Sonntag, 28. April 2024

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FDP fordert EU-Referendum

Heinlein: Die Zeit drängt. Nur noch wenige Wochen bis zum Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs und noch immer liegt kein abschließender Entwurf für die künftige EU-Verfassung auf dem Tisch. Das lange umstrittene Prinzip der doppelten Mehrheit scheint zwar inzwischen akzeptiert; in anderen Fragen dagegen gibt es weiter Unstimmigkeiten. So bleibt der Gottesbezug in der Präambel ein heißes Eisen in der Debatte. Eine Glaubensfrage ist auch die Forderung nach einer Volksabstimmung über die neue Verfassung. Mehrere europäische Staaten, darunter Großbritannien, haben ein Referendum anberaumt. In Deutschland lehnt die Bundesregierung das Vorhaben grundsätzlich ab. Heute wird im Bundestag darüber beraten.

Moderation: Stefan Heinlein | 28.05.2004
    Sie haben es gehört: die FDP bringt heute den Antrag zur Volksbefragung im Bundestag ein. Der Parteivorsitzende Guido Westerwelle wird ihn begründen. Guten Morgen Herr Westerwelle!

    Westerwelle: Schönen guten Morgen!

    Heinlein: Herr Westerwelle, ist das ein liberales Wahlkampfmätzchen, oder wollen Sie tatsächlich das Grundgesetz ändern?

    Westerwelle: Wir wollen das Grundgesetz ändern und das wollen wir ja schon seit längerem. Das hat mit dem Wahlkampf nichts zu tun. Dass wir das natürlich auch im Wahlkampf unterstreichen, um möglichst viele Bürgerinnen und Bürger dafür zu gewinnen, auch Druck auszuüben, damit auch in Deutschland über die europäische Verfassung im Volk abgestimmt werden kann, das versteht sich von selbst. Wir sind der Überzeugung, dass Europa dann großartig auch angenommen wird, wenn es nicht nur ein Europa von Staatsgipfeln ist, sondern wenn über die europäische Verfassung auch die Bürgerinnen und Bürger abstimmen dürfen, in Deutschland sowie in zahlreichen anderen europäischen Ländern auch.

    Heinlein: Aber die Väter des Grundgesetzes - und Sie kennen den Text ja - haben bewusst verzichtet auf Volksabstimmungen. Warum soll jetzt ausgerechnet für diese europäische Frage eine Ausnahme gemacht werden?

    Westerwelle: Wir haben im Grundgesetz übrigens auch Volksabstimmungen vorgesehen. Zum Beispiel wenn zwei Länder zusammengeschlossen werden sollen, wie wir das aus Berlin und Brandenburg erlebt haben, also wenn es um Neugliederungen der Bundesländer geht, um eine Veränderung der Staatlichkeit geht, der staatlichen Strukturen, muss es Volksabstimmungen geben. Wenn wir schon über die Neugliederung von einzelnen Bundesländern eine Volksabstimmung brauchen, dann ist die Übertragung deutscher staatlicher Souveränität in eine europäische Staatlichkeit mit Sicherheit noch von viel größerer Bedeutung. Dann sollte da auch erst recht eine Volksabstimmung stattfinden. Ich bin dagegen, dass über jede Klein-Klein-Frage eine Volksabstimmung stattfindet, aber die europäische Verfassung ist eine historische Schlüsselentscheidung und die sollte so wie in zahlreichen unserer Nachbarländern auch ebenso bei uns vom Volk getragen werden.

    Heinlein: Aber immerhin, Herr Westerwelle, Ihr Ehrenvorsitzender Hans-Dietrich Genscher warnt vor einer grundlegenden Veränderung unseres demokratischen Systems durch dieses geforderte Referendum.

    Westerwelle: Der andere Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff vertritt eine andere Meinung und ich muss auch sagen, ich halte es für völlig richtig und respektabel, dass Persönlichkeiten in der FDP andere Meinungen vertreten. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben einstimmig eine solche Initiative im deutschen Bundestag gestartet. Wir haben das übrigens ja auch schon im letzten Jahr auf Bundesparteitagen der Freien Demokratischen Partei beschlossen, weil wir darin auch ein entscheidendes Instrument sehen, um den europäischen Integrationsprozess voranzubringen. Wie kann das denn sein, dass es Bundesländer in Deutschland gibt, wo bei der letzten Europawahl die Wahlbeteiligung nur noch bei 30 Prozent gewesen ist. Das zeigt doch, es gibt eine zunehmende Entfremdung der europäischen Politik von der Bevölkerung. Um diese Distanz zwischen europäischer Politik und Verantwortung und Aufgabe und dem Volk zu verringern, ist die Volksabstimmung genau der richtige Weg.

    Heinlein: Glauben Sie wirklich, Herr Westerwelle, dass die EU-Verfassung ein Thema ist, das die Menschen im Herzen bewegt? Das allgemeine Interesse - Sie haben es gerade selbst gesagt - ist eher gering. Was drin steht ist den meisten egal.

    Westerwelle: 80 Prozent - so sagen ja Umfragen - unserer Bevölkerung möchte, dass eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung stattfindet. Wenn dann auch eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung stattfindet, werden ja plötzlich die Politiker auch mal wieder gezwungen, auf den Marktplätzen, auf den Straßen, in Schulen, in Diskussionsveranstaltungen zu erläutern, worum es bei dieser wirklich außergewöhnlich wichtigen Entscheidung europäische Verfassung geht. Was mich enorm ärgert ist die Arroganz, die jetzt auch von denen vorgetragen wird, die früher immer für Volksabstimmungen gewesen sind. Die Grünen sind eigentlich ja für Volksabstimmungen bei jedem Straßenprojekt und bei jedem Krötentunnel. Wenn es aber um eine historische Richtungsentscheidung geht, dann soll plötzlich eine Volksabstimmung unterbleiben, weil man Sorge hat, das Volk könnte ja hinterfragen.

