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Frithjof Bergmann: Neue Arbeit, neue Kultur

Vor gerade hundert Jahren, im November 1904, erklärte Max Weber in seiner Abhandlung "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" den Glauben als Triebfeder des Handelns auch in der Wirtschaft. Diese Triebfeder hat ihre Spannkraft verloren, die Kraft des Visionären fehlt, der große überzeitliche Spannungsbogen des Lebens ist zu einer kleinen Matratzenfeder verkommen, man will einfach nur weiter gemütlich und bequem liegen bleiben.

Von Gunnar Sohn | 03.01.2005
    Max Weber ist genauso vergessen wie Nell-Breuning oder Müller-Armack. Es ist symptomatisch, dass ein Amerikaner, Frithjof Bergmann, Ideen für eine neue Kultur der Arbeit entwickelt hat und sie nun in Deutsch vorliegen - und hierzulande vielleicht auch die Reformdebatte beeinflussen könnten. Immerhin basieren diese Ideen auf Beobachtungen der Wirtschaftswelt.

    Ein bisschen mehr arbeiten. Ein bisschen mehr Bildung. Ein bisschen mehr Innovation. "Diese Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu benutzen, ist das Gleiche, als würde man eine Tasse Wasser zu einem Waldbrand bringen," so der Philosoph Frithjof Bergmann. Der Geisteswissenschaftler muss es wissen, denn er hat sich theoretisch und praktisch sein ganzes Leben mit der Beziehung zwischen Mensch und Arbeit beschäftigt. Zum ersten Mal war es in den Wäldern von New Hampshire. Dorthin hatte Bergmann sich zurückgezogen, nachdem er sich als Tellerwäscher, Preisboxer, Hafenarbeiter und Bühnenautor in den USA durchgeschlagen hatte. Er suchte ein alternatives Leben, wollte unabhängig sein und hatte beschlossen, sich selbst zu versorgen. Nach zwei Jahren gab er auf. Denn statt frei, fühlte er sich als Sklave der harten körperlichen Arbeit, die er mit einfachen Werkzeugen zu verrichten hatte, um sein karges Dasein zu sichern. Er fing an, Philosophie zu studieren, promovierte und lehrte in Princeton, Stanford, Chicago und Berkeley. Und während um ihn herum immer mehr Arbeitsplätze abgebaut wurden, analysierte Frithjof Bergmann das klassische Lohnarbeitssystem und entwickelte ein Alternativmodell. Er nannte es neue Arbeit. Das war vor mehr als 20 Jahren. Bergmann hat seine Erkenntnisse jetzt für den deutschen Markt aufbereitet in dem Buch "Neue Arbeit, Neue Kultur". Seine zwei wichtigsten Arbeitshypothesen werden uns jeden Tag in der Wirtschaftspresse präsentiert. In Zukunft werden weltweit noch viel mehr Arbeitsplätze abgebaut, als wir uns heute vorstellen können. Grund sei weniger die Verlagerung in Niedriglohnländer, sondern die zunehmende Automatisierung von Arbeitsprozessen.

    Ein wachsender Dienstleistungssektor könne niemals hier Ersatz schaffen, da gerade hier die Automatisierung noch schneller Platz greife als in der Industrie.

    Die Lösung von Bergmann klingt zunächst simpel: Die Arbeitszeit eines Menschen wird gedrittelt: Ein Drittel der Zeit verbringen wir mit der bisherigen Lohnarbeit. Das zweite Drittel gehen wir einer Beschäftigung nach, die wir "wirklich, wirklich wollen". Und ein Drittel unserer Zeit nutzen wir dazu, uns selbst zu versorgen, und zwar mit "High-Tech-Eigen-Produktion".

    Wir könnten eine Reihe von Geräten, Apparaten, Materialien, Maschinen und Herstellungsarten entwickeln, die es uns ermöglichen würden, 60 bis 80 Prozent von dem, was wir zum Leben brauchen, selbst herzustellen. Dann könnten wir das fabelhafte, unabhängige Leben führen, von dem ich einen Vorgeschmack erhalten habe - ohne im Schweiße unseres Angesichts mit einer Bogensäge Holz schneiden zu müssen.

