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Forum Essay 2015
Bibliophil und netzaffin

Der Essay ist ein hybrides Wesen, eine Mischform. Und der Wortherkunft nach: ein Versuch. Die Literatur beansprucht ihn für sich, wie auch die Wissenschaft, die Politik, die Philosophie oder die Soziologie. Ganz zu schweigen vom Radioessay, der seine eigene Linie zwischen all diesem sucht.

Ein Gespräch über essayistische Kultur mit Albert Henrichs und Caspar Hirschi | 12.07.2015
    Caspar Hirschi (Universität St. Gallen, l.) und Albert Henrichs vom literarischen online‑Magazin hundertvierzehn.de (S. Fischer, r.) tauschen sich über die verlegerische Idee des literarischen Blogs und das geisteswissenschaftliche Buch im digitalen Zeitalter aus. Moderation: Barbara Schäfer (DLF, M.)
    Caspar Hirschi (Universität St. Gallen, l.) und Albert Henrichs vom literarischen online‑Magazin hundertvierzehn.de (S. Fischer, r.) mit Moderatorin Barbara Schäfer (DLF, M.) beim Forum Essay in Stuttgart. (SWR / Volker Brzezinski)
    Bibliophil und netzaffin - beim Forum Essay 2015 wurden Möglichkeiten und Gefahren der digitalen Veröffentlichung sowie das essayistische literarische und wissenschaftliche "Plus" von Blogs erörtert.
    Albert Henrichs vom literarischen Online-Magazin hundertvierzehn.de (S. Fischer) und Caspar Hirschi, Professor für Geschichte an der Universität St. Gallen, kamen zu einem Podiumsgespräch zusammen, um sich über die verlegerische Idee des literarischen Blogs und das geisteswissenschaftliche Buch im digitalen Zeitalter auszutauschen.
    Anlass der Veranstaltung war der 60. Geburtstag des Radioessays, der am 12. Juli 1955 beim Süddeutschen Rundfunk auf Sendung ging.

    Barbara Schäfer: Seit es das Internet in unserem Alltag gibt, gibt es auch Versuche, immer wieder Literatur dort zu finden und zu erfinden. Und das erinnert mich ein wenig an die Suche nach der genuinen Kunstform für das Radio in den 20er-Jahren, Zauberei auf dem Sender, bis heute Hörspiel genannt. Und was diese Literatursuche im Internet angeht, gibt es ähnliche Versuche. Ich möchte hier mal an das Projekt der Wochenzeitung "Die Zeit" von Thomas Hettche und Jana Hensel erinnern, die 1999 versucht haben, mit dem Projekt "NULL" die Millenniumsgeschichte im Internet abzugreifen. Die Kritik war damals nicht begeistert, die Ergebnisse waren essayistisch. Oder ich war selber Jurymitglied in einem Literatur-Digitalpreis, den der dtv-Verlag und die Telekom 2001 bis 2003 ausgeschrieben hatte. In der Jury haben wir in diesen Jahren keine großen Würfe entdeckt, wo wir wirklich hätten sagen können, zu unserem Wissensstand damals, das ist jetzt die Internetform, die digitale Form, die Literatur dort bekommen hat. Wissenschaft sowieso, da kommen wir gleich noch drauf. Jetzt von "NULL" auf hundertvierzehn.de - Albert Henrichs: Fließen solche Erfahrungen, wenn man so ein neues literarisches Onlinemagazin oder auch einen Blog- Sie können uns selber sagen, wie Sie es am liebsten bezeichnen - fließen solche Erfahrungen ein, oder befinden wir uns längst in einem ganz anderen Zeitalter.0?
    Albert Henrichs: Ich denke, dieses Buch von Jana Hensel hat ja den umgekehrten Weg gemacht, versucht, Texte, die im Internet sind, zu sammeln und dann wiederum als Print-Produkt‚ rauszugeben. Vermutlich war es damals auch nicht so einfach, so ein Magazin wie jetzt, 15, 16 Jahre später, ins Leben zu rufen. Wir verstehen uns als literarisches Onlinemagazin, uns gibt es seit Oktober 2013, und sehen uns da auch aber vom Verlag her in der Tradition der "Neuen Rundschau" , die es ja seit über 100 Jahren gibt, und dort auch schon Essays versammelt werden, Beiträge von Autoren, und die vierteljährlich erscheint. Und wir haben dann, oder der Verlag hat sich überlegt, wie man auch eine Plattform für solche Texte online finden kann. Und so ist dann "114" entstanden. Zum Namen vielleicht ganz kurz: Das ist die Hausnummer des Verlags in der Frankfurter Hedderichstraße. Und so kam "114", der Name, zu diesem Projekt.
