Sonntag, 12. Mai 2024

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Faszination der Anomalie

Seelische Außenseiter und psychische Grenzgänger sind immer in Mode: Filme wie "Rain Man" und "Zeit des Erwachens" zeugen davon ebenso wie die dazugehörigen Krankengeschichten von Oliver Sacks. In jüngster Zeit sind es auffallend oft Romane über Autisten, die von sich reden machen Mark Hadons "Supergute Tage" oder Axel Brauns "Buntschatten und Fledermäuse".

Von Shirin Sojitrawalla | 21.01.2005
    Bloß, was macht das Interesse an diesen Sonderlingen eigentlich aus? Der englische Neuropsychologe Paul Broks weiß um die "Faszination der Anomalie und des Bizarren". Er selbst spricht von einer "morbiden Faszination". Neurologische Krankenstudien haben für ihn etwas vom Reiz der Schauergeschichten. Und er erläutert das folgendermaßen: "Ersetzen Sie die finsteren Wälder, die schroffen Felsen, die Kirchenruinen und die urgewaltigen Unwetter des traditionellen Schauerromans durch eine trostlose urbane Landschaft. Nehmen Sie an der Stelle der zerfallenen mittelalterlichen Burg mit ihrem Gewirr von Gängen, düsteren Verliesen und Folterkammern ein baufälliges modernes Krankenhaus. Der weiß bekittelte, wahnsinnige Wissenschaftler in seinem von Spinnweben durchzogenen Laboratorium zwischen Van-de-Graaf-Generatoren, Blitzableitern und all den Utensilien des Alchemisten wird zum Chirurgen im grünen Kittel, der im sterilen Glanz des Operationssaals mit dem Messer in der Hand im Begriff steht, das schleimige Gefüge des Gehirns zu überarbeiten. Und im Zentrum all dessen liegt das Monstrum, das auf die Lebenskraft aus dem Himmel wartet, die seine toten Glieder wachrütteln soll, und der Patient mit bloßgelegtem Gehirn, der auf das Messer wartet."

    Kein Wunder also, dass sich Paul Broks zuweilen vorkommt wie ein Nachfahre von Dr. Frankenstein. Doch gerade diese Distanz zum eigenen Beruf, die immer wieder in Frage stellt, ist es, die sein Buch so lesenswert macht. "Ich denke, also bin ich tot" heißt der Band, in dem Broks den Leser mitnimmt auf eine Reise in das unbekannte Land des eigenen Ichs. Als Neuropsychologe kommt er nicht aus ohne eine ganze Menge an medizinischem Fachvokabular, das den Laien manchmal überfordert, doch mit seinen vielen Fallbeispielen und privaten Reflexionen gelingt es dem Autor immer wieder, seine Leser bei der Stange zu halten.

    Dabei ist das Buch wie ein Zettelkasten aufgebaut: Erinnerungen, Visionen, Berichte, Tagebuchartiges, Gedankenspielereien und medizinische Erörterungen wechseln sich ziemlich ungeordnet ab. Meistens scheint es so, als würde der Autor nur laut denken. Das ist nicht weiter schlimm und wird zudem dadurch abgemildert, dass Paul Broks alles andere als ein Fachidiot ist. Immer wieder verweist er in allen möglichen Zusammenhängen auf die schönen Künste, spielt auf Kafka an, beruft sich auf Updike oder streut Gedichte in den Text, der sich dem Ich nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern auch philosophisch nähert. Dabei staunt der Autor ebenso wie der Leser über die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft oder vielmehr über deren verblüffende Unkenntnis. Denn das Ich bleibt aus wissenschaftlicher Sicht eine Fiktion. Während Ottonormalgehirne gerne denken, irgendwo im Kopf müsse sich doch so etwas wie ein Ich, eine Seele oder zumindest ein Bewusstsein dingfest machen lassen, vergewissert Broks immer aufs Neue, dass es dort nichts gebe, außer Fleisch, Blut, Knochen und Gehirnmasse. Das Bewusstsein habe keinen Ort. Warme Gedanken wie den von den 21 Gramm, die der Mensch angeblich beim Sterben verliere und die folglich das Gewicht der Seele ausmachen könnten, verbieten sich nach der Lektüre dieses Buches leider von selbst.

    Das Ich bleibt laut Broks eine Illusion, ein Phantasma und doch fragt sich der Autor verzweifelt, wo die Identität des Menschen sitze, und was sie letztendlich ausmache. Den Geist definiert er immerhin als das Produkt des Gehirns in seinen Interaktionen mit der physischen und sozialen Welt. Doch ihm geht es weniger darum, das Rätsel Mensch zu lösen, als vielmehr verständlich zu machen, dass der Mensch - medizinischer Fortschritt hin oder her - eben immer noch ein Rätsel ist. Und das macht er auf ebenso unverkrampfte wie unterhaltsame Weise. Vieles von dem, was er über die "gequälten Seelen" berichtet, klingt für den Laien naturgemäß wie Sciencefiction, und ähnlich wie bei seinen Studenten dürften wohl auch beim Leser die "Neuroschauergeschichten" besonders gut ankommen. Dabei gelingt es ihm, ein Kuriositätenkabinett vorzustellen, ohne sich den Blick des Voyeurs zu eigen zu machen. Doch Menschen, denen ihr Ich so unabsichtlich abhanden kommt wie anderen ein Mantelknopf, haben ohne Zweifel ihren ganz eigenen Reiz, der durch den Umstand, nicht genau zu wissen, was das Ich eigentlich ausmacht, noch gesteigert wird. Broks Schlussfolgerungen sind dabei ebenso erschreckend wie tröstlich. Mitreißend schildert er eine irre Welt voller Täuschung und verquickt auf spannende Weise neueste Forschungsergebnisse mit dem ganz normalen Wahnsinn.