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Frédéric Lordon: "Aktionärsdemokratie als soziale Utopie? Über das neue Finanzregime und Wirtschaftsdemokratie".

Die strukturelle Arbeitslosigkeit, bei uns gerade knapp unter der 5 Millionen Grenze angekommen, bringt allerhand Ideen zu ihrer Beseitigung hervor, Ideen allerdings, die sich meistens als Luftnummern entpuppen. Versprochene neue Arbeitsplätze erweisen sich nicht selten als schlechtbezahlte Jobs, gepriesene Selbstständigkeit als Sprung in die Pleite und wenn tatsächlich einmal in nennenswertem Umfang neue Arbeit winkt, werden anderswo massenhaft Arbeitsplätze wegrationalisiert. Eine zeitlang galt die Aktie als neue Wunderwaffe der Volkswirtschaft. Nicht mehr nur Arbeit , sondern an der Börse gehandelte Unternehmensanteile und die Dividenden darauf sollten ein Einkommen garantieren. Und nicht nur das: das Problem der Gerechtigkeit, des Widerspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital sollte elegant gelöst werden. Von Aktionärsdemokratie war die Rede, als soziale Utopie wurde sie gar gehandelt. Der französische Gesellschaftswissenschaftler Frédéric Lordon hat sich dieser Versprechen angenommen.

Birgid Becker | 17.03.2003
    Die strukturelle Arbeitslosigkeit, bei uns gerade knapp unter der 5 Millionen Grenze angekommen, bringt allerhand Ideen zu ihrer Beseitigung hervor, Ideen allerdings, die sich meistens als Luftnummern entpuppen. Versprochene neue Arbeitsplätze erweisen sich nicht selten als schlechtbezahlte Jobs, gepriesene Selbstständigkeit als Sprung in die Pleite und wenn tatsächlich einmal in nennenswertem Umfang neue Arbeit winkt, werden anderswo massenhaft Arbeitsplätze wegrationalisiert. Eine zeitlang galt die Aktie als neue Wunderwaffe der Volkswirtschaft. Nicht mehr nur Arbeit , sondern an der Börse gehandelte Unternehmensanteile und die Dividenden darauf sollten ein Einkommen garantieren. Und nicht nur das: das Problem der Gerechtigkeit, des Widerspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital sollte elegant gelöst werden. Von Aktionärsdemokratie war die Rede, als soziale Utopie wurde sie gar gehandelt. Der französische Gesellschaftswissenschaftler Frédéric Lordon hat sich dieser Versprechen angenommen.

    : Die Frage im Titel ist eine rein rhetorische. "Aktionärsdemokratie als soziale Utopie – Fragezeichen – titelt Frederic Lordon, und dass er, Kapitalismuskritiker, früherer Mitstreiter des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, nun keinerlei Heilserwartungen an das Geschehen auf dem Börsenparkett richtet, überrascht nicht. Es hat noch keinen linken oder neomarxistischen Theoretiker – sei er Soziologe, Ökonom oder Politologe - gegeben, der dem Finanzinstrument 'Aktie’ viel abzugewinnen wusste. Und was als Instrument nicht taugt, die Aktie, kann nun schwerlich Positives generieren – Demokratie etwa. Der Überraschungseffekt muss also zwangsläufig klein bleiben.

    Wenn die Titelfrage beantwortet werden soll, dann mit einem zweifachen Nein. Nein – aus einer "Aktionärsdemokratie" erwächst keine soziale Utopie, sondern ein gesellschaftspolitisches Desaster, meint Lordon zum ersten . Und ein zweites, gleichsam noch davor geschaltetes Nein meint: eine "Aktionärsdemokratie", ein demokratisches Gebilde der Aktienbesitzer, kann es ohnedies gar nicht geben. Im Jahr 2000, aus diesem Jahr stammt das französische Original, die deutsche Übersetzung ließ drei Jahre auf sich warten, im Jahr 2000 sieht Frederic Lordon das französische Wirtschaftssystem an einem Scheideweg – noch nicht vollends in den Bahnen des US-amerikanischen Finanzmarktsystems, aber doch auf dem Weg dahin. Im Sog des US-Kapitalmarktes beobachtet Lordon, beginnend in den Achtzigern, eine zunehmende Deregulierung der Finanzmärkte, parallel dazu, so wörtlich, eine "Konzentration der Kollektivspartätigkeit" – vulgo: Anleger zieht es verstärkt in Fondsanlagen, deren Marktposition auf diese Weise stärker wird. Für sich genommen benennt Lordon damit recht unspektakuläre Phänomene, denen er jedoch eine geradezu umwälzende Wirkung zuschreibt.

