artgenossen lag.

    Das war insofern verwunderlich als Weißbüschelaffen viel kleinere Gehirne besitzen als Menschen und Menschenaffen. Ihre geistigen Fähigkeiten sind begrenzt. Sie können daher keine Schlüsse ziehen nach dem Muster "weil der andere das Futter von seinem Standpunkt aus sehen kann und er dominant ist, könnte folgendes passieren".

    "Also das haben sie mit einem Mechanismus lösen können, der eben nicht Perspektivenübernahme ist."

    Die Weißbüschelaffen suchen stattdessen den Blickkontakt zum höherrangigen Tier und folgen seinem Blick.

    "Und das ist eben nur möglich, wenn dieser Unterlegene und der Dominante ein so tolerantes Verhältnis zueinander haben, dass man sich eben tatsächlich in die Augen schauen darf und dass man ganz relaxt da in der Situation sein kann."

    Es scheint so, als ob Weißbüschelaffen auf Futter verzichten, das ein anderer zuerst gesehen hat, weil der damit ein Besitzrecht an dem Futter erworben hat. Das Züricher Forscherteam um Carel van Schaik und Judith Burkart wollten das genauer wissen: Wie sozial sind diese kooperativen Brüter?

    Ein Affenkäfig mit zwei Abteilen, die voneinander durch eine Wand getrennt sind. In einem der Abteile sitzt ein Weißbüschelaffe. Er sieht, wie die Forscher ein Stück Futter auf ein kleines Tischchen legen. Mit einem Hebel kann der Affe dieses Tischchen bewegen. Aber dadurch würde er das Futter nicht zu sich heranholen, sondern ins Nachbarabteil bugsieren. Manchmal setzen die Forscher in dieses andere Abteil einen zweiten Weißbüschelaffen, der das Geschenk dankbar nehmen wird, manchmal bleibt es leer.
    Der erste Affe stemmt sich nun gegen den Hebel und verhilft seinem Artgenossen zur Mahlzeit.

    "Wichtig ist dabei, dass er nie eine Belohnung bekommen hat, also es war nur der Aufwand für den anderen, damit der das Futter bekommen kann. Und da haben wir eine ganze Reihe von Kontrollversuchen gemacht, um zu zeigen, dass es tatsächlich die Anwesenheit von anderen ist. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die einfach bereitwillig diesen Aufwand auf sich nehmen."

    Kein Affe hat in diesem Experiment um das Futter gebettelt. Der Versuch wurde auch sehr oft wiederholt. Der gebende Weißbüschelaffe konnte daher nicht hoffen, dass er nach dem Reziprozitätsprinzip - "Geb ich Dir, gibst du mir" später irgendetwas zurück erhalten würde. Trotzdem bewegte er immerzu fleißig den Hebel, wenn ein Artgenosse im Nachbarabteil auftauchte.

    "Zuerst haben wir Familiengruppen getestet, wo viele verwandte Tiere drin sind, da funktioniert es ganz gut, und dann haben wir extra Paare zusammengesetzt von Tieren, die sich noch nie gesehen haben, die auch nicht genetisch miteinander verwandt waren. Und da funktioniert es genau so."

    Vergleichbare Experimente anderer Forscherteams mit Tamarinen brachten ähnliche Ergebnisse. Nur in wenigen Versuchen klappte es aus bisher unbekannten Gründen nicht. Carel von Schaik und Judith Burkardt wagen deshalb den Schluss: Krallenaffen besitzen im Prinzip eine spontane Hilfsbereitschaft ohne Hintergedanken.

    "Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass erwachsene Tiere einfach generell positiv auf kleine Kinder reagieren bei den Weißbüschelaffen. Sobald sie ein hungerschreiendes Kind hören, gehen sie zu dem hin und nehmen es auf. Es reicht sogar, wenn man einen ipod in den Käfig legt, der solche infantilen Vokalisierungen hat. Die Männchen kommen und schauen sich das an und möchten tragen und füttern, also das ist ganz stark bei denen da."

    Ist das schon Altruismus wie beim Menschen? Man hilft, ohne selbst etwas dafür zu wollen, einfach aus Freude am Geben? Carel van Schaiks Antwort ist ein vorsichtiges Ja:

    "Was die Tiere empfinden, können wir nicht feststellen, wir können nur feststellen, dass sie es machen. Wir wissen beim Menschen, dass es uns Spaß macht, wir empfinden das als belohnend, dass wir das machen, aber das können wir natürlich nicht beweisen bei anderen Tieren. Es ist aber sehr wahrscheinlich, denn wie kann die Natur etwas hervorrufen, das wichtig ist für das Tier und für das Überleben für diese Tiere? Indem es psychologisch belohnend ist!"

    Wer aus diesen Indizien eine neue Theorie der Entstehung des sozialen Wesens des Menschen stricken will, der braucht Mut zur Spekulation.