    Schäfer: Mit welchem Auftrag sind Sie dort versehen? Sie beschäftigen dort natürlich in erster Linie S.-Fischer-Verlagsautoren, haben aber auch Verbindungen zu den literarischen Blogs anderer Verlage, wie zum Beispiel dem Logbuch bei suhrkamp.de. Was ist die Grundidee?
    Henrichs: Ich glaube, da gibt es mehrere Grundideen, die zunächst im Vordergrund standen, also zum einen, diesen Raum für unsere Autoren zu schaffen. Dabei geht es aber dann meistens auch nicht um das Buch, das demnächst erscheint, manchmal auch, aber eher auch um Projekte, die Autoren neben ihren Büchern haben, um Nebenwege zum Buch oder auch Umwege zum Buch. Und das ist die eine Idee, dass man mit den Autoren zusammen diese Beiträge sich überlegt und schaut, was könnte in diesem Rahmen funktionieren. Dann ist "114" auch ein Weg für den Verlag, direkt an die Leser heranzutreten. Das war vorher auch, glaube ich, nicht so direkt möglich. Und es ist aber einfach eine Spielwiese für verschiedene Formen von Beiträgen rund um Literatur, rund um Autoren. Kurz noch zum Erklären von "114": Es gibt alle zwei Wochen eine Ausgabe von "114", die verschicken wir über einen Newsletter, aber die Beiträge sind auf der Website zu sehen, und das sind meistens immer fünf. Und in der nächsten Ausgabe von "114" gibt es dann auch eine Kooperation mit Resonanzboden, das ist der Blog der Ullstein-Verlage. Also da sind wir sehr dran interessiert, gemeinsam eine Leserschaft für diese Art von Seiten zu finden und gemeinsam das Gespräch über Literatur so breit wie möglich im Internet stattfinden zu lassen.
    Schäfer: Und welche Inhalte oder auch Formen, Formate bevorzugen Sie, wenn überhaupt? Gibt es im Netz mehr oder weniger gut aufgehobene Inhalte und Formen? Gibt es vielleicht sogar Konkurrenzen mit den Verlegern des klassischen Print-Programms im Verlag? Existiert die Form des Essays? Benutzen Sie überhaupt diesen Begriff?
    Henrichs: In diesen Ausgaben, von denen es jetzt über 45 schon gibt, versuchen wir, so ein Gleichgewicht an unterschiedlichsten Beiträgen zu haben. Da gibt es dann einen klassischen Essay über 20 Seiten, der auf "114" stattfinden kann. Aber zum Beispiel auch spielerischere Formate wie eine Playlist zu einem Buch, das ein Autor für uns erstellt und wo man dann nachhören kann, was er für Musik hört, während er schreibt, oder auch so, privat. Das sind ganz unterschiedliche Möglichkeiten, die wir haben. Da können wir uns auch neu erfinden in einer gewissen Weise, und sind sehr offen und auch oft im Austausch mit den Autoren, was sie sich da vorstellen können. Zum Beispiel hatte Thomas von Steinäcker den Vorschlag gehabt, einen Text zum Jahrestag von Orson Welles zu schreiben, und hat einen Text geschrieben, in dem er sich mit dem Spracherkennungsprogramm Siri unterhält und Siri fragt, was sie über Orson Welles weiß. Also ein ganz spezieller Text, der da stattgefunden hat. Was wir noch haben, sind größere Projekte, die wir gemeinsam mit den Autoren konzipieren. Zurzeit läuft seit letzten Mittwoch ein Projekt mit dem Titel "Feminismen. Wir wir wurden, wie wir leben, was wir sind", das Antje Rávic Strubel gemeinsam mit Thomas Meinecke initiiert hat und das sowohl auf unserem Blog, hundertvierzehn.de, als auch auf dem Blog von Suhrkamp, Logbuch, stattfindet, und wo wir jetzt über zwei Wochen unterschiedliche Beiträge haben zu dem, was hinter dem Begriff Feminismus steht und was für unterschiedliche Lebenswelten dahinter möglich sind. Und das ist ein Anliegen, was wir haben und was, glaube ich, auch in der Zukunft ein bisschen größer wird, solche Ideen und Projekte mit den Autoren gemeinsam zu realisieren.
