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Freundschaft. Ein philosophischer Essay

Es tut sich was auf dem Büchermarkt. Themen, die noch vor wenigen Jahren unter populärer "Lebenshilfe" abgehakt wurden, stehen jetzt in den seriösen Regalen. Jüngstes Beispiel: die Freundschaft. Warum dieses wachsende theoretische Interesse an der Freundschaft? Wohl weil immer mehr Menschen die Erfahrung machen, dass moderne "Freiheit", die viel gerühmte, die Auflösung traditioneller Bindungen mit sich bringt und dies "grundsätzlich die Lebensmöglichkeit eines ungewollten Alleinseins" bedeuten kann. Anders als das gewollte Alleinsein birgt das ungewollte nicht etwa den erhofften Rückzug auf sich und Wiederfinden des Selbst in der Einsamkeit in sich. Und wahrscheinlich muss man sagen, dass immer mehr Menschen vom gewollten ins ungewollte Alleinsein abgleiten. So wird, was sie sich ersehnten, unverhofft zu einer schrecklichen Erfahrung. Harald Lemke, frisch promovierter Philosoph, sieht in der sozialen Vereinsamung, in die viele driften, den Grund dafür, dass die frei gewählte Beziehung schlechthin, die Freundschaft, wieder stärker ins Blickfeld rückt.

Wilhelm Schmid | 19.07.2000
    Freundschaft gehörte seit jeher in den verschiedensten philosophischen Schulen zur Lebenskunst; sie war ein unverzichtbarer Bestandteil des schönen, bejahenswerten Lebens. "Die Freundschaft tanzt rings um den Erdkreis", jubelt Epikur in seinen "Weisungen" sogar, "ja sie heisst uns alle aufwachen zur Seligpreisung." Aber in der Tat hat die Freundschaft grundlegende Bedeutung für jegliche Ethik, darauf macht Lemke in seinem Buch über die Freundschaft aufmerksam: Ob Beziehungen zwischen Menschen überhaupt eingegangen, wie sie gestaltet und gut gestaltet werden können, das lässt sich vor allem hier erlernen und einüben. "Gut" meint dabei: Frei, gleich, solidarisch, mit ebensolcher Aufmerksamkeit und Achtung für Andere wie für sich selbst. Wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität sich verwirklichen lassen, wie schwierig das auch sein kann und wie sich dennoch Formen des gemeinsamen Lebens finden lassen, das erfährt man in der Freundschaft, wenn jeder unangemessene Egoismus sich von selbst relativiert.

    Damit ist Freundschaft ein Teil der Gestaltung von Gesellschaft, die von Grund auf durch uns selbst geschieht, durch die Gestaltung unserer Beziehungen. Das heisst nicht etwa, davon zu träumen, die gesamte Gesellschaft könnte nur aus Freundschaftsbeziehungen bestehen. Es gibt auch andere Formen von Beziehungen, und es wird sie immer geben. Uns wird jedoch nun klarer, dass, wie Lemke sagt, "die vermeintlich unbedeutende Aufgabe der alltäglichen Gestaltung des eigenen Soziallebens" unverzichtbar für das Zustandekommen von Gesellschaft ist. Und erst recht bedarf ein erfülltes Leben der engen Beziehungen zu Anderen, ihrer Nähe und Zuwendung. Die lassen sich nicht erzwingen, aber erarbeiten und erzeugen, mit der eigenen Bereitschaft dazu und mit existenzieller Investition.

    Was meinen wir, wenn wir jemanden als "lieben Freund" ansprechen? Handelt es sich in all diesen Fällen wirklich um einen Freund, oder ist das nur so dahin gesagt? Vielleicht sollten wir überlegen, was die verschiedenen Arten von Freundschaft sind und wie wir sie unterscheiden können. Die theoretischen Überlegungen können als Instrument dazu dienen, die praktischen Erfahrungen zu reflektieren und das eigene Handeln gegebenenfalls neu zu orientieren. Denn in Frage steht sehr wohl, ob der Freundschaft mehr Bedeutung im individuellen und gesellschaftlichen Leben gegeben werden kann, um die eigene Seele berühren zu lassen von Anderen, und umgekehrt wiederum sie zu berühren. Warum? Weil dies einen unvergleichlichen Reichtum von Selbst und Welt vermittelt und eine tiefe Erfahrung darstellt, ein gemeinsames Wohnen in Vertrautheit, so sehr, dass man sagen muss: Das Selbst bleibt arm und verzweifelt einsam, wenn es nur für sich lebt. Die Tätigkeit des "Freundens", Freunde zu gewinnen und Freundschaft zu pflegen, für die Harald Lemke eigens dieses neue Wort vorschlägt, hat so große Bedeutung, dass ihr auch entsprechende Aufmerksamkeit im eigenen Lebensvollzug zukommen sollte.

    Ein Füllhorn neuer Begriffe schüttet der Autor in seinem Buch aus, fast zu viele, als dass man sie im Einzelnen noch wahrnehmen könnte. Es ist ausserordentlich begrüßenswert, dass es in der Philosophie wieder Anstrengungen gibt, Freundschaft als ethisches Thema zu begreifen. Wünschenswert wäre lediglich, dem breiten öffentlichen Interesse auch sprachlich ein wenig entgegenzukommen, vor allem bei einem solchen Buch, das wirklich alle Aspekte und Facetten der Freundschaft vor unseren Augen ausbreitet. Dem Autor liegt dabei sehr daran, Freundschaft nicht wie in vergangenen Zeiten zu idealisieren, um ihr reales Zustandekommen wahrscheinlicher zu machen. Das Idealbild ist hier eher die wirkliche Praxis, die immer wieder theoretisch überdacht wird, um sie korrigieren zu können. Es handelt sich um eine veritable Theorie der Freundschaft, die einzige, die auf dem Markt der Ideen verfügbar ist. Für die Praxis freilich müssen wir selber sorgen.