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Fernando Pessoa: "Ich Ich Ich"
Eine Schlüsselfigur der Moderne

Fernando Pessoa ist einer der Großen der portugiesischen Literatur. Weltweit bekannt wurde er Jahrzehnte nach seinem Tod im Jahr 1935 mit seinem "Buch der Unruhe". Nun können einige Selbstzeugnisse in einem beeindruckenden Band entdeckt werden.

Von Astrid Nettling | 14.02.2019
    Fernando Pessoas "Ich ich ich" und im Hintergrund Szene einer Austellung zu Pessoa
    "Ich Ich Ich" versammelt aus den Jahren 1905-1935 Tagebucheinträge, verstreute Notizen, Briefe und weitere Aufzeichnungen des Schriftstellers Pessoa. (Cover S. Fischer Verlag / Hintergrund: picture-alliance / dpa / Mario Cruz)
    "Ich hatte immer schon, seit meiner Kindheit, das Bedürfnis, die Welt mit fiktiven Persönlichkeiten zu bereichern. Heute habe ich keine Persönlichkeit mehr: Alles an mir Menschliche habe ich unter den verschiedenen Autoren aufgeteilt, deren literarischer Vollstrecker ich war. Heute bin ich der Treffpunkt einer kleinen Menschheit, die nur mir gehört."
    Wer war dieser Mann, den die Welt unter dem Namen Fernando Pessoa kennt? Und dessen Werk erst Jahrzehnte nach seinem Tod – er starb 1935 – in seiner Bedeutung für die literarische Moderne entdeckt wurde. Seine zahllosen Manuskripte – 30.000 lose Blätter und Zettel – ruhten bis dahin unveröffentlicht in einer großen Truhe.
    Erst 1982 gelangt in Portugal sein "Buch der Unruhe", das ihn als eine der Schlüsselfiguren der Moderne weltberühmt macht, an die Öffentlichkeit. Als dessen Autor firmiert ein gewisser Bernardo Soares, der wie Pessoa als Angestellter in einem Handelskontor in der Lissabonner Unterstadt tätig ist. Wer also war dieser Mann, der von sich selbst sagt: "Ich fühle mich fremde Leben leben, als füge sich aus einer Summe von Nicht-Ichs ein künstliches Ich zu einem Einzelwesen zusammen."
    Erinnerungen von Zeitgenossen
    "ICH ICH ICH" lautet denn auch der Titel des jüngsten Bands der deutschen Pessoa-Werkausgabe. Er versammelt aus den Jahren 1905-1935 Selbstzeugnisse des Schriftstellers: Tagebucheinträge, verstreute Notizen, Briefe, Aufzeichnungen zur eigenen Person, zur Literatur, zur Moderne sowie Erinnerungen von Zeitgenossen. Am 13. Juni 1888 kommt Fernando Pessoa in Lissabon zur Welt, besucht im südafrikanischen Durban die Schule, kehrt 1905 im Alter von 17 Jahren nach Lissabon zurück und lebt dort bis zu seinem Tod.
    Wer also war dieser Mann, dem der lebensgeschichtliche Zufall den Namen Pessoa gab – das portugiesische Wort für Person –, dessen Lebenswerk jedoch die Summe einer Vielzahl von "pessoas" bildet. In einer undatierten Notiz schreibt er:
    "Ich fühle mich vielfältig. Ich bin wie ein Zimmer mit unzähligen, wundersamen Spiegeln, die eine einzige zentrale Wirklichkeit falsch und verzerrt reflektieren, eine Wirklichkeit, die sich in allen und in keinem dieser Spiegel findet."
    In einem dieser vielen Spiegel sehen wir den Melancholiker Pessoa, "bis jetzt habe ich nichts als Scheitern erlebt", in einem anderen den Hochfliegenden, der von einer Erneuerung seines Landes mit sich als geistigem Erneuerer träumt, in einem weiteren den Selbstzweifler, "als ich noch nicht wußte, daß ich lächerlich war, konnte ich hochfliegend träumen." Wir sehen den Individualisten und den Elitären, der die Gesellschaft und jedes Mittelmaß hasst, den Umgänglichen, der sich nach einem einfachen Leben sehnt, "ich gäbe mich als Besitzer eines verschlafenen Tabakladens zufrieden", den Antikatholiken und Neuheiden, "ich glaube an die heidnischen Götter mit der ganzen mystischen Inbrunst einer christlichen Seele".
    Die Stimme des Melancholikers
    Wir sehen den Seelenzergliederer, der sich selbst als hysterisch, willensschwach und moralisch instabil analysiert, als typischen Vertreter einer durch die "rasante Entwicklung von Moderne, Industrie, Kultur und Wissenschaft neurasthenisch gewordenen Generation". Und immer wieder finden sich Zeilen wie diese:
    "Könnte ich mich doch nur irgend etwas widmen – einem Ideal, einem Kanarienvogel, einem Hund, einer Frau, einer historischen Untersuchung, der unmöglichen Lösung eines unnützen grammatikalischen Problems ... Dann, ja, dann wäre ich vielleicht glücklich."
    Die Stimme des Melancholikers ist dem Leser wohl die vertrauteste. Gleicht sie doch der Stimme von Bernardo Soares aus dem "Buch der Unruhe". Dennoch ist sie bloß eine von vielen und oft sich widersprechenden Stimmen, die sich unter dem Namen Pessoa sammeln. Die breitgefächerte Auswahl von Selbstzeugnissen, welche die Herausgeberin und langjährige Pessoa-Übersetzerin Inés Koebel klug getroffen hat, bildet sein "Ich weiß nicht, wer ich bin" überzeugend ab.
    Der Leser erhält nicht nur eine Ahnung von der schwer zu fassenden Persönlichkeit, sondern lernt zugleich hierzulande eher unbekannte Facetten des portugiesischen Autors kennen. Einen Eindruck gewinnt er dabei ebenso von seinem weitgespannten Horizont, der neben Literatur – Philosophie, Religion, Psychologie, Geschichte, Politik auch Esoterisches wie den Okkultismus und die Theosophie umfasst.
    Der geistige Ursprung seiner Heteronyme
    In dieser Weitgespanntheit und teilweise Überspanntheit reflektiert sich nicht zuletzt die Befindlichkeit einer Zeit, die keine schlüssige Antwort hat auf die Herausforderungen der Moderne. "Am schlimmsten von allem ist", vermerkt Pessoa an einer Stelle, "daß ich nicht einmal für mich selbst ein Lebens- und Philosophiesystem formulieren kann". Am Aufschlussreichsten aber ist zu erfahren, was Pessoa in verschiedenen Briefen über die Entstehung und die Bedeutung seiner sog. "Heteronymie" ausführt.
    Über sein in der Geschichte der Literatur einmaliges Konzept, ein Lebenswerk nicht aus Büchern zu schaffen, sondern aus fiktiven Persönlichkeiten mit eigenen Namen und Lebensläufen, eigener Prosa und Poesie sowie eigenen philosophischen Entwürfen. Bernardo Soares ist eine dieser Persönlichkeiten. In einem Brief an den Schriftsteller Adolfo Casais Monteiro erklärt Pessoa:
    "Der geistige Ursprung meiner Heteronyme beruht auf meinem angeborenen und anhaltenden Hang, mich zu entpersönlichen. Diese Phänomene haben sich – zu meinem und der anderen Glück – in mir vergeistigt. Bernardo Soares erscheint immer, wenn ich müde oder schläfrig bin; diese Prosa ist eine ständige Träumerei. Soares ist insofern ein Halbheteronym, als seine Persönlichkeit, auch wenn sie nicht die meine ist, doch nichts anderes ist als sie, wohl aber eine leichte Verstümmelung."
    Eine tiefgreifende Lebensanschauung
    Außer seinem Halbheteronym existieren vor allem drei zentrale heteronyme Verkörperungen seines schriftstellerischen Schaffens. Diese sind: Der früh verstorbene Dichter Alberto Caeiro, dessen Lyrik an die frühe griechische Hirtendichtung anknüpft, der Arzt und Dichter Ricardo Reis, der Gedichte in Form Horazischer Oden schreibt, sowie Álvaro de Campos, ein ausgebildeter Schiffsingenieur und avantgardistischer Dichter – der exzentrischste seiner drei Heteronyme.
    "Es ist eine ganze Literatur, die ich geschaffen und gelebt habe, die wahrhaftig ist, weil ich sie gefühlt habe. Daher ist alles, was ich unter den Namen von Caeiro, Reis und Álvaro de Campos geschrieben habe, ernsthaft. Ich habe jeden von ihnen mit einer tiefgreifenden Lebensanschauung versehen, unterschiedlich bei allen dreien, aber immer mit der gebührenden Aufmerksamkeit für die geheimnisvolle Bedeutung der menschlichen Existenz."
    Der große Unbekannte
    In solchen Sätzen kommt der Leser Pessoa wohl am nächsten. Und damit auch der Frage nach seinem Ich-Selbst. Denn mit der Einsicht in die Unergründbarkeit menschlicher Existenz hat er nicht bloß eine Antwort gefunden, sondern im dichterischen Ausloten dieser Unergründbarkeit zugleich große Literatur geschaffen. So machen seine Ausführungen nicht zuletzt neugierig auf seine "Alter Egos", deren Oeuvre in der deutschen Ausgabe seiner Werke gleichfalls vorliegt.
    Als Fernando Pessoa am 30. November 1935 im Alter von bloß 47 Jahren stirbt, ist er lediglich einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt. Jorge de Sena, Dichter, Romancier und Verfasser zweier Essaybände über Pessoa hält fest:
    Letztendlich habe ich ihn, wie so viele andere, die sich rühmen, ihn gekannt zu haben, nie wirklich gekannt. Im sogenannten Privatleben konnte Pessoa ein überaus angenehmer Mensch sein, liebenswürdig, humorvoll – aber diese Rolle war zugleich ein weiteres "Heteronym", das ihn vor allzu größer Nähe zu wem auch immer schützte, während sie ihm erlaubte, auf dem normalen Fest des täglichen Lebens einen unauffälligen Platz einzunehmen.
    Fernando Pessoa: "Ich Ich Ich", herausgegeben und aus dem Portugiesischen übersetzt von Inès Koebel, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main, 303 Seiten, 25 Euro