Dieser Onkel hat seinem Neffen eine Aufgabe zugewiesen, ein "Amt", wie es heißt: er muss allen Besuchern der Bibliothek - und eben auch allen Besucherinnen -Filzpantoffeln über ihre Straßenschuhe ziehen, damit das empfindliche Parkett dieser altehrwürdigen Räumlichkeiten geschont werde. Bei dieser Betätigung entdeckt der Junge bald die Welt der weiblichen Reize. Sehr zum Missvergnügen allerdings von Fräulein Stark, der biederen und frommen Hauhälterin des Onkels, die ein Argus-Auge auf den jungen Zögling hat. So verlebt der jugendliche Erzähler einen verwirrenden Sommer zwischen neuen Sehnsüchten, Anfechtungen und Keuschheitsgelübten.
Entstanden ist diese Novelle übrigens fern ab vom Ort des Geschehens, Ende letzten Jahres. Hürlimann:
Ich bin vor einem Jahr, zu Beginn des letzten Herbst- oder Wintersemesters, nach Leipzig gekommen, ins Deutsche Literaturinstitut, als Dozent. Ich war da fremd, auch in der Stadt, auch im Institut - ich habe es betreten und sah: gleich rechts vom Eingang ist die Bibliothek. Da bin ich hineingegangen, es war ein milder Herbsttag mit einer Sonne, die schräg durch die Fenster floß, es roch leicht modrig nach Büchern, und eine sehr freundlich Bibliothekarin, frau Bayer, hat mich begrüßt. Ich war sofort zuhause. Und im gleichen Moment, als ich da drinnen stand, habe ich mich erinnert an diesen Sommer 1963. Zwei Tage später habe ich mich hingesetzt und habe die ersten Sätze geschrieben.
Mit seinem Fräulein Stark hat Hürlimann also wieder ein autobiographisch gefärbtes Buch vorgelegt: schließlich decken sich nicht nur die Lebensdaten von Autor und Erzähler - wie der junge Protagonist am Ende der Novelle für 8 Jahre in die Klosterschule muss, so hat auch Thomas Hürlimann die 60er Jahre in einem solchen katholischen Internat verbracht:
Also wir waren eine geschlossene Gesellschaft, eine reine Männergesellschaft. Und dann dürfen Sie nicht vergessen: während wir da drin waren - wir haben noch Kutten getragen -, ist die Jugend der Welt aufgebrochen, das war 1968: da haben wir dann das Rektorat besetzt, da haben wir unsere Kutten verbrannt, und ich erinnere mich gut, dass ein Klassenkollege von mir eines Tages eine Platte von den STONES aufgelegt hat und über die Anlage des Internats dröhnen ließ: "l can't get no satisfaction" und unser damaliger Präfekt hat dann gesagt: 'Jetzt ist es passiert'.
Aber auch über diese autobiographischen Parallelen hinaus enthält Hürlimanns Novelle Verweise auf das wirkliche Leben: so war das Fräulein Stark, die titelgebende Figur, tatsächlich die Haushälterin des Stiftsbibliothekars - und zwar unter selbigem Namen - . Und schließlich war Hürlimanns Onkel mütterlicherseits Bibliothekar in besagter Klosterbibliothek . Während jedoch der Autor diese beiden Figuren bereits zu Grabe getragen hat, sind ihre realen Vorbilder trotz ihres hohen Alters noch höchst lebendig. So lebendig immerhin, dass sie sich gegen ihre Darstellung in der Novelle vehement zur Wehr gesetzt haben, weil sie sich in ihrer Würde und Ehre verletzt sahen: mit einer Streitschrift bzw. Richtigstellung zog Hürlimanns leibhaftiger Onkel gegen seinen Neffen und dessen Veröffentlichung zu Felde und verhinderte Ende Juli die geplante Buchpremiere im "Röslitor", einer renomierten Buchhandlung in St. Gallen. "Zensur! Zensur!" rief daraufhin empört eine liberale Gegenöffentlichkeit. Ein Streit, der auch außerhalb des Landes für Aufsehen sorgte und die Frage aufwarf, wie nah Literatur noch lebenden Personen treten darf und wann der Schutz der Privatsphäre Vorrang hat vor der künstlerischen Freiheit.
