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Foto-Blog "Humans of Paris"
Paris durch seine Menschen verstehen

Menschen im Alltag, auf der Straße, im Park, mitten in Paris – das sind die Fotomotive, die ein junger Franzose auf seinem Blog "Humans of Paris" regelmäßig im Internet veröffentlicht. Durch seine Bilder möchte er der Welt das wahre Paris zeigen.

Von Julia Batist | 22.11.2015
    Eingang zum Eiffelturm in Paris
    Eingang zum Eiffelturm in Paris (Imago)
    "Hi, ich bin Marco, der Mitgründer des Humans-of-Paris-Projekts".
    "Humans of Paris" ist einer der beliebtesten Pariser Fotoblogs. Der 18-jährige Marco Hazan, hat ihn noch als Schüler gemeinsam mit einem Freund vor drei Jahren gestartet. Als der New Yorker Fotograf Brandon Stanton beschloss, täglich Menschen in seiner Stadt zu knipsen, wusste er nicht, wie viele er inspirieren würde. Mittlerweile gibt es "Humans of ..."-Seiten auf der ganzen Welt. Alle wollen Einblicke in ihre Stadt vermitteln – über Fotos von den Menschen dort.
    Marco Hazan war einer der ersten. Eigentlich studiert er Jura an der Sorbonne. Nebenbei ist er leidenschaftlicher Hobby-Fotograf. Er zieht durch Paris, spricht Menschen an, um sie zu fotografieren, ins Gespräch zu kommen. Danach erscheint das Foto mit einem Text zur Person auf seinem Blog. Oft fragt Marco nach besonderen Erlebnissen. Wen er anspricht, das entscheidet er spontan nach Gefühl, sagt er. Gerade ist es ein junges Paar, das Hand in Hand eine Seitenstraße im 10. Pariser Arrondissement entlang läuft.
    "Sie ist aus dem Umland und er kommt aus einem Vorort. Sie finden es interessant, durch Paris zu laufen. Das Mädchen sagt, die Pariser sind verrückt und er sagt, dass alle in Paris lächeln. Die jungen Leute sind entspannt, aber viele arbeiten hart in Paris, die sind gestresst. Aber wie man sieht, hier vor uns, gibt es nette, entspannte Menschen, die Zeit haben mit mir zu sprechen. - Sie können sich hinstellen wie sie wollen."
    Aus jedem Gespräch ergibt sich eine kleine Geschichte. Marco weiß, was er schreiben wird.
    "Wir sehen, dass es sehr fröhliche Momente in Paris gibt. Das ist ihre Geschichte! Es geht um den Kontrast zwischen den gestressten Business-Leuten und der jüngeren, fröhlichen Generation. Ich versuche auch, Geschichten zu zeigen, die traurig und emotional sind. Vor einem Monat habe ich die Geschichte eines Mannes gepostet, der seine Schwester verlor als er sieben war. Er hat sehr viele Nachrichten dazu aus der ganzen Welt erhalten. Das ist das Beste an meinem Projekt. Ich verbinde die Technologie und menschliche Beziehungen."
    Die Menschen berichten ihm oft erstaunlich offen. Von Liebe, Verlust, Schicksalsschlägen – aber auch Lieblingsorten, Momenten in Paris.
    "Es geht darum, Paris zu entdecken. Es gibt eine große Vielfalt in der Stadt, die ich durch meine Fotos zeigen will. Ich versuche, alle zu fragen, um das Bild vollständig zu machen."
    Der erst 18-Jährige mit den schwarzen Haaren, tief dunklen Augen, in schwarzer Lederjacke, mit Trend-Haarschnitt und enger Hose läuft alle Viertel ab. Über 260.000 Menschen auf der ganzen Welt haben seinen Blog abonniert - täglich werden es mehr.
    "Deshalb habe ich den Blog gemacht. Viele Leute nehmen Paris über die Gastronomie, den Eifelturm und das alles wahr. Ich denke, wir können eine Stadt durch ihre Menschen entdecken. Du siehst die Pariser, liest ihre Geschichten und kannst die Stadt dadurch verstehen, sie teilen ihre Erlebnisse, du siehst was für Menschen hier leben. Um die Vielfalt zu zeigen, versuche ich, überall hin zu kommen, nicht nur immer in die gleichen Viertel zu gehen."
    Marco Hazan ist gebürtiger Pariser, kennt die Stadt von klein an. Seitdem er den Fotoblog führt, sieht er sie mit neuen Augen.
    "Es verändert den Blick auf die Welt und auf Paris. Wenn du mit den Leuten sprichst, entdeckst du vieles. Es hat mein Leben verändert. Du sprichst mit Menschen, die du nie zuvor gesehen hast, die dich nicht kennen. Ich denke jetzt anders über Zwischenmenschliches. Pariser sind interessant, großartig – junge, arme – jeder hat etwas zu erzählen."
