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Friedensnobelpreis an Nadia Murad
Den Jesidinnen eine Stimme geben

Verschleppt, gefoltert, vergewaltigt: Viele jesidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak haben den Terror des IS nur knapp überlebt - darunter auch Nadia Murad. Ihr Einsatz gegen sexuelle Gewalt an Frauen als Waffe im Krieg wurde heute mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.

Von Uschi Götz | 10.12.2018
    Preisträgerin Nadia Murad spricht bei der Friedensnobelpreisverleihung in Oslo im Osloer Rathaus.
    Feierliche Zeremonie in Oslo: Nadia Murad engagiert sich als UN-Sonderbotschafterin für die Opfer von Menschenhandel und sexueller Gewalt (picture alliance / Haakon Mosvold Larsen)
    Nadia Murad und mit ihr viele jesidische Frauen und Kinder sind durch die Hölle gegangen. In einer Dokumentation des bayerischen Rundfunks sagte Nadia Murad.
    "Der IS hat mir eine Lektion erteilt, ich habe gelernt, was ich zu sagen habe. Manchmal erinnere ich mich an die Zeit vor 2014, als der IS kam. Ich war damals ein Kind, ich war ein Kind. Ich wusste nichts von alledem, aber der IS hat mir beigebracht, was ich heute sage."
    Opfer schwer traumatisiert
    44 Angehörige der jungen Frau haben IS Terroristen ermordet, darunter ihre Mutter und sechs Brüder. Im Sommer 2014 wurde sie aus ihrem Heimatdorf Kocho, nahe der nordirakischen Stadt Sindschar verschleppt, gefoltert und monatelang in Gefangenschaft vergewaltigt.
    Professor Jan Ilhan Kizilihan, Psychologe und Orientalist, gilt international als Experte in den Bereichen Transkulturelle Psychiatrie und Traumatologie. Anfang 2015 untersuchte er im Nordirak Frauen und Kinder, die dem IS entkommen konnten.
    "Junge Frauen, gerade so 14, 15, sogar jünger, die jüngste, die ich untersucht habe, war acht Jahre, die mehrfach vergewaltigt worden ist."
    Kizilihan, der an einer Hochschule lehrt und in Bodenseenähe eine Klinik leitet, gehört zu einem Team, das im Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung 1. 000 Frauen und Kinder im Rahmen eines Sonderkontingents nach Deutschland holte. Schwer traumatisierte Menschen, wie diese Mutter.
    "Der Ehemann und die gesamte Familie, auch (der) Großvater wurden vor ihren Augen erschossen worden, sind exekutiert worden gleich bei der Gefangenschaft. Sie wurde mehrfach vergewaltigt und ihre zweijährige Tochter ist nach mehreren Wochen von Folter durch einen IS-Kämpfer so umgebracht worden, dass er ihr das Rückgrat gebrochen hat. Ein zweijähriges Mädchen."
    21 Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg haben in der Folge traumatisierte Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufgenommen. Unter ihnen auch Nadia Murad, die dem baden-württembergischen Team bereits in einem Flüchtlingslager aufgefallen ist.
    "Nadia Murad hatte schon im Irak gefragt, ob sie schweigen muss in Deutschland. Das weiß ich noch, weil ich erst einmal verblüfft war, und dann ihr gesagt hab: Nein, in Deutschland gilt Meinungs- und Pressefreiheit für alle Menschen. Sie hatte das Gefühl, sie hat überlebt, um zu berichten, denn ihr Dorf Kocho ist ja faktisch komplett ausgelöscht worden."
    Reden über den Terror
    Erinnert sich Michael Blume, Referatsleiter im baden-württembergischen Staatsministerium. Der Religionswissenschaftler war als Leiter des Sonderkontigents im Einsatz.
    Kaum in Deutschland beginnt Nadia Murad darüber zu berichten, was ihr und vielen anderen in den Händen der IS Terroristen widerfahren ist. Bei nahezu allen ihren öffentlichen Auftritten dankt sie dabei ihren Helfern und fordert auch andere Länder zur Hilfe auf.
    "Ich danke besonders Ihnen, dem Land Baden-Württemberg. Denn wir haben in der Gefangenschaft von Daesh gefürchtet, dass die Welt uns vergessen haben könnte und uns nicht unterstützen werde."
    Nach dem Vorbild Baden-Württembergs nahm in der Folge auch Kanada jesidische Opfer auf.
    Rund drei Jahre lang hat Manuela Zendt in einer schwäbischen Stadt eine jesidische Gruppe betreut.
    "Sie haben sich stabilisiert alle miteinander. Es gibt Frauen, die machen auch Therapie, die sie unterstützt. Und insgesamt sagen die Frauen auch, dass es ihnen gut geht, natürlich mit der Traurigkeit, die bleibt, dass ihre Angehörigen entweder getötet wurden oder noch im Irak sind."
    Die erlittene, sexualisierte Kriegsgewalt ist für viele von ihnen ein großes Tabuthema. Aus Scham schwiegen zunächst fast alle über ihr Martyrium.
    "Es war für uns sehr schwierig, wir waren alleine, aber deutsche Frauen haben uns sehr geholfen. Wir sind in die Schule gegangen, in den Sprachkurs, ja."
    Hoffnung auf eine Zukunft
    Die jungen Frauen kommen aus demselben Dorf wie Nadja Murad. Ihre Identität soll bis heute geschützt bleiben. Einige von ihnen haben mittlerweile einen Hauptschulabschluss, und es gibt wieder so etwas wie Zukunft für sie.
    "Ich mache ein Praktikum, ich will nächstes Jahr eine Ausbildung machen als Krankenschwester oder was anderes."
    Nadja Murads Engagement beurteilen die Frauen unterschiedlich. Einige fürchten, die große Öffentlichkeit um sie könnte den bis heute noch etwa 1.300 vermissten Frauen schaden. Andere sind froh darüber, dass der Völkermord an den Jesiden bekannt wurde, ihr Leid von einer aus ihrem Kreis erzählt wird.
    "Es war gut, dass sie über Jesiden gesprochen hat, es gab viele Länder und Menschen, die wussten nicht, was Jesidischen sind."
    "Es ist gut, dass Nadia spricht überall. Ich finde es toll, weil die nicht wissen, was Jesiden sind. Und wenn ich jetzt sage: Ich bin Jesidin, die kennen sofort, ah Jesidin!"