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Freier Markt und starker Staat

In Zeiten der Krise riecht es ein wenig nach Klassenkampf. Klarer Fall: Wir da unten sollen dafür zahlen, weil die da oben unverschämt geprasst haben. Ungerecht. Aber wie ungerecht geht es wirklich zu? Und wie viel Gerechtigkeit ist machbar ohne das es dabei an die Substanz der Freiheit geht. Eine Frage, die die deutschen Top-Ökonomen Michael Hüther und Thomas Straubhaar zu beantworten versuchen.

Von Christoph Birnbaum |
    Einen Leser hat dieses Buch bestimmt: Karl-Theodor zu Guttenberg. Der neue Bundeswirtschaftsminister stimmt bereits jetzt schon sehr eloquent das Hohe Lied der Ordnungspolitik an - auch wenn die Zeiten scheinbar alles andere als danach sind, Wirtschaftspolitik nach dem Lehrbuch zu machen. Und doch kriegt er jetzt publizistische Schützenhilfe von Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, und seinem Kollegen, Thomas Straubhaar vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut. Beide Wissenschaftler beklagen, dass vor allem in den Endlos-Schleifen der Talkshows im Fernsehen zwar erbittert über Fragen der "sozialen Gerechtigkeit" gestritten und fleißig schwadroniert wird, aber am Ende stets Emotionen, Polemik, populistische Anklagen und vor allem "gefühlte Ängste" triumphieren:

    Wie aber kommt es eigentlich, dass der gesellschaftliche Diskurs seit einigen Jahren dazu neigt, in dieser auffälligen Weise "das Gefühl" zu betonen? Liegt nicht der Verdacht nahe, dass damit ein inhaltliches und intellektuelles Vakuum gefüllt werden soll? Die medial inszenierte Debatte über "gefühlte" Gerechtigkeitsdefizite, auf die sich Politiker selbst in Kenntnis gegenteiliger Tatsachen berufen, macht deutlich, wie tief inzwischen die Verunsicherung sitzt. Wir meinen, dass in den letzten Jahren vor allem in der Wirtschaftspolitik ein Orientierungs- und Führungsvakuum entstanden ist.
    Das wird der neue Bundeswirtschaftsminister wahrscheinlich nicht so gerne lesen. Aber dass heute die Marktwirtschaft mehr denn je öffentlich beworben und verteidigt werden muss, würde auch er sagen. Zu sehr bröckelt - vor allem im Osten - die Zustimmung zu ihr. Hüther und Straubhaar, die beide auch selbst seit langem Teil des bundesdeutschen Medienbetriebs sind, machen sich deshalb in gewohnt klarer Weise für die soziale Marktwirtschaft stark, obwohl auch sie unter dem Eindruck der gegenwärtigen Ereignisse zugeben müssen:

    Es gibt nichts schönzureden: Die Verstaatlichung privater Risiken und die gigantischen, letztlich durch den Steuerzahler finanzierten und mit der Gießkanne über Banken und Versicherungen ausgegossenen Staatshilfen sind eine Bankrotterklärung für die Marktwirtschaft. So kann Marktwirtschaft nicht funktionieren. Nicht, wenn man ernst nimmt, was im neoliberalen Lehrbuch steht.
    Und dort, bei Walter Eucken und Alexander Rüstow, den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft, haben Straubhaar und Hüther nachgeschlagen und deren Botschaften in die heutige Zeit übersetzt. So ist das Marktversagen von heute für beide Autoren in erster Linie eine Folge des Staatsversagens von gestern - vor allem in den USA, wo eine extrem expansive Geldpolitik der US-Notenbank mit Niedrigzinsen für allzu viel Liquidität auf den Finanzmärkten gesorgt hat. Aber Krisen, selbst wenn sie globale Ausmaße annehmen, sind für Hüther und Straubhaar, ähnlich wie US-Präsident Obama dies in seiner ersten Rede zur Lage der Nation gesagt hat, nur Zwischenstopps auf dem Weg des Fortschritts von guten zu besseren Lösungen:
    Krisen helfen, aus Fehlern zu lernen und künftig klüger zu handeln - nicht weniger, aber auch nicht mehr. Kein anderes Wirtschaftssystem ist hierbei erfolgreicher als der Kapitalismus und hat trotz aller Krisen stets zu mehr Wohlstand für mehr Menschen geführt.
    Das heute öffentlich zu sagen bedarf trotzdem eines gewissen Muts. Vor allem aber auch eines ungebrochenen Zukunftsoptimismus. Dass dabei aber ausgerechnet der Staat die Marktwirtschaft vor ihren eigenen Exzessen retten muss, ist für die Autoren kein Widerspruch:

    Die Rückkehr des Staates und die Re-Regulierung der Märkte müssen nicht das Ende der Marktwirtschaft bedeuten. Denn Staat und Markt sind längst nicht die unversöhnlichen Gegensätze, zu denen sie immer wieder gemacht werden. Im Gegenteil: Ein freier Markt bedarf eines starken Staates.
    Aber keinesfalls einer omnipotenten Umverteilungsagentur. Oberstes Ziel des Staates sollte deshalb, so die Autoren, mehr Leistungs- und Chancengerechtigkeit und nicht etwa mehr Verteilungsgerechtigkeit sein. Doch woran liegt es, dass die öffentliche Zustimmung zu marktwirtschaftlicher Freiheit schnell sinkt, wenn persönlicher Wohlstand und gefühlte Gerechtigkeit spürbar unter Druck geraten? Hüther und Straubhaar versuchen sich mit einer Antwort:

    Es liegt unseres Erachtens daran, dass der Mensch seine Freiheit nicht einfach hat, sondern sie ständig erringen - und vor allem - nutzen muss. Der Kampf gegen soziale Abstiegsängste beginnt bei der Bildung und nicht beim Streit um Mindestlöhne oder um die angeblichen Zumutungen von Hartz IV.
    Das setzt wiederum Menschen - mündige Bürger - als bewusste Marktteilnehmer und Konsumenten voraus, die auch eine weitere Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft in Zukunft zu akzeptieren bereit sind.

    Wir müssen Ungleichheit aushalten, wenn wir Freiheit wollen. Und: Wir können Ungleichheit aushalten, wenn wir die Ratio der Ordnungspolitik zeitgemäß ernst nehmen. Ein Dreisatz bestehend aus "Wettbewerb sichern", "Teilnahmechancen eröffnen" und "Marktversagen korrigieren" hilft besser als jede Alternative, um das Ziel "mehr Wohlstand für alle" zu erreichen.
    Ob aber ein solcher Freiheitsbegriff, der alles andere als bequem ist, und der am Ende bei Hüther und Straubhaar sogar in einen neuen "Gesellschaftsvertrag" zwischen Staat und Bürger münden soll, wirklich das Allheilmittel ist, mag man dann doch sehr stark bezweifeln. Wahrscheinlich trennen sich hier professorale Wahrnehmung und wissenschaftliches Denken vom schnöden Alltag der Politik. Den Hunderttausenden von Kurzarbeitern bei Daimler, Opel, BMW & Co., die sich Sorge um ihre Jobs machen, dürfte diese Quintessenz nicht genügen. Doch eine mutige Streitschrift, die versucht, Schneisen der Orientierung in eine orientierungslose Zeit zu schlagen, ist das Buch allemal.

    Die gefühlte Ungerechtigkeit - Warum wir Ungleichheit aushalten müssen, wenn wir Freiheit wollen. Das Buch von Michael Hüther und Thomas Straubhaar ist bei Econ erschienen, hat 270 Seiten und kostet 19 Euro 90.