Freitag, 19. April 2024

Archiv


Exzess mit Folgen

Medizin. - Moderne bildgebende Verfahren ermöglichen bislang ungeahnte Einblicke ins Hirn. Damit kommen Wissenschaftler nun auch den Verheerungen, die massiver Alkoholkonsum dort auslöst, auf die Spur. Dabei zeigt sich, dass besonders das sogenannte Kampftrinken schwere Auswirkungen hat.

Von Suzanne Krause | 16.12.2010
    Jean-Luc Martinot ist auf Stippvisite in der strahlenmedizinischen Abteilung, im Untergeschoss des Krankenhauses von Orsay, im Süden von Paris. In einem abgedunkelten Raum sitzen zwei Techniker am Computer und steuern ein hochmodernes Tomographie-Gerät: ein zwei Meter grosser Würfel, weiss verkleidet, hinter dicken Glasscheiben, in seiner Mitte ein schmales Loch. Gerade gross genug für den Kopf der Patientin, die auf der Bahre vor dem Diagnosegerät liegt. Der Inserm-Forscher Martinot präsentiert stolz die leistungsfähige Positronen-Kamera.

    "Sie erfasst unterschiedliche Punkte im Hirn, die gerade mal zwei Millimeter voneinander entfernt liegen. Kein anderes Gerät auf dem Markt schafft eine derart hohe räumliche Auflösung."

    In einem Nebentrakt hält der Forschungsleiter vor einer Tür. Aufkleber warnen: Achtung, starkes Magnetfeld. Im Inneren des hermetisch abgeschotteten Raums steht ein Kernspin-Tomograph.

    "Für unsere Studien kombinieren wir die Anwendung der beiden Geräte. Der Kernspin-Tomograph liefert uns Bilder von der Anatomie des Hirns. Und denen überlagern wir die Aufnahmen der biochemischen Abläufe im Hirn, die der Positronen-Tomograph erstellt."

    Auf diese Weise können die Wissenschaftler in Orsay sichtbar machen, welche strukturellen Änderungen Alkoholsucht im Gehirn hervorruft. Martinot gewann 31 erwachsene Alkoholkranke für sein Projekt. Männer mittleren Alters und in guter sozialer Stellung. Doch bei kognitiven Tests lag ihre Leistung weit unter der von Nichttrinkern. Dichtemessungen im Hirn zeigten: im Vergleich zu Nichttrinkern verfügten die Alkoholabhängigen über zwanzig Prozent weniger Masse an grauer Hirnsubstanz, also Nervenzellen. Ähnliches gilt für die weisse Substanz.

    "In der weissen Substanz sind alle Nervenfasern gebündelt, die die unterschiedlichen Hirnpartien miteinander verbinden. Sie ermöglicht dem Gehirn, Verknüpfungen herzustellen. Wir fanden heraus, dass der Hirnsubstanzverlust in der Gedächtnisregion in Zusammenhang steht mit dem Leistungsabfall bei Gedächtnistests. Ähnliches zeigt sich in anderen Hirnbereichen. Dementsprechend schnitten unsere Versuchspersonen auch bei Aufmerksamkeitstests schlecht ab."

    Die Wissenschaftler fragten sich, ob der signifikante Mangel an Hirnsubstanz mit der Alkoholmenge zusammenhängt, die jemand im Laufe seines Lebens konsumiert hat. Oder eher mit der Alkoholsorte. Forscher aus Göttingen hatten das Hirngewebe bei Alkoholikern vermessen und erklären, Weintrinken lasse das Hirn stärker schrumpfen als Bier. Entscheidend ist der Zeitpunkt des ersten Vollrauschs, sagt Jean-Luc Martinot. Seine Versuchspersonen datierten ihn auf das Alter zwischen 13 und 16. Der Inserm-Forscher resümiert: je jünger der Trinker, desto massiver der Verlust an grauer Hirnmasse in bestimmten Hirnregionen.

    "Wir erklären uns das folgendermassen: der Alkoholkonsum beeinflusst den Reifeprozess des Hirns in der Jugendzeit. Dass diese Entwicklungsphase einher geht mit zahlreichen körperlichen Veränderungen, ist hinlänglich bekannt. Seit zehn Jahren weiss man, dass sich im Hirn von Jugendlichen die Masse an grauer und weisser Substanz sehr verändert. Und seit kurzem weiss man, dass Giftstoffe bei Heranwachsenden höchstwahrscheinlich die Hirnentwicklung beeinträchtigen."

    Im vergangenen Sommer berichteten amerikanische Forscher: Alkoholkonsum bei jungen Affen lässt Stammzellen im Hirn absterben. Dass dies auch beim Menschen passiert, ist noch nicht belegt, aber auch nicht auszuschliessen.

    "Was für junge Leute am schädlichsten ist, ist weniger der chronische Alkoholkonsum, sondern vor allem der massive Missbrauch beim Kampftrinken."

    Neue Impulse für die Alkoholismus-Forschung erhofft sich Martinot von einem kürzlich gestarteten europäischen Projekt. Da arbeiten unter anderem Neurobiologen, Neuropsychologen und Genetiker am interdisziplinären Brückenschlag. Um die Krankheit Alkoholsucht besser zu verstehen.