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Freier Flug über dem Mittelmeer

Technik. - Um den Luftverkehr sicher zu machen, ist der Himmel ist unterteilt in Kästchen und Korridore – und die Fluglotsen am Boden entscheiden, wer wann und wo hinein fliegen darf. Ein neues Konzept räumt den Piloten indes wieder mehr Autonomie ein - für mehr Flüge und mehr Sicherheit.

Von Ralf Krauter | 07.07.2008
    Zwischen Barcelona und Zypern einfach mal der Nase nach fliegen? Was nach verlockender Freiheit der Lüfte klingt, könnte tatsächlich Wirklichkeit werden. Autonomes freies Fliegen über dem Mittelmeer, so heißt das Konzept, das Luftverkehrsexperten derzeit entwickeln. Es sieht vor, dass Piloten über dem Südrand Europas künftig selbst entscheiden, wo’s langgeht.

    "Wenn sie heute über dem Mittelmeer fliegen, werden sie permanent vom Boden angewiesen, welchen Kurs sie nehmen sollen. Das ist, als ob sie im Auto sitzen, die Augen schließen und darauf warten, dass ihnen jemand per Funk sagt, wohin sie fahren sollen. Wäre so ein ähnlich dichter Verkehr möglich wie heute? Natürlich nicht! Viele Experten glauben deshalb: Wenn man auch den Piloten erlaubt, ihren Kurs selbst zu bestimmen, könnte man dichteren Flugverkehr haben, ohne die Sicherheit zu gefährden."

    Mehr Flüge ermöglichen, ohne mehr Zusammenstöße zu riskieren – das ist die große Herausforderung vor der die Flugsicherung steht. In den USA und Europa werden deshalb neue Konzepte erarbeitet, erklärt Henk Blom vom niederländischen Luftfahrtforschungszentrum in Amsterdam.

    "Das Ziel ist in beiden Fällen dasselbe: Man will die Zahl der Flugbewegungen innerhalb der nächsten 20 Jahre verdoppeln."

    Das geht nur, indem man den Fluglotsen Routinetätigkeiten abnimmt, damit sie sich besser auf die wirklich kritischen Regionen des Luftraumes konzentrieren können. Und genau das ist das Ziel des EU-Konzepts zum freien Flug über dem Mittelmeer. Dort sollen die Cockpit-Besatzungen ihre Route künftig einfach selbst wählen dürfen, ohne auf Kommandos vom Tower warten zu müssen. Um Kollisionen mit anderen Frei-Fliegern zu vermeiden, bekommen die Piloten – sobald ihnen eine andere Maschine in die Quere kommt - auf einem Display automatisch jeweils drei mögliche Ausweichoptionen angezeigt: Also etwa abdrehen nach rechts oder links, steigen oder sinken. Was die Piloten dann machen, ist ihre Sache. Um zu testen, ob soviel Autonomie gut gehen kann, hat Henk Blom mögliche Konfliktszenarien zunächst im Flugsimulator durchspielen lassen.

    "Die Piloten waren anfangs sehr skeptisch. Das funktioniert doch nie, dachten die meisten. Als sie wieder herauskamen, waren sie überrascht, wie gut alles geklappt hatte. Aber dass uns etwas sicher erscheint, heißt ja nicht, dass es auch wirklich sicher ist. Deshalb haben wir mathematische Modelle entwickelt, die das Ganze im Rechner simulieren."

    Henk Blom ließ den Computer alle erdenklichen Flugzeugbegegnungen durchspielen - mit zufällig gewählten Reaktionen der beteiligten Piloten. Bei einem der Standard-Szenarien fliegen acht Maschinen aus unterschiedlichen Richtungen auf denselben Punkt zu: Blaue Geraden auf dem Bildschirm, die kurz vor dem Crash abdrehen und die Kollisionszone in einem Bogen umfliegen. Das Resultat sind Millionen komplexer Choreographien von Flugbahnen, von denen sich manche gefährlich nahe kommen. Wie häufig solche Extremereignisse sind, ist für Henk Blom ein Gradmesser für die Sicherheit des Freiflug-Konzeptes. Sein Fazit: Bei dem geringen Verkehrsaufkommen über dem Mittelmeer ließe sich das Ganze tatsächlich einführen, ohne mehr Unfälle zu riskieren.

    "Wir haben aber auch untersucht, inwieweit der autonome Freiflug für sehr viele Flugzeuge auf engem Raum taugt. Denn was wir mittelfristig anstreben, ist ja ein europaweit einheitliches Flugsicherungskonzept, das auch in den stark frequentierten Bereichen des Luftraumes funktioniert."

    Ob mehr Autonomie für die Piloten auch dort eine gute Idee wäre, ist unter Fachleuten umstritten. Henk Bloms aktuelle Sicherheitsanalyse gibt den Zweiflern recht: Wer den Piloten zum Beispiel im Luftraum über dem Frankfurter Flughafen mehr Freiheit gäbe, müsste mehr kritische Situationen als heute in Kauf nehmen. Weil das keiner will, dürfte die Freiheit über den Wolken künftig wohl bestenfalls in wenig beflogenen Gebieten wieder Einzug halten.