    Marco spricht bewusst Englisch mit Ausländern, jeden Blog-Beitrag veröffentlicht er auf Französisch und auf Englisch. Das Projekt soll international, für alle zugänglich sein. Gerade trifft er zufällig eine Deutsche. Sie findet seine Idee interessant, er zeigt einige Bilder, stellt das Projekt vor. Die Frau ist Anfang 30, kommt aus Süddeutschland und arbeitet jetzt als Deutsch-Lehrerin in Paris, erzählt sie. Seit fünf Jahren ist sie hier. Gern beobachtet sie Menschen – auch so hat sie Paris erkundet.
    "Ich finde, dass vor allem die Pariserinnen besonders elegant gekleidet sind, besonders viel Wert auf guten Modegeschmack legen. Ich finde schon, dass man eventuell erkennen kann, ob jemand aus Paris oder aus New York kommt oder aus Berlin. Die französische Kultur, la Grande Nation, das ist schon was Besonderes. Die Franzosen sind nicht gerade für ihre Offenheit bekannt. In Paris ist nicht so ein offenes, herzliches Miteinander, wie vielleicht in Berlin. Es ist eine laute, schnelle Stadt. Die Menschen hier sind auch oft beschäftigt und haben es eilig."
    Genervte Passanten, ungeduldige Autofahrer, Verkehrschaos am Arc de Triomphe oder Place de la Concorde – das erleben hier alle: Deshalb liebt die Deutsche die ruhigen Plätze mitten in der Stadt besonders, wie den Jardin du Luxembourg.
    "Im 18. gibt es eine Mauer, die heißt Je t'aime. Da steht in Hundert verschiedenen Sprachen "ich liebe dich". Das kennt nicht jeder, das ist auch schön irgendwie. Ich bin da noch nie hingegangen mit jemanden, um festzustellen, ob die Liebe danach ewig dauert. Die Seine und der Eifelturm ist eher ein typisches Touristensymbol. Für mich ist nicht das Paris. Für mich ist Paris die kleinen Straßen und die netten Cafés, die man erst durch Zufall entdeckt, wenn man die Stadt ein bisschen besser kennt und wenn man hier wohnt."
    Aber: Die Vielfalt der Stadt hat viele Gesichter.
    "Es kann einem auch mal passieren, dass man abends nach Hause kommt, und vor dem Haus die Mülltonnen stehen und jemand in diesen Mülltonnen nach Verwertbarem sucht. Da fühlt man sich nicht besonders gut. Wen man sieht, dass es auch Armut gibt. Das ist die Schattenseite der Stadt."
    Riesige Reisebusse, Touristen auf Segways, die eiligen Geschäftsleuten den Weg versperren. Marco zieht weiter, spricht einen Franzosen an. Der weiß nicht, was er über sich erzählen soll. Aber die Idee, die Stadt über Menschen und ihre Geschichten zu erklären, findet er gut.
    "Mit Fotos kann man die Realität der Menschen beschreiben. Nicht nur mit Texten, sondern mit Bildern, die sind machtvoller. Allein durch die Menschen kann man sehen, wie ihr Lebensstil, ihr Alltag wahrscheinlich aussieht."
    In einer Seitenstraße des 16. Arrondissements laufen wir an kleinen Modeläden, Restaurants und einem kleinen Supermarkt vorbei. Es wirkt beschaulich, die Stadt ist ruhiger geworden an diesem Abend unter der Woche. Eine Frau, vielleicht Mitte 50, betrachtet entspannt ein Schaufenster.
    "Wenn man gar nicht Französisch kann, ist es schwierig mit dem typischen Pariser Kontakt aufzunehmen. Ich habe ein Europarat-Meeting hier. Ich versuche, noch ein bisschen Eindrücke zu sammeln. Man nimmt natürlich auch die Eindrücke mit, die man als Tourist mitnimmt, aber das kann man auch nachlesen. Es ist die Atmosphäre. Und zur Atmosphäre gehören die Menschen. Schlussendlich sind es die Menschen und nicht die Gebäude, die eine Stadt prägen."
    Sie ist die erste, die eine neue Seite der Stadt erwähnt. Seit den Anschlägen auf die Mitarbeiter der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" sind Maschinengewehre und Polizeiwagen überall präsent.
    "Ja, es ist mir jetzt gerade aufgefallen. Ich bin auf so etwas auch sehr sensibel. Weil Maschinengewehre, das ist für mich schon noch immer ein Bedrohungsszenario. Es zeigt halt, dass hier eine Gefahr ist. Auf der anderen Seite ist es besser – wenn es zu unserem Schutz dient, dann muss man das auch akzeptieren. Aber es ist leider Teil auch vielleicht unseres Lebens jetzt gerade."
    Und doch verbindet sie mit Paris vor allem eines:
    "Ich denke, man genießt hier das Leben und so soll es sein. Man muss den Moment genießen, nicht auf das Morgen warten. Die gehen jetzt noch essen und trinken und flanieren hier und sitzen halt nicht nur vor dem Fernsehapparat."
