Damit ist Freundschaft ein Teil der Gestaltung von Gesellschaft, die von Grund auf durch uns selbst geschieht, durch die Gestaltung unserer Beziehungen. Das heisst nicht etwa, davon zu träumen, die gesamte Gesellschaft könnte nur aus Freundschaftsbeziehungen bestehen. Es gibt auch andere Formen von Beziehungen, und es wird sie immer geben. Uns wird jedoch nun klarer, dass, wie Lemke sagt, "die vermeintlich unbedeutende Aufgabe der alltäglichen Gestaltung des eigenen Soziallebens" unverzichtbar für das Zustandekommen von Gesellschaft ist. Und erst recht bedarf ein erfülltes Leben der engen Beziehungen zu Anderen, ihrer Nähe und Zuwendung. Die lassen sich nicht erzwingen, aber erarbeiten und erzeugen, mit der eigenen Bereitschaft dazu und mit existenzieller Investition.
Was meinen wir, wenn wir jemanden als "lieben Freund" ansprechen? Handelt es sich in all diesen Fällen wirklich um einen Freund, oder ist das nur so dahin gesagt? Vielleicht sollten wir überlegen, was die verschiedenen Arten von Freundschaft sind und wie wir sie unterscheiden können. Die theoretischen Überlegungen können als Instrument dazu dienen, die praktischen Erfahrungen zu reflektieren und das eigene Handeln gegebenenfalls neu zu orientieren. Denn in Frage steht sehr wohl, ob der Freundschaft mehr Bedeutung im individuellen und gesellschaftlichen Leben gegeben werden kann, um die eigene Seele berühren zu lassen von Anderen, und umgekehrt wiederum sie zu berühren. Warum? Weil dies einen unvergleichlichen Reichtum von Selbst und Welt vermittelt und eine tiefe Erfahrung darstellt, ein gemeinsames Wohnen in Vertrautheit, so sehr, dass man sagen muss: Das Selbst bleibt arm und verzweifelt einsam, wenn es nur für sich lebt. Die Tätigkeit des "Freundens", Freunde zu gewinnen und Freundschaft zu pflegen, für die Harald Lemke eigens dieses neue Wort vorschlägt, hat so große Bedeutung, dass ihr auch entsprechende Aufmerksamkeit im eigenen Lebensvollzug zukommen sollte.
Ein Füllhorn neuer Begriffe schüttet der Autor in seinem Buch aus, fast zu viele, als dass man sie im Einzelnen noch wahrnehmen könnte. Es ist ausserordentlich begrüßenswert, dass es in der Philosophie wieder Anstrengungen gibt, Freundschaft als ethisches Thema zu begreifen. Wünschenswert wäre lediglich, dem breiten öffentlichen Interesse auch sprachlich ein wenig entgegenzukommen, vor allem bei einem solchen Buch, das wirklich alle Aspekte und Facetten der Freundschaft vor unseren Augen ausbreitet. Dem Autor liegt dabei sehr daran, Freundschaft nicht wie in vergangenen Zeiten zu idealisieren, um ihr reales Zustandekommen wahrscheinlicher zu machen. Das Idealbild ist hier eher die wirkliche Praxis, die immer wieder theoretisch überdacht wird, um sie korrigieren zu können. Es handelt sich um eine veritable Theorie der Freundschaft, die einzige, die auf dem Markt der Ideen verfügbar ist. Für die Praxis freilich müssen wir selber sorgen.