    "Ich stelle mir folgendes Szenario vor: Nehmen Sie einen Affen, der der gemeinsame Vorfahr des Menschen und der anderen afrikanischen Affen ist. Dieses Tier hätte sehr gut entwickelte kognitive und manipulative Fähigkeiten, aber nur eine schwach entwickelte Empathie und Theory of mind. Sie wären in Ansätzen da, aber nicht vergleichbar mit der des Menschen."

    Sarah Hrdy besitzt schon seit längerem den Ruf, eine mutige Vordenkerin der anthropologischen Zunft zu sein, die neue theoretische Entwürfe nicht scheut.

    "Bringen sie also diesen hypothetischen Affen in eine Umgebung, in der das Ausmaß der Fürsorge, die ein junges Tier erhält, davon abhängt, wie viel Hilfe seine Mutter bekommt. Das Junge wird also von vielen Helfern versorgt. Es lernt, die Absichten anderer zu lesen und zu entscheiden: Wer wird mir heute helfen, wer nicht? Wenn man diesen hypothetischen Affen in dieser neuen Weise aufzieht, dann wird das am Ende zu einem Wesen führen, das sich stark vom Schimpansen unterscheidet."

    Carel van Schaik und Judith Burkart arbeiten seit einiger Zeit mit Sarah Hrdy zusammen, um dieses evolutionäre Szenario der Geburt des Sozialen auszubauen und zu stützen. Auch sie glauben: Irgendwann vor etwa fünf Millionen Jahren mischten sich die kognitiven Fähigkeiten einer frühen Affenlinie mit den sozialen Fähigkeiten von kooperativen Brüdern wie den Krallenaffen. Zuerst fand die gemeinsame Jungenaufzucht nur unter verwandten Tieren statt. Das hing mit dem Interesse zusammen, gemeinsame Gene fortzupflanzen. Aus irgendeinem Grunde begann eine Population dann aber, auch nichtverwandte Pfleger einzubeziehen.

    "Wahrscheinlich weil die in einem sehr schwierigen Habitat überleben mussten und es einfach anders nicht ging, dass die Jungtiere durchgezogen wurden. Und das musste nur in einer Population mal erfunden worden sein, das kann in sehr vielen Populationen nicht erfunden sein - die gibt es nicht mehr."

    Evolutionär setzte sich nur die Linie durch, die zum Menschen führte. Denn Populationen, die gemeinsam planen und handeln können, besitzen Überlebensvorteile.

    "Führen wir nun einen neuen Selektionsdruck in die Evolution ein. Zum ersten Mal in der Affenevolution würden dann diejenigen die Fittesten sein und überleben, die am besten den Geist anderer verstehen, mehrere Perspektiven miteinander verbinden können und auf soziale Weise voneinander lernen. Dann folgen noch viele weitere kleine Schritte. Aber eine der Folgen der gemeinsamen Jungenaufzucht für den Menschen ist, dass eben eine neue Spezies mit außerordentlichen Fähigkeiten entsteht, die es ihr erlaubt, völlig neue Lebensräume zu erschließen."

    Der Kleine, der gerade noch so geschrien hat, ist nun endgültig ruhig geworden. Seine Augen blicken groß und neugierig in die Welt. Er lächelt. Die Mutter wiegt ihn hin und her. Die Tante meint: "Du kannst aber ganz schön brüllen". Die Oma gibt ihm sein Stofftier und sagt: "Hier, dein Äffchen". Der Vater kommt dazu und hält ihm etwas Neues vor die Nase. "Schau mal, ein Flugzeug".

    "Wenn diese Eigenschaften, die vom kooperativen Brüten herrühren, aber einmal da sind und sich immer schneller entwickeln, dann ist das Fundament für viele andere Dinge gelegt: für die Expansion der Kultur, für eine differenzierte Sprache, für die Weitergabe und Lehre von immer größer werdendem Wissen oder für die Fähigkeit, sich in den Geist anderer zu versetzen."

    Der Mensch wäre demnach das einzige Wesen, in dem die sozialen Fähigkeiten kooperativer Brüter mit den kognitiven Fähigkeiten menschenaffenähnlicher Vorfahren vereint wurden. Daraus entstanden neue Qualitäten: kollektive Intentionalität, kulturelle Intelligenz und altruistische Tendenzen. Das heißt natürlich keineswegs, dass der Mensch immer sozial handelt – unübersehbar stecken in ihm auch aggressive und egoistische Erbteile der Evolution. Und umgekehrt sind auch Schimpansen nicht nur unsozial. Schimpansen helfen manchmal sogar selbstlos anderen dabei, Türen zu öffnen oder einen Gegenstand zu ergreifen. Beim Menschen jedoch haben sich diese sozialen Fähigkeiten so breit, intensiv und systematisch entwickelt, dass man wirklich von einer neuen Qualität sprechen muss.