Inzwischen haben sich die Wogen der Erregung wieder geglättet. Thomas Hürlimann jedenfalls hat die Polemik seines Onkels eher erheitert:
Er wird im Buch als Verfasser von Broschüren geschildert, und als ich dann zum ersten Mal hörte: er hat tatsächlich eine Broschüre geschrieben, da stand ich verwundert vor einem Phänomen, dass sozusagen eine Figur sich genauso benimmt wie man sie vorher beschrieben hat.
Dabei hat Hürlimanns Novelle mehr verdient als diese fast groteske Polemik. Schließlich erweist sie sich - bei aller anfänglichen Leichtigkeit - letztendlich fast als ein höchst politisches Buch: neben der Pubertätsgeschichte hat der Autor nämlich als zweiten Erzählstrang ein Stück Schweizer Geschichte eingeflochten. Dabei geht es um das jüdische Blut in den Adern des Jungen, wie es verschwiegen wird und wie er selber nach und nach seinem nicht-arischen Familienzweig auf die Spur kommt, übrigens ausgerechnet mit Hilfe eben jener Klosterbibliothek. So handelt Hürlimann in seiner Novelle die Schweizer Kriegs- und Nachkriegszeit ab und geißelt bei dieser Gelegenheit die damals noch ausgeprägte faschistoide und anti-semitische Grundhaltung bestimmter bürgerlicher Kreise. Hürlimann:
Man darf ja nicht vergessen, dass die Schweiz einen Zusammenbruch eines solchen Ungeistes nicht erlebt hat, dass bei uns solche unguten Strömungen ganz selbstverständlich weiterlaufen konnten. Und genau das versuche ich nun zu erzählen.
Es war ja zu vermuten, dass Thomas Hürlimann für diese Vergangenheitsbewältigung in seiner Heimat nicht nur Beifall bekommen würde. Jetzt aber kam Kritik aus einer ganz anderen Richtung: Im Literarischen Quartet bezichtigte Marcel Reich-Ranicki Hürlimann des Antisemitismus, und zwar weil er in seiner Novelle diese bösen alten Klischees vom ewigen Juden verwendet. Ein Vorwurf, der Hürlimann dann doch sehr erbost:
Also das würde heißen, dass man eine Figur gar nicht mehr sprechen lassen dürfte, wenn sie sich nicht politisch korrekt äußert. Das wäre das Ende, das wäre der Tod der Literatur. Wir Schriftsteller müssen die Welt so erzählen können, wie wir sie erlebt haben, wie wir sie fühlen, wie wir sie imaginieren. Und jetzt aus dem Beschriebenen sozusagen eine Haltung des Autors zu machen, das ist geradezu grotesk. Es ist tatsächlich unser Geschäft, da in die eigene Seele oder in die Vergangenheit, in die Wirklichkeit hineinzuhorchen und das so zu erzählen wie es ist.
Entstanden ist diese Novelle übrigens fern ab vom Ort des Geschehens, Ende letzten Jahres. Hürlimann:
Ich bin vor einem Jahr, zu Beginn des letzten Herbst- oder Wintersemesters, nach Leipzig gekommen, ins Deutsche Literaturinstitut, als Dozent. Ich war da fremd, auch in der Stadt, auch im Institut - ich habe es betreten und sah: gleich rechts vom Eingang ist die Bibliothek. Da bin ich hineingegangen, es war ein milder Herbsttag mit einer Sonne, die schräg durch die Fenster floß, es roch leicht modrig nach Büchern, und eine sehr freundlich Bibliothekarin, frau Bayer, hat mich begrüßt. Ich war sofort zuhause. Und im gleichen Moment, als ich da drinnen stand, habe ich mich erinnert an diesen Sommer 1963. Zwei Tage später habe ich mich hingesetzt und habe die ersten Sätze geschrieben.
Mit seinem Fräulein Stark hat Hürlimann also wieder ein autobiographisch gefärbtes Buch vorgelegt: schließlich decken sich nicht nur die Lebensdaten von Autor und Erzähler - wie der junge Protagonist am Ende der Novelle für 8 Jahre in die Klosterschule muss, so hat auch Thomas Hürlimann die 60er Jahre in einem solchen katholischen Internat verbracht:
Also wir waren eine geschlossene Gesellschaft, eine reine Männergesellschaft. Und dann dürfen Sie nicht vergessen: während wir da drin waren - wir haben noch Kutten getragen -, ist die Jugend der Welt aufgebrochen, das war 1968: da haben wir dann das Rektorat besetzt, da haben wir unsere Kutten verbrannt, und ich erinnere mich gut, dass ein Klassenkollege von mir eines Tages eine Platte von den STONES aufgelegt hat und über die Anlage des Internats dröhnen ließ: "l can't get no satisfaction" und unser damaliger Präfekt hat dann gesagt: 'Jetzt ist es passiert'.