    Schäfer: Und gibt es die Form des Essays dort, wird er so benannt, wird er - gibt es gedanklich sozusagen eine essayistische Form, die dort entwickelt wird, oder spielt das eigentlich gar keine Rolle?
    Henrichs: Es gibt den klassischen Essay, der bei uns stattfindet, der auch so in Buchform stattfinden könnte, das ist ja häufig, dass ein Essay, der auch gedruckt werden könnte, so im Internet dann auch noch mal verfügbar ist, um eine größere Leserschaft zu erreichen. Aber es gibt auch Versuche, eine digitale Form vielleicht des Essays zu finden. Zum Beispiel gab es eine Ausgabe der "Neuen Rundschau" zu Vorschlägen für eine Literatur der Zukunft. Und da hatten in der "Neuen Rundschau" ganz viele Autoren Beiträge geschrieben, Essays, wie eine Literatur der Zukunft aussehen könnte. Und anschließend daran haben wir auf "114" dann wiederum ein Textdokument geöffnet, und sechs Autoren, unter anderem Clemens Setz, Jan Brandt, Annika Reich haben da 24 Stunden lang zusammen einen Text geschrieben zu diesem Thema, wo sie sich auseinandersetzen und wo sie sich in ihrem Denken direkt beeinflussen, und wo man dann zusehen konnte, wie halt dieser Text, der - ich würde den noch für einen Essay halten, eine ganz spezielle Form allerdings, entstanden ist. Und das könnte eine Form des Essays sein, wie er dann wirklich nur im digitalen Raum möglich ist.
    Schäfer: Wenn Sie mit Ihren Kollegen entscheiden, was Sie machen auf der Seite, wie Sie es verlinken mit anderen Verlagen und so weiter und so fort, gibt es überhaupt Berührungspunkte zum Printprogramm und den Lektoren dort oder sind Sie da ganz frei? Oder gibt es womöglich sogar Friktionen und ...
    Henrichs: Also wir sind die Lektoren. Ich bin Lektor für deutschsprachige Literatur. Und unser Redaktionsteam besteht nur aus Lektoren der verschiedenen Programmbereiche. Wir sind zwei aus der deutschsprachigen Literatur, zwei aus der internationalen und ein Kollege aus dem Sachbuch. Und wir treffen uns einmal die Woche, überlegen, was steht an, was gibt es für Themen, die gerade aktuell sind, oder was machen unsere Autoren. Und so entstehen die Beiträge. Beiträge, die dann direkt so zum Buch werden, die gab es noch nicht, aber was spannend ist, ist, dass es Beiträge gibt, wo man den Weg zum Buch erkennt. Zum Beispiel gab es einen Bericht von dem Lektor von Marlene Streeruwitz, Roland Spar, der berichtet, wie er mit Marlene Streeruwitz durch Frankfurt geht und sich die Orte anschaut, die in ihrem Roman "Nachkommen" vorkommen und da das abschreitet und genau diese Lektoratsarbeit beschreibt. Und das ist ein, wie ich finde, sehr spannender Beitrag, der den Weg zum Buch beschreibt.
    Schäfer: Also, Albert Henrichs schildert uns ein digitales harmonisches Miteinander im Verlag S. Fischer.
    Caspar Hirschi, Sie kommen aus einem ganz anderen Bereich, der wissenschaftliche Essay, auch eine eigene Art des vielschichtigen und vielfältigen Essays. Ist der so noch benannt?
    Caspar Hirschi: Ja, das denke ich durchaus. Aber wahrscheinlich mehr in etablierten Printpublikationen als jetzt im Internet. Ich denke, im deutschsprachigen Raum ist immer noch der "Merkur" ein großer Ort für wissenschaftliche Essays. Dann haben wir im deutschsprachigen Rahmen auch immer noch größere Probleme eigentlich in der Wissenschaft selber, den Essay als eine anerkannte Gattung stark zu machen. Ich denke, das ist im französischen und besonders im englischsprachigen Raum ganz anders. Da hat die Gattung eine höhere Anerkennung. Das ist ein alter Topos. Da hat schon Adorno dagegen angeschrieben. Und bei uns ist es halt immer noch so ein bisschen die Freizeitform der Wissenschaft, wenn man essayistisch unterwegs ist. Auch wenn man eben damit gerade in den Geisteswissenschaften ein Publikum erreichen kann, das weit über die eigenen Kolleginnen und Kollegen hinausgeht. Und gerade das kann eben dann Forschern zum Verhängnis werden, weil sie dann der Popularisierung verdächtigt werden. Das ist ein Wort, das in Deutschland einen eher negativen Touch hat.
