Forum neuer Musik 2023: Auf der verzweifelten Suche nach Normalität
Ein Mensch erkennt, dass er nie ein Mensch war

Zwischen Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefen“ und Eres Holz‘ neuer Ensemblemusik zeigt sich ein Panorama bestürzender Texte und Kompositionen. Vermeintlich harmloses Material wird dabei plötzlich beredt. Ein Abend mit Olaf Reitz, Amira Elmadfa und dem E-MEX Ensemble.

Am Mikrofon: Frank Kämpfer |
Ein Mann steht hinter einem Rednerpult und gestikuliert beim Sprechen.
Sprecher Olaf Reitz liest in der Veranstaltung "Auf der verzweifelten Suche nach Normalität" am 26.10.23 im Deutschlandfunk. (T. Kujawinski / Deutschlandradio)
Welche Gefühlslagen kursieren – angesichts der Ruinen, der Lager, angesichts Hitlers Ende und der Gegenwart der Besatzungsarmeen? Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefe“ bringen es auf den Punkt.
Verbunden mit Texten von Hannah Arendt, Inge Müller und Hans Magnus Enzensberger artikuliert sich deutsche Nachkriegswahrnehmung hier als bestürzend unerledigt, ja aktuell.

Verschüttete Botschaften werden beredt

Auch scheinbar harmlose Kompositionen von Hermann Reutter, Boris Blacher und Ernst Hermann Meyer werden in solchem Zusammenhang plötzlich beredt. Im Untergrund des musikalisch-literarischen Flechtwerks wirken zudem höchst gegensätzliche Urheber-Biografien.
Der Abend mündet in die Uraufführung eines Ensemblewerks des israelisch-deutschen Komponisten Eres Holz, das verdrängte Kriegserfahrungen thematisiert.
Ein Ensemble spielt vor einem Ensemble. Davor sitzt ein Mann an einem Mischpult.
Das E-MEX Ensemble bei der Uraufführung von Eres Holz' Auftragswerk "Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war" am 26.10.2023. In der Bildmitte vorn der Komponist an der Live-Elektronik. (T. Kujawinski / Deutschlandradio)
Es ist von Svenja Goltermanns Publikation „Die Gesellschaft der Überlebenden“ inspiriert. Holz will mit seinem Stück „Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war“ Spuren kriegerischer Gewalterfahrung in der menschlichen Psyche nachgehen.
Inge Müller
Der Ringfinger

Grete von Zieritz
aus: Le violon de la mort (1952)

Susanne Kerckhoff
aus: Berliner Briefe (1948)

Boris Blacher
Zirkuspferdchen, aus: 4 Lieder op. 25 (1947)

Manfred Lütgenhorst
T
ausende im Banne des Herforder ‚Wunderdoktors‘ (1949)

Bernd Alois Zimmermann
Nr. I, IV, VI, VIII aus: Konfigurationen (1956)
Instrumentiert von Christoph Maria Wagner

Hannah Ahrendt
aus: Besuch in Deutschland (1950)

Susanne Kerckhoff
aus: Berliner Briefe (1948)

Boris Blacher
Psalm 142 aus: Drei Psalmen (1943)
Gedicht aus: Aprèslude (1958)
Instrumentiert von Christoph Maria Wagner

Hans Magnus Enzensberger
Drei Strategien der Normalität (1982)

Ernst Hermann Meyer
Toccata appassionata (1966)

Susanne Kerckhoff
aus: Berliner Briefe (1948) – Brief Nr. 13

Hermann Reutter
aus: Fünf antike Oden nach Sappho (1947)
Instrumentiert von Christoph Maria Wagner

Hans Arp
Der Mensch ist ein Flötenbläser (1955)

Eres Holz
Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war (2022) UA
Kompositionsauftrag des Deutschlandfunks

Mitwirkende
Olaf Reitz, Sprecher und Dramaturg
Amira Elmadfa, Mezzosopran
Martin von der Heydt, Klavier
Eres Holz, Live-Elektronik

E-MEX Ensemble
Delphine Roche, Flöte
Anja Schmiel, Oboe
Joachim Striepens, Klarinette
Yoshiki Matsuura, Posaune
Petteri Waris, Akkordeon
Michael Pattmann, Schlagwerk
Martin von der Heydt, Klavier
Kalina Kolarova, Violine
Burkart Zeller, Violoncello

Christoph Maria Wagner, musikalische Leitung
Leon Fokker, Textprojektion

Mitschnitt der öffentlichen Veranstaltung am 26.10.2023 im Deutschlandfunk Kammermusiksaal.