    Für Sarah Hrdy jedenfalls war die gemeinsame Jungenaufzucht dafür so entscheidend, dass sie auch einem weiteren Dogma widerspricht: der Annahme, dass ein vergrößertes Gehirn die Voraussetzung für sämtliche höheren geistigen Leistungen war.

    "Natürlich war ein größeres Gehirn notwendig, um zum Beispiel eine komplexe Sprache zu entwickeln. Vieles spricht dafür, dass es eine Parallelentwicklung zwischen Hirnvergrößerung und komplexer Kultur gab. Ich meine aber, dass sich die emotionalen Eigenschaften, die man braucht, um die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen, die also zur hypersozialen Spezies des Menschen geführt haben, schon vor dem vergrößerten Gehirn gebildet haben müssen. Um es pointiert zu sagen: Wir waren zuerst nett und dann wurden wir schlau."

    Die kooperative-Brüter-Theorie des Sozialen ist in den letzten Jahren vor allem durch Sarah Hrdy und die Züricher Forscher vorangebracht worden. Trotzdem bleiben viele Anthropologen noch zurückhaltend. Interessant ist natürlich vor allem, was Michael Tomasello dazu sagt, von dem die Theorie der geteilten menschlichen Intentionalität stammt.

    "Als die Menschen der Frühzeit gemeinsam jagten, mussten sie nicht unbedingt schon perfekt altruistisch handeln. Aber wenn man zusammen arbeiten will, um ein Tier zu töten und es taucht zum Beispiel das Problem auf, dass jemand seinen Speer nicht findet, ist es einfach zum eigenen Vorteil, wenn man ihm sagt: ‚Der ist da hinter dem Baum’. Ich glaube also, die Vorformen altruistischer Handlungen entwickelten sich beim Menschen auf einer niedrigeren Ebene, nämlich immer dann, wenn es um Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil ging. Dann stehen wir auch gar nicht mehr vor einem so großen Problem. Denn die Grundlage für altruistisches Handeln ist dann ja schon durch das Prinzip wechselseitiger Unterstützung gelegt worden. Es muss dann nur noch auf andere Umstände und Bereiche übertragen und ausgeweitet werden."

    Für Michael Tomasello entstammt der Zwang zur Kooperation also zunächst Bereichen, die unmittelbar für das Überleben wichtig sind, etwa der Jagd. Widerspricht das völlig dem Erklärungsmodell der gemeinsamen Jungenaufzucht?

    "Das passt schon auch zusammen, da es sich um eine größere evolutionäre Periode handelt, die in sich zusammenhängt. In den meisten Sammler- und Jäger-Gemeinschaften jagt der Mann und die Frauen gehen sammeln und ziehen die Kinder auf. Ich glaube daher, dass die Zusammenarbeit beim Jagen und beim Sammeln gleichermaßen wichtig ist. Auch viele Sammeltätigkeiten wie das Suchen nach Honig, Beeren oder Knollen, wo man im Boden buddeln muss, sollten am besten von mehreren Personen durchgeführt werden. Die Kinder stören dabei oft und es ist gut, wenn jemand anderes auf sie aufpasst. Sobald man beim Sammeln und Jagen zusammenarbeiten muss, entsteht also das Bedürfnis nach kollektiver Kinderversorgung. Diejenigen, deren Kinder von anderen betreut werden, können einfach effektiver jagen und sammeln."

    Das allerletzte Wort zur Geburt des Sozialen ist also noch nicht gesprochen. Die Theorie der gemeinsamen Jungenaufzucht muss noch in vielen neuen Experimenten geprüft und womöglich mit anderen Erklärungsansätzen verbunden werden. Allerdings hat sie jetzt schon die Diskussion über die Evolution sozialen Verhaltens neu befruchtet. Carel van Schaik jedenfalls blickt zuversichtlich in die Zukunft:

    "Ich glaube, man kann ruhig sagen, dass wir noch ein kleine Minderheit sind im Moment, dass die meisten Leute diese neue Idee nicht so gerne sehen, einfach weil es so anders ist. Aber ich bin zuversichtlich, dass diese cooperative-breeder-Hypothese letztendlich aufrechterhalten wird – es ist ein Art von freundlicher Konkurrenz."

    Literatur:
    Bergmüller, R. u.a.: Integrating cooperative breeding into theoretical concepts of cooperation, in: Behavioral Processes 76 (2007) 61-72

    Burkart, J. M.: Cooperative breeding and socio-cognitive abilities. In: Louise S. Röska-Hardy and Eva M. Neumann-Held (eds.). Learning from Animals? London: Psychology Press. 123-141. (2008).

    Herrmann, E., Call, J., Lloreda, M., Hare, B., & Tomasello, M. (2007). Humans have evolved specialized skills of social cognition:The cultural intelligence hypothesis. In: Science, 317, 1360-1366

    Sarah Blaffer Hrdy: Mothers and others. The evolutionary origins of mutual understanding, Belknap Press of Harvard University press, 2009