    Schäfer: Sie haben in den vergangenen Monaten mehrfach darüber geschrieben und publiziert, dass das wissenschaftliche Buch gefährdet sei wie nie zuvor durch das Internet. Wir müssen hier etwas weiter ausholen. Einerseits gibt es eine Zunahme an Veröffentlichungen auf dem Buchmarkt, ein boomendes Angebot. Auf der anderen Seite gibt es eine deutlich einbrechende Nachfrage. Wo findet die Zunahme statt, in welchem Bereich? Also wo ist dieses Plus, das dann anscheinend nicht mehr verkauft wird, aber veröffentlicht wird?
    Hirschi: Ich muss vielleicht damit ansetzen, dass ich eine Illusion zerstöre, die beim Anblick von wissenschaftlichen Publikationen, vor allem von geisteswissenschaftlichen Publikationen leicht entstehen kann, nämlich die Illusion, dass hier etwas Ähnliches passiert wie bei literarischen Verlagen und bei Romanen oder eben literarischen Publikationen. Das ist nicht der Fall. Und der Grund dafür ist, dass eigentlich Wissenschaftsverlage, so verschieden sie sind - es gibt die großen Tanker wie in der Literatur, und es gibt die kleinen Verlage wie in der Literatur. Aber so unterschiedlich sie sind, wir sind hier in einem Bereich, der extrem von staatlicher Finanzierung abhängig ist, sowohl in den Naturwissenschaften wie in den Geisteswissenschaften. Und das führt dazu - also es ist nicht nur die Forschung, die vom Staat bezahlt wird, und die Autoren, die vom Staat bezahlt werden, wenn überhaupt, also wenn sie eine Anstellung an einer Universität haben, sondern in Deutschland beispielsweise schätzt man, dass von den geisteswissenschaftlichen Publikationen 70 Prozent des Umsatzes durch Bibliotheken gemacht werden. Das heißt, es gibt eigentlich keinen Markt, so wie wir ihn annehmen können bei literarischen Verlagen. Und damit kann das, was man eben primitiv Angebot und Nachfrage nennt, schnell aus dem Lot kommen, ohne dass man es wirklich merkt. Und das ist genau der Fall.
    Wissenschaftliche Verlage, jetzt vor allem die Geisteswissenschaften, produzieren immer mehr Titel. Da haben wir, glaube ich, in den letzten 15 Jahren 40, 50 Prozent plus gesehen, wenn nicht mehr, aber diese verkaufen sich schlechter als zuvor. Also das ist eine Schere, die extrem aufgeht und aus der wir nur die Konsequenz ziehen können, dass unglaublich viele von diesen Büchern geschreddert werden. Anders geht das gar nicht.
    Schäfer: Ist es der Publikumsabsatz, der sinkt, oder die bibliothekarische Nachfrage, die sinkt, der Ankauf durch die Bibliotheken?
    Hirschi: Beides. Ich nehme an, das Problem ist, wir haben sehr unzuverlässige Zahlen, vor allem im deutschsprachigen Raum. Es gibt zu Amerika gute Zahlen, und da zeigt sich, dass die Bibliotheken immer weniger von dieser wachsenden Zahl an geisteswissenschaftlichen Publikationen aufnehmen können. Und der Grund dafür liegt darin, dass die Preise bei den naturwissenschaftlichen Zeitschriften, also in dem Bereich, wo bei den Verlagen die großen Tanker, die kommerziellen Tanker unterwegs sind, dass die Preise so raufgehen, dass die Bibliotheken kein Geld mehr haben, um ähnlich zu investieren in geisteswissenschaftliche Bücher. Also, wir haben da einen Kannibalismus zwischen den Wissenschaften, der dazu führt, dass die geisteswissenschaftlichen Verlage bei Bibliotheken ihre Produkte nicht mehr absetzen können. Aber ich denke, das Erstaunliche ist, dass gleichzeitig die private Nachfrage, also sagen wir, die bildungsbürgerliche Leserschaft, die gerade im deutschsprachigen Raum eigentlich ganz zentral war für die bis in die 80er-Jahre zum Teil erstaunlich hohen Auflagen von geisteswissenschaftlichen Büchern, dass dieser wegbricht. Und dass es eben keine breite Leserschaft mehr gibt für geisteswissenschaftliche Bücher.