    Das klingt sehr nach Sozialromantik im Sinne des Dichters Henry David Thoreau. Davon ist Bergmann allerdings weit entfernt. Seine Vorschläge sind pragmatisch, und die Analyse des klassischen Arbeitsmarktes können auch Wirtschaftswissenschaftler nicht von der Hand weisen. Die gute alte Zeit des Industriezeitalters ist vorbei. Die Massenproduktion reicht nicht mehr aus, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Dazu Bergmann:

    Es ist eine Tatsache, dass die Fabriken, wie wir sie heute kennen, auf geradezu absurde Weise ineffizient sind - innovativere und ideenreichere Ingenieure werden das jederzeit bestätigen, und sie meinen dabei keine Kleinigkeiten. Nein, sie meinen damit die grundlegendere, sozusagen "archetypische" Tatsache, dass wir immer noch kilometerlange Fließbänder haben und entlang dieser Fließbänder Hunderte von einzelnen Robotern, die im Grunde nur eine einzige, eng begrenzte Funktion erfüllen. Für viele Ingenieure erscheint dies heute plump und offensichtlich überholt. Die Planung kleiner Produktionswerkstätten wird also nicht nur von der Neuen Arbeit vorgeschlagen.

    Dieser Trend zeichnet sich selbst in Großkonzernen ab. Auch große Unternehmen haben erkannt, wie vorteilhaft es sein kann, "klein" zu sein, Produktion und Dienstleistungen auszulagern und von Spezialisten übernehmen zu lassen. Renault baut in Rumänien ein Auto, das alle westlichen Standards erfüllt und nur 5000 Euro kostet. Bei der Produktion setzt man nur wenige Roboter ein: Man konzentriert sich auf das Wesentliche, vereinfacht die Produktionsschritte und kombiniert die handwerklichen Fähigkeiten der Arbeitskräfte mit flexiblen High-Tech-Verfahren. So kann man sich den Veränderungen von Märkten schneller anpassen, in Kundennähe produzieren und sorgt für neue Arbeit. Nach Ansicht von Bergmann ist die Zeit der Riesenunternehmen vorbei:

    Ein Aspekt, der für die "alten" Industrien besonders schmerzlich, für die "neuen" Industrien jedoch besonders viel versprechend ist. Er besteht, kurz gesagt, darin, dass die machtvollen sich gegenwärtig entwickelnden Technologien ganz eindeutig auf der Seite der "neuen" Unternehmen sind, während sie genauso eindeutig die "alten" und großen Unternehmen benachteiligen. Was sind die drei modernen Erscheinungsformen der Technologie mit der größten Signalwirkung für Modernität? Viele würden wohl darin übereinstimmen, dass es das Internet, das Mobiltelefon und der Laptop sind. Wenn wir auch nur einen Augenblick nachdenken, so wird sofort deutlich, dass alle drei dezentrale Strukturen fördern.

    Neue Techniken forcieren die Entwicklung, die sich von der überholten, ineffizienten industriellen Massenproduktion wegbewegt und kleine, agile und computergesteuerte Handwerk-Shops aufkommen lässt. Es entstehen mobile Fabriken, die sich per Baukastensystem aus vielen Einzelelementen zusammenstecken und ebenso schnell ab- wie aufbauen lassen können. In verschiedenen Größen und je nach Bedarf an verschiedenen Orten. Mit "Plug and Produce" könnten damit Unternehmen sich rascher als bisher an Veränderungen im Markt anpassen, preiswerter produzieren und eine kostengünstige Logistik zum Kunden realisieren. So bietet etwa die Pegnitzer Firma Belland Vision für Großveranstaltungen wie dem Kölner Marathon Einweg-Getränkebecher an, die sofort nach Gebrauch zusammen mit den restlichen Abfällen eingesammelt werden. Die Belland-Becher werden anschließend in einem Recyclingmobil verwertet. Den Kunststoff kann man selbst aus vermischten und verschmutzten Abfällen maschinell herauslösen und molekular reinigen. Aus dem Material kann man wieder neue Becher herstellen - im Gegensatz zum klassischen Plastikrecycling.

    Die Ideen von Bergmann sind keine weltfremden Spinnereien. Etliche nüchtern denkende Fachleute arbeiten bereits mit ihm zusammen. Die Zukunft, da sind sich viele Wissenschaftler einig, liegt in der Individualisierung der Massenproduktion. Das Grundlagenwerk von Bergmann liefert viele Anregungen, die Arbeitsgesellschaft neu zu organisieren und die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen. Im Gegensatz zu den Ritualdebatten über Lohnerhöhungen, Lohnkürzungen, Wochenarbeitszeit, Hartz IV, V oder VI.


    Bergmann, Frithjof : Neue Arbeit, neue Kultur, Arbor-Verlag, Würzburg, 433 Seiten, Euro 24,80.