Ein 48-Stunden-Verfahren wie von der Schweiz angestrebt sei auch für Deutschland wünschenswert, sagte Öney. Zurzeit glaubten Menschen auf dem Westbalkan "dass, wenn sie als Flüchtling nach Deutschland kommen, sie hier innerhalb von drei Monaten arbeiten dürfen, und das stimmt so nicht ganz und deswegen müssen diese Informationen korrigiert werden." Von den geschätzten 750.000 Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, werde wohl die Hälfte langfristig bleiben, vermutet die Ministerin. Diese Menschen müssten auch integriert werden.
Finanziell habe sich Baden-Württemberg auf die hohe Zahl an Flüchtlingen vorbereitet. "Wir haben schon Rücklagen gebildet." Eingerechnet worden seien Mittel in Höhe von 586 Millionen Euro. Öney sprach sich dafür aus, die Erstaufnahme von Flüchtlingen in die Hände des Bundes zu geben - die Aufnahme solle "komplett in bundeseigenen Liegenschaften", "mit bundeseigenem Personal" geschehen. Die Stimmung unter den Menschen in ihrem Bundesland sei angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen momentan "sehr fragil".
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Im Jahr 2015 werden wohl rund 250.000 Menschen nach Deutschland kommen mit der Bitte um Asyl. Da haben Sie sich jetzt nicht verhört, sondern das war die Prognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Frühjahr. Die war in der Zwischenzeit deutlich nach oben korrigiert worden auf die Schätzung von rund 450.000, und auch diese Korrektur muss offenbar noch mal korrigiert werden. Von Zahlen um die 600 bis 800.000 ist jetzt die Rede. Das wären ungefähr viermal so viele, wie Anfang des Jahres gedacht. Am Nachmittag will Bundesinnenminister de Maizière darüber offiziell informieren.
Am Telefon ist Bilkay Öney von der SPD, Integrationsministerin in Baden-Württemberg. Guten Tag.
Am Telefon ist Bilkay Öney von der SPD, Integrationsministerin in Baden-Württemberg. Guten Tag.
Bilkay Öney: Guten Tag.
Schulz: Wie viele Menschen kommen in Baden-Württemberg täglich in den Erstaufnahmeeinrichtungen an?
Öney: Im Moment kommen täglich etwa 500 Flüchtlinge an, die wir unterbringen und versorgen müssen.
Schulz: Wo kommen die unter und wie?
Öney: Die kommen in den Erstaufnahmeeinrichtungen unter, die von der Landesregierung betrieben werden. Die Erstaufnahme ist zeitlich begrenzt auf drei Monate. Im zweiten Schritt werden die Flüchtlinge in die Stadt- und Landkreise überwiesen. Dort bleiben sie etwa zwei Jahre. Und wenn der Asylantrag immer noch nicht abgeschlossen wurde, wenn darüber immer noch nicht befunden wurde, dann kommen die Flüchtlinge in die kommunalen Einrichtungen in die Anschlussunterbringung.
Schulz: Was kostet die Unterbringung von Flüchtlingen derzeit das Land Baden-Württemberg?
Öney: Wir haben in diesem Jahr Mittel eingerechnet in Höhe von 586 Millionen Euro allein für dieses Jahr. Es kann aber sein, dass, wenn die Prognosen nach oben korrigiert werden, wir noch mal nachsteuern müssen.
Schulz: Sie haben mir im letzten Jahr ein Interview gegeben. Da haben Sie gesagt, die Stimmung gegenüber Flüchtlingen, die sei in Baden-Württemberg sehr gut. Ist das immer noch so?
"Stimmung im Moment sehr fragil"
Öney: Das ist in der Tat noch relativ gut, gemessen an den Zahlen. Ich kann und will aber nicht verhehlen, dass es mit steigenden Flüchtlingszahlen auch eine größere Ablehnung und eine steigende Ablehnung gegenüber Flüchtlingen gibt, denn wir hatten bislang keinerlei Übergriffe auf Flüchtlingsheime, aber in letzter Zeit hatten wir auch schon mehrere Übergriffe. Insofern, glaube ich, ist die Stimmung im Moment sehr fragil.
Schulz: Was ist mit dem Anschlag auf das geplante Asylbewerberheim in Remchingen? Das zählen Sie nicht mit?
Öney: Das zähle ich mit. Deswegen habe ich ja gesagt, wir hatten in den letzten Jahren derartige Vorfälle nicht. Aber in diesem Jahr hatten wir so einen Vorfall, und das hat uns natürlich alarmiert.
Schulz: Was ist denn jetzt das größere Problem, die Unterbringung der Flüchtlinge, oder die Sorge, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippt?