    Der springende Punkt (ist), dass die Finanzwirtschaft das Erscheinungsbild der Gesellschaft von Grund auf verändern könnte.

    : Und mit dem Gestus des Mahners heißt es weiter:

    Die sich abzeichnenden Veränderungen sind so tief greifend, dass man sich schon die Zeit nehmen sollte, zweimal darüber nachzudenken. Man sollte auch nicht gedankenlos zusehen, wie sich Reformen und Ereignisse abspulen, die hinter dem Rücken der Betroffenen die Gesellschaft in eine Zukunft führen, in der sich alles um den Vermögensbesitz dreht, und aus der die Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit verändert hervorgehen wird.

    : Dem trotz aktueller Börsen-Baisse im Kern immer noch intakten Markt-Enthusiasmus in weiten Kreisen der Öffentlichkeit erteilt Lordon eine gründliche Absage, genauer: mehrere Absagen auf den vielfältigsten Ebenen des Finanzmarktgeschehens. Die Unternehmen, die Anleger, die Volkswirtschaft als Ganzes – nach Lordons Darstellung, die zum Teil vom Detailreichtum eines wirtschaftswissenschaftlichen Proseminars ist, gibt es im Reigen der Finanzmarktakteure keine einzige Partei, die uneingeschränkt Nutznießer ist.

    Nicht die Unternehmen, weil sie unter dem Druck der von ihnen verlangten Wertschöpfungsprinzipien ihre Unternehmensführungen normieren und sich irrationalen Bewertungskriterien unterwerfen müssen. Nicht die Anleger, die sich vor allem dann, wenn sie Lohnanteile in Aktienanteile an ihren Unternehmen wandeln, die Risiken des Marktes aufbürden lassen. Nicht unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten sei das deregulierte Finanzmarktgeschehen von Segen, meint Lordon, denn ein seiner Natur nach instabiler Finanzmarkt lasse sich nicht von der Sphäre der Realwirtschaft trennen. Einfacher ausgedrückt: Stimmt es an den Wertpapierbörsen nicht mehr, werden früher oder später auch die börsenfernen Wirtschaftsbereiche leiden – mit dieser These bestätigt Lordon Befürchtungen, wie sie gerade jetzt wieder, im Zeichen der aktuellen Börsenbaisse, kursieren. Gleichwohl gibt sich Lordon nicht als Apologet eines alsbald zu erwartenden, finalen Börsenbebens: Etliche 'Wenns’ stellt er der Apokalypse voran:

    … "wenn in der Zwischenzeit kein institutioneller Lernprozess einsetzt, wenn keine verlässlichen Sicherheitsvorkehrungen zur Überwachung der Finanzmärkte gefunden werden, wenn der Wachstumsglaube an die Märkte hoffnungslos zerstört ist, wenn die Geldpolitik von den Ereignissen überrollt wird, wenn die Verlagerungseffekte hin zu einer sicheren Anlage keine makroökonomische Lösung mehr bieten …

    : Wenn all dies einträte, dann allenfalls sieht Lordon das Jahr 1929, das Jahr des großen Börsenkrachs, heraufdämmern, und er gesteht zu:

    Das ist allerdings eine lange Kette von Bedingungen. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass dies gleichzeitig eintrifft nicht zwingend ist, sind diese Annahmen nicht unrealistisch. Die Apokalypse ist im wahrsten Sinne des Wortes kontingent: Dass sie hereinbricht, ist weder zwangsläufig noch unmöglich.