    Heinlein: Nun das stimmt ja nicht ganz, Herr Westerwelle. Die Grünen fordern auch ein europaweites Referendum. Ist das eine Idee, für die Sie sich auch erwärmen könnten, ein europaweites Referendum?

    Westerwelle: Ich habe Sie leider jetzt nicht verstanden. Sie hatten mich unterbrochen dabei. Deswegen will ich den Satz noch gerade zu Ende machen. - Das ist nun mal das Wesen von Demokratie, dass wenn jemand auch eine Entscheidung vom Volk einfordert er mit dem Volk ins Gespräch kommen muss. Wenn 95 Prozent der Abgeordneten des deutschen Bundestages am Schluss sich hinter die europäische Verfassung stellen, dann sollten sie sich auch in der Lage sehen, eine Mehrheit im Volk zu organisieren.

    Heinlein: Noch einmal die Frage: Die Grünen fordern ja auch ein Referendum, und zwar ein europaweites Referendum. Ist das eine Idee, für die Sie sich erwärmen könnten? Hätte das die Unterstützung der Liberalen?

    Westerwelle: Das ist nichts anderes als die Vertagung auf den St.-Nimmerleinstag. Die Grünen fordern ein europaweites Referendum, weil sie wissen, dass das nicht hinzukriegen ist. Im Übrigen geht es um die Aufgabe deutscher Kompetenzen und Übertragung an Europa. Das kann nicht in Malta oder in Frankreich entschieden werden; das muss in Deutschland entschieden werden.

    Heinlein: Müssten Sie jetzt konsequenterweise nicht auch sagen, es muss auch eine Volksabstimmung geben über Beitrittsverhandlungen mit der Türkei? Das ist ja ein Thema, das die Menschen sehr wohl bewegt.

    Westerwelle: Ich will so etwas nicht ausschließen, aber das steht nun im Augenblick überhaupt nicht an. Das ist ja nun eine Frage, die wenn überhaupt in mehreren Jahren, vielleicht sogar erst in anderthalb Jahrzehnten auf der politischen Tagesordnung steht. Aber hier geht es jetzt derzeit nicht um irgendwelche Projekte in 10 Jahren oder in 15 Jahren; hier geht es darum, dass wir dieses Jahr eine europäische Verfassung bekommen. Dieses Jahr steht eine historische Entscheidung an und so wie es nach der deutschen Einheit gut gewesen wäre, wenn über unser Grundgesetz unser Volk entschieden hätte - das ist leider damals aus meiner Sicht falsch gemacht worden -, so wäre es meines Erachtens ein zweiter großer Fehler, wenn über die europäische Verfassung, die ebenfalls von historischer Bedeutung ist, unser Volk abermals nicht befragt würde. Wenn die Briten gefragt werden, die Dänen gefragt werden, die Polen, wahrscheinlich auch die Franzosen gefragt werden, dann sind die deutschen demokratisch genauso reif wie alle anderen Länder in Europa auch.

    Heinlein: Nun sagen die Kritiker Ihres Vorschlages, Herr Westerwelle, dieses Referendum, diese Volksabstimmung könnte zu einer Art Blitzableiter, zu einer Ventil für die Sorgen und Ängste vieler Menschen vor den Folgen der Erweiterung oder vielleicht wegen des Euro werden. Was sagen Sie diesen Kritikern?

    Westerwelle: Angst vorm Volk ist in der Demokratie ein ganz schlechter Ratgeber und ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger genau um die historische Chance Europas wissen. Sie wissen, dass Europa uns Frieden und Freiheit gebracht hat. Sie wissen auch um die Schwierigkeiten. Wenn 95 Prozent der Abgeordneten des deutschen Bundestages die europäische Verfassung unterstützen wollen, dann sollten sich 95 Prozent dem deutschen Bundestag auch selbstbewusst zeigen, dass sie an sich glauben und eine Mehrheit in der Bevölkerung auch organisieren und hinter sich bringen können. Was ist das für ein Demokratieverständnis, dass 95 Prozent der Bevölkerung des deutschen Bundestages sich nicht zutrauen wollen, eine Mehrheit im Volk zu organisieren für eine richtige Entscheidung. Das ist in meinen Augen ein Beitrag dazu, dass Politikverdrossenheit steigt. Und ich muss auch sagen: wer Europa in die Herzen der Menschen bringen will, der muss die Menschen auch an Europa beteiligen.

    Heinlein: Aber diese 95 Prozent, nicht einmal diese Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung werden Sie heute nicht zusammen bekommen?

    Westerwelle: Ich sprach ja davon, dass die europäische Verfassung von 95 Prozent im deutschen Bundestag voraussichtlich unterstützt werden wird. Ob wir für unseren Vorschlag eine Zwei-Drittel-Mehrheit im deutschen Bundestag bekommen, Zustimmung aus den anderen Parteien bekommen, das werden wir abwarten müssen. Das wird auch die Debatte zeigen, nicht nur die heutige, sondern auch weitere Debatten. Aber eines ist klar: Wir werden nicht nachgeben und wir werden immer wieder diese Initiative in den deutschen Bundestag einbringen, bis der Mehrheitswille der Bevölkerung für eine Volksabstimmung auch die anderen Parteien erreicht hat.

    Heinlein: Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin.