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Flammen am Mont Sainte-Victoir

Das Festival international d'art lyrique in Aix-en-Provence feiert 60. Geburtstag. Zeit ihres Bestehens haben sich die sommerlichen Musikfestspiele offensiv der Regional- und Tourismusförderung gewidmet. Die im Prinzip beliebigen künstlerischen Inhalte sollen die Genussfreude des auf Sommerfrische eingestimmten Publikums animieren. Diesmal stehen die Berliner Philharmoniker mit Wagners "Siegfried" auf dem Programm.

Von Frieder Reininghaus |
    Deutlicher als die älteren Vorbilder, die Bayreuther und die Salzburger Festspiele, verband sich das Festival in Aix-en-Provence von seinen Anfängen unmittelbar an massiv mit der Fremdenverkehrsbranche. Sie hat dieses Festival seit seiner Gründung vor 60 Jahren immer wieder neu justiert, das heißt den Hauptströmungen des Zeitgeistes entsprechend, ausgerichtet. Der Bau einer bislang wenig genutzten Mehrzweckhalle in einem der innerstädtischen Sanierungsviertel war die letzte durchschlagende Investitionsmaßnahme für die provençalischen Festspiele. Bespielt wird mit Grand Théâtre de Provence ein Haus, das der äußeren Form nach an Forts der Maginot-Linie erinnert, innerlich aber nicht einmal von den Berliner Philharmonikern, Simon Rattle und deren fulminantem Einsatz für ein Highlight des Opern-Repertoires ganz gefüllt werden kann. Nicht einmal mit einem mediterranen "Siegfried"!
    Dass die Außenverkleidung des neuen Grand Théâtre mit offensichtlich zu dünn geschnittenen und nicht solide verlegten Natursteinplatten den heftigen Witterungseinflüssen der Region nur bedingt gewachsen ist, lässt sich schon jetzt an verschiedenen Stellen des ambitionierten Gebäudekomplexes sehen. Die frühen Verfallserscheinungen gemahnen an eine zentrale Botschaft des Wagnerschen "Rings": dass alle und alles unweigerlich seinem Untergang entgegengehen. Freilich hebt die mit viel buntem Lichtspiel aufgelockerte Inszenierung von Stéphane Braunschweig den Gedanken des Verhängnisses so wenig hervor wie irgend eines der tiefer sitzenden Problempotentiale - z.B. das zwischen Jung-Siegfried und Ziehvater Mime, dessen Bruderzwist mit Alberich, den Generationskonflikt zwischen Wanderer Wotan und dem in die Welt hinaus drängenden jungen Recken oder gar die bekanntlich nur punktuell überbrückbaren Gegensätze der Geschlechter, die den Helden - wie nichts anderes zuvor - fürchten lehren. Regisseur Braunschweig inszenierte linear-narrativ in der Leere vor einem Geviert bzw. nach hinten spitz zulaufenden Dreieck von grauen Platten. Vor denen hob sich der in jeder Hinsicht robuste Ben Heppner durch sein kariertes Flanellhemd und verschwitztes T-Shirt deutlicher ab als die graue Arbeitskleidung von Burkhard Ulrich, der den Schmied Mime vorzüglich (also: verklemmt-verschlagen!) sang. Oder die überwiegend graue Rentner-Kostümierung von Alberich Del Duesing und Wanderer Willlard White. Problembereinigter und beiläufiger vorgestellt war das 2. Hauptstück der Tetralogie von Richard Wagner wohl kaum je zu sehen. Eine saubere Sache: es floss nicht einmal Blut, als Fafner im Off abgestochen wurde und sein Sänger zum Sterben aus einem rot ausgeleuchteten Spalt hervortrat.

    Dafür legten sich die Berliner Philharmoniker mit Feuereifer ins Zeug. Mit aller Liebe zum Detail wird von ihnen die Partitur durchmessen und zugleich die große Lineatur ausgesungen, zügig - doch immer wieder auch mit organischen Atempausen. Mustergültig intensiv und stimmig erscheint das Resultat unter "rein musikalischen" Aspekten. Aber Musiktheater ist eben sehr viel mehr. Und so nervt der Egoismus, mit dem sich die teuren Musikanten immer wieder allzu sehr in den Vordergrund spielen und es an der Disziplin der Zurücknahme, an der hohen Kunst der Begleitung fehlen lassen.

    Problembereinigt wie "Siegfried" erschien auch die "Zaide"-Produktion, die bereits vor zwei Jahren in einem verranzten Jugendstil-Theater am Rande Wiens gezeigt wurde. Dort, im Psychiatrischen Krankenhauses auf der Baumgartnerhöhe, wurde das Mozart-Fragment durch eine Bühneninstallation von George Tsypin ins Milieu einer modernen Sklavenhaltergesellschaft gerückt - viele beengte Arbeitsplätze: Nähmaschinen, unter denen Migranten schlafen. Peter Sellars hatte zunächst Experten für Menschenhandel und eine Asylbewerberin zu moralischen Appellen auf die Bühne gebeten. Doch dieser sozialpolitische Zugang zu der ansonsten dünnen Produktion wurde in Aix einfach weggekürzt - nicht etwa, angesichts des nahen Mittelmeers mit seinen vielen toten Boat-People, aktualisiert. Man will sich in der Sommerfrische eben nicht mit Problemen konfrontieren. Und die Festivalbetreiber meiden tunlichst die Herausforderungen der Gegenwart.