    Schäfer: Aber Sie machen vier apokalyptische Reiter aus im wissenschaftlichen Veröffentlichungsgewerbe, und die haben alle mit dem Internet zu tun. Google Books, E-Book-Piraterie, die Blogosphäre und Open Access. Was ist die Gefahr, die Sie da kommen sehen? Was bedeutet das auch in der internationalen Diskussion um die Zukunft wissenschaftlichen Publizierens überhaupt? Denn all diese Dinge gibt es, und sie sind da.
    Hirschi: Ich habe mit meinem Freund und Kollegen Carlos Spoerhase in Berlin diesen Essay geschrieben im "Merkur". Der erschien in der ersten Ausgabe dieses Jahres, und da haben wir die Diskussion übers Internet in den Wissenschaften kommentiert und eben diese vier apokalyptischen Reiter ausgemacht, die von den Gegnern des Internets beschworen werden. Also wir sind nicht selber der Meinung, dass es diese vier apokalyptischen Reiter gibt. Was wir feststellen, ist, dass Open Access für die Wissenschaftsverlage oder für die Wissenschaft generell zugleich in gewissen Bereichen ein großes Versprechen sein kann, also viel reformieren kann, was reformbedürftig ist, dass es aber auch eine große Bedrohung hat. Und besonders in den Geisteswissenschaften, denn es gibt - so unterschiedlich Wissenschaftsverlage und Publikumsverlage sind, gibt es eine Überschneidung, und das sind die Wissenschaftsprogramme eben bei den großen Publikumsverlagen.
    Schäfer: Ich glaube, wir müssen für die, die es nicht ganz genau wissen, auch erklären, was Open Access genau bedeutet.
    Hirschi: Ganz einfach gesagt, Open Access meint den freien, das heißt kostenlosen und ungehinderten Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen, das heißt, dass alle, die diese Publikation lesen wollen, ob es nun Wissenschaftler sind oder nicht, das tun können, und das natürlich vorwiegend im Internet.
    Schäfer: Und man tut das, weil man ja aufgrund seiner Forschungsstelle, seines Gebiets, in dem man forscht, eine Bezahlung erhält, und möchte dann publizieren, und das tut man, im Gegensatz zu einem literarischen Blog, wo dann über das Buch quasi, das entsteht, wahrscheinlich der Onlineauftritt mit finanziert ist. Oder sehen wir das falsch? Gibt es ein Extrahonorar für die Tätigkeiten der Autoren auf diesem Gebiet?
    Henrichs: Ja, natürlich. Da würden wir uns, glaube ich, auch als Vertrag nicht gut fühlen, wenn das für die Autoren einfach eine Zusatzarbeit wäre, die sie machen müssten.
    Schäfer: Aber man sieht eine krasse Schere zwischen der wissenschaftlichen Veröffentlichung und der belletristischen. Und die Frage ist, wie kommen wir da raus. Sie sehen wirklich schwarz für die wissenschaftliche Veröffentlichung an sich?
    Hirschi: Nein, nein, durchaus nicht.
    Schäfer: Oder gibt es diesen Zeitschriftenmarkt, den man ausbauen kann, gerade auch, was diese kürzeren Texte, vielleicht in die Essayistik reinreichenden wissenschaftlichen Texte angeht?
    Hirschi: Also ich glaube, wir sind in einer sehr starken Umwälzung, wo eben so polarisierende Debatten wie die um Open Access von den wahren Problemen ablenken. Und die Probleme sind immer auch Chancen, um das zu spezifizieren jetzt am Beispiel von Open Access. Die Diskussion um diesen freien Zugang wurde in den Naturwissenschaften lanciert, und da hat es ja auch wirklich eine große Berechtigung, weil diese großen Konzerne für ihre besten Zeitschriften Jahresabos verlangen von bis zu 40.-, 50.000 Euro. Das müssen Bibliotheken bezahlen, wenn sie diese Zeitschriften haben wollen. Und die meisten Bibliotheken bezahlen das auch, weil kein Weg an diesen Zeitschriften vorbei führt. Die Forscher wollen das, sie müssen diese Zeitschriften haben. Und da ist natürlich dann ein Argument zu sagen, wenn die öffentliche Hand die Autoren bezahlt, wenn die Bibliotheken auch von der öffentlichen Hand bezahlt werden, wenn sogar die Lektoren, die Peer Reviewer, die Herausgeber Wissenschaftler sind, die von der öffentlichen Hand bezahlt werden, dann ist es ein Irrsinn, wenn nachher private Konzerne wie Elsevier bei einem Umsatz von etwa drei Milliarden einen Gewinn von knapp einer Milliarde machen. Das ist das - ich meine, das ist ein Argument, das sofort einleuchtet. Jetzt ist aber die Begeisterung für Open Access bei den Befürwortern so groß, dass sie das eigentlich als universales Prinzip für alle wissenschaftlichen Publikationen einführen möchten. Und es ist eigentlich ein alter aufklärerischer Traum dabei, zu sagen, dass damit eine Demokratie des Wissens geschaffen werde, weil eben der Zugang zu allem Wissen frei wäre. Das ist die Idee.
    Schäfer: Also erst mal einsehbar. Klingt gut.
    Hirschi: Erst mal einsehbar, genau. Das Problem ist nur, wenn wir jetzt dieses System auf die Geisteswissenschaften übertragen, dann sehen wir in Deutschland und in Frankreich, dass eigentlich jene Verlage, die am meisten zum Prestige der Geisteswissenschaften beitragen, weil sie sorgfältig auswählen, weil sie sorgfältig lektorieren, weil sie auch ein Publikum erreichen, das über die Spezialisten hinausreicht, eben Verlage wie Suhrkamp, wie Fischer, wie Hansa und so weiter und so fort, dass diese ruiniert würden durch ein Open-Access-Prinzip. Das heißt, dass hier eigentlich etwas, was in den Geisteswissenschaften noch funktioniert, mit erledigt würde, indem man ein Problem in den Naturwissenschaften lösen müsste. Und solche Probleme probieren wir in den politischen Diskurs hineinzubringen.
    Schäfer: Hineinzubringen - aber gibt es auch eine Lösungsempfehlung? Nicht alles zu publizieren, nicht alles ins Internet zu jagen, genauer hinzuschauen - wer ist die Entscheidungsinstanz?
    Hirschi: Das ist tatsächlich das Problem. Ich glaube, dass Open Access für eine Schwierigkeit, die wir im Wissenschaftssystem haben, dass nämlich alles und jedes publiziert wird, alle schreiben und kaum jemand mehr liest, dass das mit Open Access nicht gelöst ist. Und dass es dazu eigentlich mehr Verlage bräuchte wie diese renommierten alten Verlagshäuser, die Wissenschaftsprogramme haben, damit wieder eine viel stärkere Filterfunktion in die Publikation rein kommt. Denn in den Geisteswissenschaften haben wir auch sehr viele Kleinverlage, die allein von Zuschüssen leben eigentlich, die davon leben, dass die Autoren etwas bezahlen, dass sie publizieren können, und die Bibliotheken wieder bezahlen, dass sie die Bücher übernehmen können, die aber weder selektionieren noch lektorieren noch irgendwie, außer eine Datei mit der Hilfe von gefällten Bäumen in die Bibliothek zu transportieren, irgendeine Zusatzleistung erbringen. Und ich glaube, hier wäre Open Access auch eine Möglichkeit, weil diese Verlage braucht es unserer Meinung nach nicht.
    Schäfer: So, und jetzt muss ich noch was fragen, was Sie dann doch auch wieder beide betrifft, denn wahrscheinlich haben es alle verfolgt: Ijoma Mangold hat in der ZEIT vor einigen Ausgaben die Facebook-Diskurs-Debatte angestoßen. Er hat gesagt, Essayistik ist ja auch Diskurs und Debatte. Ich finde das total toll, wenn ich ganz spontan in Facebook auf Debatten und Diskurse stoße, und das würde genau dem widersprechen. Es ist ja auch eine Art Open Access, und wenn ich das dann aber irgendwie in Printform lese, auch in meiner eigenen Zeitung, dann langweilt mich das zu Tode. Ist dann auch natürlich in Streit darüber geraten mit Ulrich Greiner und der eigenen Zeitung. Was machen Sie aus so einer Aussage? Ist das für Sie befördernd, triumphal, spielt das im Verlag eine Rolle? Oder sind Sie da vorsichtiger, Herr Henrichs?