Öney: Im Moment ist es tatsächlich, dass wir genug Kapazitäten schaffen, um die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen. Da stoßen wir an Grenzen. Natürlich stoßen wir nicht nur an die Grenzen des Machbaren, sondern auch an Toleranzgrenzen, denn die Flüchtlinge müssen ja irgendwo untergebracht werden. Wenn ein Flüchtling nach Baden-Württemberg kommt, hat er den Boden einer Kommune unter den Füßen. Wenn es aber teilweise Kommunen gibt, die sagen, sie möchten nicht Flüchtlinge aufnehmen oder nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen, dann macht das die Situation nicht einfacher.
Schulz: Erklären Sie den Menschen denn gut genug, was und worauf sie verzichten müssen?
Öney: Welche Menschen meinen Sie? Meinen Sie jetzt die Flüchtlinge oder meinen Sie die Bürgerinnen und Bürger? - Wir versuchen, immer eine offene Politik zu fahren. Wir verheimlichen keine Informationen, sondern sagen, dass das Land sich in nächster Zeit auf große Flüchtlingszahlen einstellen muss, und natürlich hat das gravierende Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt, auf den Arbeitsmarkt, aber auch auf die Integration der Menschen, denn auch das muss gelingen. Von den etwa geschätzten 750.000 Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, wird wahrscheinlich die Hälfte hier bleiben, langfristig hier bleiben, und diese Menschen müssen auch integriert werden, und das sind die großen Baustellen, die uns in den nächsten Jahren erwarten.
Schulz: Erklären Sie das noch mal genauer. Sie haben eben gesagt, es seien ungefähr eine knappe Milliarde Euro eingeplant. Jetzt haben sich die Flüchtlingszahlen ja allein im Jahr 2015, mit denen gerechnet wird, vervierfacht. Welche Einschnitte im Haushalt in Baden-Württemberg planen Sie denn jetzt, um das zu finanzieren?
Öney: Wir planen keine Einschnitte, sondern wir haben schon Rücklagen gebildet und haben uns auch auf höhere Flüchtlingszahlen eingestellt. Wir müssen im Moment noch nicht darauf reagieren, aber wir rechnen damit, dass wir möglicherweise auch finanziell gegensteuern müssen oder die Ansätze erhöhen müssen.
Schulz: Es gibt ja die Vorbehalte in der Bevölkerung, Menschen, die sagen, wo sind denn die Grenzen erreicht. Das wissen wir hier beim Deutschlandfunk unter anderem aus unseren Hörerzuschriften. Was antworten Sie diesen Menschen?
"Geld wird die Probleme vor Ort nicht lösen"
Öney: Ich antworte, dass wir keinerlei Möglichkeit haben, auf die hohen Flüchtlingszahlen zu reagieren, weil die Länder und die Kommunen reagieren situativ. Das heißt, sie müssen sich an die Zahlen anpassen, indem sie genügend Wohnraum zur Verfügung stellen und die Menschen unterbringen. Präventiv oder gar restriktiv kann eigentlich nur die Bundesregierung und kann auch nur die EU auf die Gesetzgebung hinwirken. Darauf haben die Länder überhaupt keinen Einfluss.
Schulz: Und Sie wollen sicherlich wie die Kollegen aus Nordrhein-Westfalen mehr Geld vom Bund?
Öney: Nein, ich habe ein komplett anderes System vorgeschlagen, weil viele Länder fordern mehr Geld, aber mehr Geld wird die Probleme vor Ort nicht lösen, sondern ...
Schulz: Was Hannelore Kraft fordert ist Quatsch?
Öney: Nein! Es ist schon richtig, dass die Länder mehr Geld brauchen. Es gab auch ein Bundesland, das hat mehr Engagement von Bundesbediensteten gefordert. Ich habe deswegen etwas anderes gesagt. Ich habe gesagt, es wäre gut, wenn der Bund die Erstaufnahme in Eigenregie übernehmen würde, komplett in bundeseigenen Liegenschaften organisieren würde, mit bundeseigenem Personal, wenn zum Beispiel auch die Bundespolizei bei der Passbeschaffung behilflich sein könnte und gegebenenfalls die Rückführung organisieren könnte. Alles steht und fällt mit einem schnellen Verfahren. Auch da hat Hannelore Kraft Recht. Sie haben das vorhin in dem Beitrag ja auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Schweiz strebt zum Beispiel ein 48-Stunden-Verfahren an. Wenn man das schaffte, dann müssten sich, dann dürften sich eigentlich diejenigen gar nicht auf den Weg machen, die das auch als einen Ausflug ansehen oder eine Chance wittern, hier über das Asylsystem auf den Arbeitsmarkt zu gelangen, denn die Asylrechtsreform hat tatsächlich auch im Westbalkan zu Missverständnissen geführt. Viele Menschen glauben, dass, wenn sie als Flüchtling nach Deutschland kommen, sie hier innerhalb von drei Monaten arbeiten dürfen, und das stimmt so nicht ganz und deswegen müssen diese Informationen korrigiert werden.
Schulz: Bilkay Öney, Integrationsministerin in Baden-Württemberg und SPD-Politikerin, hier heute bei uns in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Herzlichen Dank Ihnen.
Öney: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.