    Am nächste Tag scheint die Sonne, ich laufe vom Seine-Ufer aus unter den berühmten Brücken entlang in die Stadt. Auf dem Fluss tuckern die Sightseeing-Schiffe. Ich versuche, Paris zu entdecken durch die Menschen hier. In einem Straßencafé sitzt eine junge, blonde Frau mit Pferdeschwanz an der geöffneten Tür. Ich spreche sie an. Sie ist Amerikanerin und kennt den Blog "Humans of New York".
    "Ich glaube die Vielfalt der Menschen macht eine Stadt aus. Wenn sie ihre Geschichten erzählen, sich öffnen, dann zeigt das doch die gute Seite der Menschheit. Deshalb lieben alle Humans of New York. Ich wusste gar nicht, dass es Humans of Paris gibt. Es ist so schön, den Alltag Einzelner in einer Stadt zu sehen, an Stelle von Politikerköpfen oder so. Jeden Tag gehen so viele Leute an dir vorbei, aber du bleibst nicht stehen und sagst, hallo, wie geht's? Wie ist dein Leben? Besonders wenn du neu in einem Land bist, wie ich, als ich am Anfang die Sprache nicht sprach. Zwei meiner besten Freundinnen hier habe ich beide in der Metro getroffen. Ich habe mich mit jemanden auf Englisch unterhalten und sie sagten, Entschuldigung, sprichst du Englisch? Ich will meines verbessern. Und ich wollte Französisch lernen, das passte."
    Wir unterhalten uns noch lange. Dann mache ich einen Spaziergang ins Grüne und treffe drei junge Männer, die in einem Park auf einer Mauer sitzen. Einer spielt Gitarre. Die Humans-of-Paris-Idee gefällt ihnen.
    - "Ich denke, das ist eine gute Möglichkeit. Viel besser als Fotos von Straßen."
    - "Ich habe mich mal in Paris verlaufen. Eine nette Gruppe Pariser hat mir geholfen. Wir sind dann noch zwei Stunden lang zusammen durch die Stadt gelaufen. Ich glaube, so etwas passiert in Paris öfter. Manche sind sehr hilfsbereit, freundlich – manche können aber auch arrogant und gestresst sein."
    - "Das mag kontrovers klingen, aber ich finde, manchmal sind junge Leute etwas aggressiv in Paris."
    - "Die typischen Pariser sehen so aus: Der Typ, der in der Nähe vom Eifelturm wohnt, weißes Hemden trägt der, sehr schick. Oder der Beau-beau-Typ. Verstehen Sie "beau-beau"? Das ist der Künstler-Typ, einer aus der Gründerszene, ein Bohmemian. Sehr häufig im Marais."
    Begegnungen, die zeigen, warum Marco Hazan so gerne seine Foto-Touren macht. Alle, die wir getroffen haben, sind Paris. Und sie alle haben ihren ganz persönlichen Bezug zu der Stadt.
    "Im Vergleich zu den USA arbeiten die Menschen hier, um zu leben. Und wir leben, um zu arbeiten. Die sind hier mehr im Urlaub, es gibt nicht den einen riesigen Supermarkt, sondern individuelle Bäckereien, Konditoreien und so weiter."
    "Ich mag es in Montmarte Gitarre oder Ukule zu spielen. Es ist nicht dasselbe Paris wie in den touristischen Gegenden. Es gibt verschiedene Arten von Paris und wir bevorzugen Montmarte. Oder Ménilmontat. Im Sommer sind wir immer dort."
    "Was ich an Paris mag ist das Leben an sich. Die Leute leben ihr Leben, sie gehen aus, essen, die Atmosphäre, sie leben ihr Leben ohne Kompromisse. Sie leben!"
    Marco Hazan hat seinen Blog nie zuvor so emotional und intensiv betrieben wie in den Tagen nach dem schwarzen Freitag, den 13.. Für ihn hat "Humans Of Paris" nun eine neue Dimension erreicht.
    "Ich habe viele Nachrichten aus der ganzen Welt erhalten. Die Leute haben mich gebeten, die Reaktionen, die Gefühle der Pariser zu veröffentlichen. Mein Blog war plötzlich sehr wichtig. Soziale Medien haben bei einer solchen Tragödie sehr viel Macht. Alle schauen auf ihr Smartphone, ihren Computer. Ich habe mit Opfern gesprochen, habe ihre Geschichten gehört. Menschen, die die Anschläge auf das Restaurant überlebt haben. Ich habe Menschen getroffen, die geschockt waren, ich bin immer zum Place de la Republique gegangen, wo sich alle versammelt haben, um den Familien ihren Beistand zu zeigen. Meine Arbeit hat sich verändert. Ich habe realisiert, dass Humans of Paris wirklich ein humanes Projekt ist. Die Geschichten waren voller Gefühl. Es gab sehr viele Emotionen in Paris und auf meinem Blog."