    : Lässt er sich denn auf Lordons Gedankenwelt ein, dann wird dem Leser nach gut drei Vierteln der Lektüre ein Gegenbild zu jener Börsenwelt aufgezeigt, die Wirtschaftszeitungen oder Anlegermagazine präsentieren. Einen Kontrapunkt zum Herkömmlichen zu liefern – das allein spricht durchaus für dieses Buch, und vielleicht ist der Frustrationspegel des einen oder anderen Telekom-Aktionärs hoch genug geklettert, um mit einer derart konträren Sicht der Dinge in Fühlung zu gehen. Schwer aber macht es Lordon all den Lesern, die sich nach drei Vierteln der Lektüre immer noch an den Titel erinnern – war da nicht der Begriff Demokratie gefallen? Aktionärsdemokratie? Abgesehen von einigen Einsprengseln zuvor, ist auf Lordons Gedanken zur Aktionärsdemokratie tatsächlich bis zum fünften und letzten Kapitel zu warten.

    Womöglich muss der Leser sich so lange gedulden, weil dies letzte Kapitel auch den Kampf im eigenen Lager berührt. Schließlich ist die Vorstellung, dass sich über eine Stärkung der Rolle von Aktionären der ersehnten gerechteren Teilhabergesellschaft näher kommen ließe, eine Vision, die auch in linken Kreisen gehegt wird. Ihre Blütezeit haben diese Träume von der Aufhebung der Trennung von Arbeit und Kapital via Aktie allerdings bereits hinter sich, Lordons Philipika wider eine falsche Aktienromantik ist fast schon Allgemeingut.

    Brisanter aber wird Lordons Ablehnung der Aktie als Demokratisierungsvehikel, wenn er die Brücke zum Pensionsfonds herstellt. In Frankreich schon etablierter, hat diese Anlageform als betriebliche Sparform für das Alter in Deutschland ja gerade erst ihren Startschuss erhalten – und sie ist in Lordons Augen geradezu prädestiniert für falsche Romantik, weil ihr das positive Attribut eines Gesellschaftsprojektes angeheftet wird. Da geht es um die Rettung der Renten und nicht zuletzt, wie es die ersten betrieblichen Sparformen in Deutschland zeigen, geht es auch darum, die Fonds mit besonderen ethischen Kriterien auszustatten. Lordon erteilt gleichermaßen dem versprochenen Demokratiemehrwert wie dem ethischen Nutzen eine Absage:

    Man muss die Dinge sehen, wie sie sind. Die Durchsetzung jeder noch so wünschenswerten politisch-ethischen Klausel belastet zwangsläufig die wirtschaftliche Rentabilität des Unternehmens. Und wenn sich andererseits einige Fälle von Unternehmen finden, die ethisch verantwortungsvoll handeln und gleichzeitig realwirtschaftliche Rentabilitätsraten vorweisen können, die über dem Branchenschnitt liegen, dann fällt das unter die Rubrik 'die Besten können sich das leisten’.

    : In keiner Aufmachung also, auch nicht im ethischen Gewand, finden der Finanzmarkt, seine Akteure, seine Erscheinungsformen Gnade vor den Augen Lordons. Seine Kritik ist absolut und damit, leider, auch überraschungsarm. Allerdings: Was die Streitschrift Frederic Lordons dennoch lesenswert macht, auch außerhalb globalisierungs- und kapitalismuskritischer Kreise, ist ihr konsequentes Wider-den-Strich-Bürsten ökonomischer Mehrheitsmeinungen. Und ein dissonanter Ton hat im Gleichklang der Börsenbriefe, Anlegerzeitungen und Wirtschaftsmagazine seinen Reiz.

    Birgid Becker war das über Frédéric Lordon: Aktionärsdemokratie als Soziale Utopie? Übersetzt von Martina Wörner und Axel Eberhardt, erschienen beim VSA-Verlag. Das Buch hat 127 Seiten und kostet 12,00 €.