    Henrichs: Es gibt ja auch eine Facebook-Seite von "114", also da findet es auch statt. Dass diese Diskussion da so frei ist, ist auch gut und interessant, was dann da stattfindet. Dass wir als Magazin dann natürlich auch wiederum eine redaktionelle Entscheidung treffen, was da stattfindet oder nicht, ist dann aber für die Seite selbst, glaube ich, sehr sinnvoll. Wenn das jetzt Ihre Frage beantwortet, da bin ich mir nicht so sicher.
    Schäfer: Die Frage ist einfach, entwickelt es sich doch als Fach letztendlich dorthin? Ist das keine Einzelwahrnehmung von Ijoma Mangold, sondern einfach vielleichtein Generationending?
    Hirschi: Nicht nur, nein. Gerade in den Wissenschaften gibt es viele der älteren Generation, die voll auf den digitalen Zug aufgesprungen sind. Ich glaube, es ist nicht nur eine Generationenfrage. Ich bin ja Historiker, und ich würde die Frage gern mit einem Rückbezug auf die typografische Revolution beantworten. Wenn man sieht, was Gutenberg gemacht hat, als er die Bibel gedruckt hat, dann hat er eigentlich kein neues Produkt geschaffen. Und ich glaube, das ist ein wichtiger Vergleich mit den heutigen Publikationen im Internet. Was er gemacht hat, ist, ein Prachtmanuskript mit neuen Methoden. Also, es war eine revolutionäre Prozessinnovation und eine höchstens inkrementelle Produktinnovation. Die Schrift war viel regelmäßiger, man konnte mehrere Exemplare davon herstellen. Aber was man in den Händen hatte, war ein Kodex wie eine alte Handschrift. Und ich glaube, wir sind heute, wenn wir die Publikationskultur im Internet anschauen, da glaube ich, ist eine Parallele da zwischen den literarischen Verlagen und den Wissenschaftsverlagen sind wir auf einer Stufe, wo das, was im Internet erscheint, noch immer genauso gut oder fast so gut auch im Print erscheinen könnte. Von der Form her, von der Gattung her haben wir noch keine neuen Formen gefunden. Bei der typografischen Revolution hat sich das massiv geändert dann erst ein paar Jahrzehnte später, als Flugblätter, Bild-Text-Kombinationen im Druck erscheinen konnte, wie man es nie hätte mit Handschriften machen können. Und ich glaube, wir suchen immer noch nach Publikationsformen auch in den Wissenschaften, die wirklich nur im Netz entstehen könnten. Und da würde ich jetzt denken, es gibt Experimente in England beispielsweise, dass Musikwissenschaftler Studien publizieren, wo man direkt hören kann, worum es geht. Also wirklich ein multimediales Erlebnis, dass, wenn man eine Studie liest, dass man sofort hören kann, was gemeint ist. Und bei den Kunstwissenschaften wäre das eine ähnliche Chance. Da werden Unsummen für Bildrechte ausgegeben für Printpublikationen, und häufig sieht man nicht mal recht, was genau gemeint ist. Und da würde das Netz für neue Publikationsformen eine Riesenchance bieten. Aber ich glaube, so weit sind wir noch nicht. Was wir haben, sind eben Blogs, also gerade in den Naturwissenschaften, wo kritische Diskussionen spontan geführt werden. Also wenn jemand etwas unkoscher findet in einer Publikation, dann kann man das mit Kollegen zusammen verhandeln in Blogs, und wenn andere auch ein Problem sehen, dann gibt es eine große Internetdebatte. Das sind so die Dinge, die wirklich nur im Netz geführt werden.
