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Fatale Irrtümer

Olaf Storbeck beleuchtet, welche Symbiosen Politiker und Finanzmarktakteuren mit den einflussreichsten wirtschaftswissenschaftlichen Theorien eingegangen sind. Herausgekommen ist dabei ein furioser Ritt durch Theorie und Praxis der Krise und ihrer Bewältigung.

Von Klemens Kindermann |
    Der 17. Mai 2007. Die Probleme auf dem Markt für Subprime-Immobilienkredite seien für den Rest der US-Wirtschaft ungefährlich, versichert einer, der es wissen muss. Ben Bernanke, seit gut einem Jahr Chef der amerikanischen Notenbank. Und fünf Monate später betont Bernanke: "Das Bankensystem ist gesund." Da ist der Kurs der Investmentbank Bear Stearns bereits kollabiert. Goldman Sachs hat drei Milliarden Dollar in einen Hedge Fonds gepumpt. In Großbritannien stürmen Kunden die Filialen der Hypothekenbank Northern Rock. Doch Bernanke sagt: Der schlimmste Sturm sei vorüber. Wie kann der wichtigste Notenbankchef der Welt so falsch liegen? Die Geschichte der Finanzkrise, die die globale Wirtschaft noch immer im Zaum hält, ist reich an solchen Fehleinschätzungen. Zu gigantisch waren die Verluste, zu unerwartet die Nachrichten über den Zusammenbruch von Traditionshäusern und Weltfirmen, als dass schon viele Schneisen durch dieses Dickicht von Unglücksverkettungen und fatalen Irrtümern geschlagen worden wären. Einer, der das jetzt tut, mit hellem Blick und bestem Sachverstand, ist der Publizist Olaf Storbeck. In seinem Wirtschaftsbuch-Bestseller "Ökonomie 2.0 – 99 überraschende Erkenntnisse" hatte er sich bereits als geistreicher Baedeker durch die Untiefen der Wirtschaftswissenschaften betätigt. Nun also seine Frage nach dem Wann und Warum der - seit der Großen Depression - gravierendsten Wirtschaftskrise der Neuzeit:

    In der öffentlichen Diskussion wird die Gier als Kernursache des Desasters gehandelt. Manager und Banker hätten den Hals nicht voll bekommen und seien viel zu große Risiken eingegangen. Dieser Erklärungsansatz ist ungefähr so richtig wie der Versuch, einen durch Raser im Nebel verursachten Massenunfall auf der Autobahn mit dem menschlichen Mobilitätsdrang zu erklären.
    Diesen Massenunfall hat Storbeck, um bei der Besprechung des Buches zur Abwechslung einmal hinten anzufangen, in seiner Chronologie der Ereignisse zum Schluss zusammengestellt. Die kleine Zeittafel könnte man sich herausreißen: sie ist ein eindrucksvolles Kompendium der fiebrigen Krisen-Ausschläge. Dass IKB Bank und SachsenLB direkt zu Beginn der Krise nahezu im gleichen Zeittakt wie der US-Hypothekenfinanzierer Countrywide oder die französische Bank BNP Paribas mit den ersten Erscheinungen der Krise kämpften, führt diese Übersicht in schöner Abfolge vor. Richtig stark wird Storbecks Buch bei der Suche nach den Ursachen der Krise, der weltweiten Ersparnisschwemme, dem Versagen von Notenbanken und Finanzalchemisten, der kollektiven Blindheit, mit der viele Marktteilnehmer geschlagen waren.

    Nahezu alle, die sich berufsbedingt mit Immobilien beschäftigten, hatten die Preisentwicklung viel zu rosig eingeschätzt. Das war der Hauptgrund, warum sie von den zahlreichen faulen Krediten so überrascht wurden.
    Überzeugend sind Storbecks Thesen und Schilderungen vor allem deshalb, weil er sie, wo es möglich ist, mit den neuesten Studien amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler unterlegt. Er nimmt diese Papers so häufig zur Grundlage seiner Analyse, dass der Leser den Eindruck gewinnt, direkt auf der Höhe der aktuellen Forschung zur Finanzkrise in den USA zu sein. Das ist ein gutes Gefühl. Dass Storbeck im Gegenzug nicht verbirgt, wie kundig er der Wirtschaftstheorie und der großen Ökonomen der letzten Jahrzehnte ist, sei ihm zum Guten ausgelegt. Exkurse über den Makroökonomen Hyman P. Minsky, dem Marktfundamentalisten Milton Friedman oder dem jetzt so machtvoll in den Köpfen Vieler wiedergekehrten John Maynard Keynes sind nicht nur verzeihlich, sondern dienen in der Tat dem Verständnis der diffizilen Prozesse während der Finanzkrise. Ist doch ein guter Teil derselben Psychologie. Notenbanken und Politiken agierten – und tun es noch – mit diesen großen, wirtschaftswissenschaftlich fundierten Interventionsansätzen: Konjunkturpaketen, Zinssenkungen, expansiver Geldmengensteuerung. Dahinter aber stehen Überzeugungen, marktliberale, ordnungspolitische, keynesianische. Die Handlungsoptionen mit den zugrunde liegenden Denkansätzen werden in: "Die Jahrhundertkrise" ungewöhnlich plastisch. Ein wirklich gutes Wirtschaftsbuch aber belässt es nicht bei Ursachenforschung und Analyse. Olaf Storbeck tut das auch nicht und fragt nach den Lehren aus dieser Finanzkrise.

    Wenn es brennt, entstehen die schlimmsten Schäden oft nicht durch das Feuer selbst, sondern durch das Löschwasser der Feuerwehr. Eine wichtige Grundregel von Brandsanierern lautet daher: Löschwasser möglichst schnell abpumpen.
    Storbeck skizziert Pumpwerkzeuge und Löschwasservolumen, beschreibt die Gefahren, die kontrollierte Bankenschließungen, Staatshilfen für die Realwirtschaft oder quantitative Lockerungen der Geldpolitik bergen. Er zieht Schlüsse für die Aufsicht von Banken, Finanzmärkten und Ratingagenturen, unterlegt aber auch diese Vorschläge mit den neuesten Diskussionspapieren führender Ökonomen. Mag sein, dass die Schlussfolgerungen aus der Finanzkrise in fünf Jahren weitergekommen sein werden, dass dann Stresstests für die Banken oder Ratinglandkarten schon Standard sind: zu diesem Zeitpunkt, noch mitten in der Krise, gehört Storbecks Analyse zum Inspirierendsten, was derzeit zu bekommen ist. Wenn der eingangs zitierte US-Notenbankchef Ben Bernanke in diesen Tagen um seine zweite Amtszeit kämpft, wenn Senatoren ihn in die Zange nehmen und ihm Verantwortungslosigkeit vorwerfen, ihn als "Definition eines moralischen Risikos" bezeichnen, dann liefert Storbeck dazu Faktenfutter und Theorie-Überbau. Der ökonomisch interessierte Leser kann sich selbst ein Urteil bilden über Optionen und Fehler in der Krise. Nicht das schlechteste Urteil über ein Buch.

    Klemens Kindermann war das über: Olaf Storbeck: Die Jahrhundertkrise. Über Finanzalchemisten, das Versagen der Notenbanken und John Maynard Keynes. Erschienen im Verlag Schäfffer-Poeschel. 194 Seiten für 14 Euro 95 (ISBN 978-3791029191).