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"Faust Fragment 1911"

Georg Heym wurde nur 25 Jahre alt. Pünktlich zu seinem 100. Todestag hat Manfred Karge das Faust Fragment des Dichters am Berliner Ensemble inszeniert. Eine kleine Kostbarkeit ist entstanden.

Von Michael Laages | 17.01.2012
    Als wenn da Heiner Müller spräche ...

    Tatsächlich aber spricht hier ein Student, der eingeschlafen war am Biertisch; und erst als ihm ein knallrotes Teufelchen Kreide hinlegte, schrieb er’s an jede Wand ...

    Er wäre ja gern ganz neu, der junge Mann, doch sein Land kann ihn nicht brauchen – und weil er nur so überfließt vor Lust und Gier nach Abenteuer, haut er sich ersatzweise mit anderen farbentragenden Kommilitonen auf dem Paukboden die Gesichter blutig. Als ein Arzt ihn dann verbindet, vergösse er so gerne noch viel mehr vom edlen Saft.

    Als Georg Heym, der all diese Texte in Gedichte und Tagebücher schreibt, ertrunken ist gestern vor hundert Jahren im eisig kalten Wasser der Havel bei Schildhorn, ist der erste große Krieg noch sechs Jahre entfernt – aber sein "Faust", dieses bunte, ein wenig überkandidelte Studentchen, wie ihn Manfred Karge aus den leicht überspannten Versen und Texten des werdenden Schriftstellers heraus destilliert hat, träumt die große Schlacht, das große Schlachten schon; und hat zum eigenen Glück den Nachweis der eigenen Kriegsverwendungstauglichkeit nicht mehr antreten müssen. Was bleibt, ist das große Sehnen, dass irgendetwas passiert – und sei es der Tod. So bleibt das Bild des jungen Heym tauglich für so manche Phantasie auch ein Jahrhundert danach.


    Mit Musik wie aus Zirkus oder Tingeltangel hat das muntere Teufelchen Heyms Faust (bevor er im Amtsgericht versauert und verstaubt) mit auf den Rummelplatz genommen; und das süße Mädel, das hier auf der schmierigen Bühne posiert, wird späterhin sein Gretchen – obwohl ihn auch noch ein paar andere umschwirren wie Motten das Licht. Auch daran ist der Teufel schuld – der ist bei Heym weniger Seelendieb als Reiseführer, im Schlepptau des Gehörnten ganz in Rot schwebt Faust über die Großstadt, steht auf Dächern und schaut hinab in Häuserschluchten, trifft Bäcker, Scharfrichter und die eigene Mutter ... eine Alptraum-Trip, an dessen Ende der Negerzwerg vom Rummelplatz die Marseillaise singen darf. Oder doch besser nicht – vorher zieht der Teufel lieber doch die Brecht-Gardine zu.

    Über diesem Vorhang steht "Neopathetisches Cabaret". Und unter der niedrigen Decke des Etablissements (dem engen kleinen "Pavillon" am "Berliner Ensemble") hängt ein runder Mond, der grinst und eine Trommel ist ... "Glotzt nicht so romantisch!", der originale Cabaret-Spruch des jungen Brecht, könnte obendrein nicht nur draußen am Haus, sondern auch hier drin auf der Bühne prangen. Manfred Karge, der alte Fahrensmann des DDR-Theaters, bewährt in jeder Form der Brecht-Tradition und sonst nicht eben berühmt für übermäßig viel Humor auf der Bühne, hat das erstaunliche Kunststück fertig gebracht, Weltschmerz und Alltagsekel des jungen Dichters Heym mit Hilfe der Faust-Phantasien ding- und handfest werden zu lassen im ganz, ganz alten Cabaret.

    Das Ensemble um Andy Klingers Studenten und den Teufel von Patrick Bartsch kreiert für Karges Bilder ein Kabinett der Kuriositäten; Karikatur und Farce, Holzhammer und Scherenschnitt sind nicht weit, und das Theater spielt in aller Naivität mit den simpelsten Tricks. Der Musiker Joe Bauer lässt dazu absichtsvoll Erinnerungen aufkommen an den legendären Sound, der vor über zwanzig Jahren in Hamburg die "Black Rider"-Version von Tom Waits und Robert Wilson prägte.

    Mit versammelten Energien reicht das kryptische Text- und Szenen-Gemengsel auch für 80 Minuten. Die aber sind fabelhaft und voll Vergnügen anzuschauen – nicht, weil nun etwa die Rezeptionsgeschichte vom deutschen Mythos namens Faust ganz neu geschrieben werden müsste, sondern weil das Jahrmarkts- und das Gaukelspiel recht herzlich grüßen lässt über Jahrhunderte hinweg. Jenseits von Goethes Grübel-Reimen war Faust ja auch das – und auch heute noch ist das die charmantere Variante.