    Schäfer: Für mich stellt sich aber doch mal da - also, Herr Henrichs kann glaubwürdig darstellen, dass das ein Plus ist, was die hundertvierzehn.de-Seite machen kann für die eigenen Autoren, aber auch fürs Publikum, fürs Lesepublikum. Bei Ihnen höre ich eher raus, viel zu viel Publizieren heißt auch, dass vieles schnell verschwindet und man vieles davon gar nicht braucht. Man fragt sich ja auch gerade in der Literaturkritik, wo sind eigentlich diese Zeitspannen geblieben zwischen etwas Schreiben, gerade auch in der Wissenschaft als Historiker etwas schreiben, ein Kompendium erstellen. Etwas lesen und aufnehmen, um es dann zu kritisieren oder zu besprechen in der Öffentlichkeit, das geht natürlich inzwischen alles Zack-zack-zack-zack-zack. Das sind alles Dinge im Internetzeitalter, die sind noch gar nicht besprochen, aber wir wissen eben nicht, inwieweit sich da tatsächlich auch der Mensch ändert. Ob das tatsächlich dann auch eine andere Form der Wahrnehmung ist. Nehmen Sie denn wahr, dass Texte kürzer werden?
    Henrichs: Das finde ich als allgemeine Aussage ein ziemlich schwierige Antwort. Ich glaube es eigentlich nicht. Natürlich ist es so, dass man ...
    Schäfer: Sie fordern das auch nicht ein.
    Henrichs: Nein, bei uns gibt es keine Grenze für Texte. Es gibt manchmal die Möglichkeit, dass die Texte dann gleichzeitig auch als PDF-Datei zum Download bereitstehen, wenn sie sehr lang sind, für dann Leser, die sie auf ihrem Reader oder so mitnehmen wollen. Aber generell würde ich sagen, dass es vielleicht schon kürzere Texte sind, die im Internet stattfinden, aber wir bewusst da keine Grenze setzen wollen.
    Schäfer: Und wenn man jetzt diesen Filter auflegt, den Sie wollen, und sagt, wir wollen Titel mit Originalität und breitem Rezeptionspotenzial, das heißt, für Spezialisten und Laien gleichzeitig, heißt ja vielleicht auch, dass man verdichten muss in dem, was man veröffentlicht.
    Hirschi: Das könnte sein, aber die Evidenz spricht eigentlich dagegen. Es gibt im englischsprachigen Raum diese Journale, die literarische und wissenschaftliche Essayistik wirklich kongenial verbinden. Ich denke an die "London Review of Books", die "New York Review of Books" oder das "Times Literary Supplement". Und da gab es mal eine Studie dazu, da hat man gemessen, wie sich die Textlänge verändert hat in den letzten Jahrzehnten. Und die Essays sind deutlich länger geworden. Wobei nicht das Internet jetzt den Ausschlag gegeben hat, sondern das Umsteigen von Handschrift und Schreibmaschine auf Computer. Da haben die Essayisten dann wirklich in die Tasten gegriffen, es fiel ihnen leichter, lange Stücke zu produzieren. Und die Redakteure hatten dann die Probleme, das Ganze einzufügen. Also das ist länger geworden.
    Schäfer: Dann die letzte Frage: Welche Essays braucht das Land? Netzaffin und bibliophil. Herr Hirschi?
    Hirschi: Also ich glaube, die gedruckten Essays, die werden nicht verschwinden im digitalen Zeitalter, weil der Essay gerade als Form etwas ist, was man nicht unbedingt am Bildschirm lesen muss. Aber ich will nicht ausschließen, dass es eben eine neue Form geben kann, nicht einfach eine Übersetzung der gedruckten Form ins Digitale, sondern eine neue Form geben kann, sagen wir der kunstvollen Wissenschaftsprosa, die auch im Internet funktionieren kann. Ich sehe sie noch nicht in unserem Bereich, sondern ich sehe einfach das Analoge im Internet, was im Druck schon besteht. Aber ich wäre gespannt, was da raus kommt, und eben dafür bräuchte es vielleicht eine neue Generation der bibliophilen Netzaffinen.
    Schäfer: Herr Henrichs, Ihre Aussicht?
    Henrichs: Ich glaube, unsere Sicht ist auch, dass das Beste wäre ein Nebeneinander von sowohl Essays in Printform und dann wirklich einer neuen Form von Essays, die dann im digitalen Raum stattfinden können. Und ich glaube und hoffe, dass da mit "114" auch so ein bisschen als eine Art Kurator für solche Räume funktionieren kann. Und wie jetzt in diesem Beispiel mit den sechs Autoren, die über 24 Stunden zusammen schreiben, wir das dort ermöglichen können.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.