Aber auch über diese autobiographischen Parallelen hinaus enthält Hürlimanns Novelle Verweise auf das wirkliche Leben: so war das Fräulein Stark, die titelgebende Figur, tatsächlich die Haushälterin des Stiftsbibliothekars - und zwar unter selbigem Namen - . Und schließlich war Hürlimanns Onkel mütterlicherseits Bibliothekar in besagter Klosterbibliothek . Während jedoch der Autor diese beiden Figuren bereits zu Grabe getragen hat, sind ihre realen Vorbilder trotz ihres hohen Alters noch höchst lebendig. So lebendig immerhin, dass sie sich gegen ihre Darstellung in der Novelle vehement zur Wehr gesetzt haben, weil sie sich in ihrer Würde und Ehre verletzt sahen: mit einer Streitschrift bzw. Richtigstellung zog Hürlimanns leibhaftiger Onkel gegen seinen Neffen und dessen Veröffentlichung zu Felde und verhinderte Ende Juli die geplante Buchpremiere im "Röslitor", einer renomierten Buchhandlung in St. Gallen. "Zensur! Zensur!" rief daraufhin empört eine liberale Gegenöffentlichkeit. Ein Streit, der auch außerhalb des Landes für Aufsehen sorgte und die Frage aufwarf, wie nah Literatur noch lebenden Personen treten darf und wann der Schutz der Privatsphäre Vorrang hat vor der künstlerischen Freiheit.
Inzwischen haben sich die Wogen der Erregung wieder geglättet. Thomas Hürlimann jedenfalls hat die Polemik seines Onkels eher erheitert:
Er wird im Buch als Verfasser von Broschüren geschildert, und als ich dann zum ersten Mal hörte: er hat tatsächlich eine Broschüre geschrieben, da stand ich verwundert vor einem Phänomen, dass sozusagen eine Figur sich genauso benimmt wie man sie vorher beschrieben hat.
Dabei hat Hürlimanns Novelle mehr verdient als diese fast groteske Polemik. Schließlich erweist sie sich - bei aller anfänglichen Leichtigkeit - letztendlich fast als ein höchst politisches Buch: neben der Pubertätsgeschichte hat der Autor nämlich als zweiten Erzählstrang ein Stück Schweizer Geschichte eingeflochten. Dabei geht es um das jüdische Blut in den Adern des Jungen, wie es verschwiegen wird und wie er selber nach und nach seinem nicht-arischen Familienzweig auf die Spur kommt, übrigens ausgerechnet mit Hilfe eben jener Klosterbibliothek. So handelt Hürlimann in seiner Novelle die Schweizer Kriegs- und Nachkriegszeit ab und geißelt bei dieser Gelegenheit die damals noch ausgeprägte faschistoide und anti-semitische Grundhaltung bestimmter bürgerlicher Kreise. Hürlimann:
Man darf ja nicht vergessen, dass die Schweiz einen Zusammenbruch eines solchen Ungeistes nicht erlebt hat, dass bei uns solche unguten Strömungen ganz selbstverständlich weiterlaufen konnten. Und genau das versuche ich nun zu erzählen.
Es war ja zu vermuten, dass Thomas Hürlimann für diese Vergangenheitsbewältigung in seiner Heimat nicht nur Beifall bekommen würde. Jetzt aber kam Kritik aus einer ganz anderen Richtung: Im Literarischen Quartet bezichtigte Marcel Reich-Ranicki Hürlimann des Antisemitismus, und zwar weil er in seiner Novelle diese bösen alten Klischees vom ewigen Juden verwendet. Ein Vorwurf, der Hürlimann dann doch sehr erbost:
Also das würde heißen, dass man eine Figur gar nicht mehr sprechen lassen dürfte, wenn sie sich nicht politisch korrekt äußert. Das wäre das Ende, das wäre der Tod der Literatur. Wir Schriftsteller müssen die Welt so erzählen können, wie wir sie erlebt haben, wie wir sie fühlen, wie wir sie imaginieren. Und jetzt aus dem Beschriebenen sozusagen eine Haltung des Autors zu machen, das ist geradezu grotesk. Es ist tatsächlich unser Geschäft, da in die eigene Seele oder in die Vergangenheit, in die Wirklichkeit hineinzuhorchen und das so zu erzählen wie es ist.