Zhang Shuai erinnert sich noch ganz genau an den Tag im vergangenen Sommer, als sich seine Zukunft entschied. Er war in seinem Dorf in der zentralchinesischen Provinz Henan. Die Gaokao-Ergebnisse wurden bekannt gegeben. Und er hatte es geschafft. Er hatte eine hervorragende Punktzahl erreicht, die ihm die Türen in eine der besten Hochschulen des Landes öffnen würde: die Fudan-Universität in Schanghai. So wie er es sich gewünscht hatte.
"In unserer Schule werden die Namen derer, die es auf eine gute Uni geschafft haben, öffentlich ausgehängt. Und dann werden Ehrenbanner zu ihnen nach Hause geschickt. Alle haben großen Respekt vor jemandem, der es auf eine gute Universität schafft."
Der Stolz blitzt noch heute in den Augen des 19-Jährigen auf, wenn er von dem großen Tag erzählt. Einem großen Tag, den er sich durch extrem harte Arbeit und Disziplin erkämpft hatte. Er habe in den Jahren vor der Prüfung nur gelernt, sagt er. Selbst in den Ferien sei er jeden Morgen um 6 Uhr aufgestanden, um zu lernen. Er habe sich nie Spaß oder Freizeit gegönnt. Sein Vater sei 2003 gestorben, die Mutter habe ihn allein großgezogen. Ihr sei er diesen Erfolg schuldig gewesen. Der Wettbewerb war enorm. An Zhang Shuais Oberschule allein, welche die Größe einer ganzen Stadt hat, legten um die 10.000 Schüler die Gaokao-Prüfung ab.
"Meine Schule ist die beste im Landkreis. Aber jedes Jahr schaffen es nur vier oder fünf Schüler auf eine der Top-Universitäten wie die Peking-Universität oder die Qinghua oder die Fudan. Ich war in der besten Klasse der Schule, aber normalerweise mit den Noten immer nur so an 20. Stelle. Außerdem gibt es ja noch mehr Schulen im Landkreis. Ich habe nie damit gerechnet, eine Chance auf die Fudan-Universität zu haben."
Name der Uni zählt oft mehr als Kompetenz des Bewerbers
Heute studiert Zhang Shuai Jura in Schanghai. Damit stehen die Chancen gut, dass er einmal einen gut bezahlten Job in einer großen Metropole bekommt. Der Name der Hochschule zählt in China oftmals mehr als die eigentliche Kompetenz des Bewerbers.
Zhang Shuai hat es nach oben geschafft. Doch für ihn, das Kind vom Land, war der Weg ungleich schwerer als für viele seiner Mitbewerber aus den Städten. Der Gaokao sei nicht fair, kritisiert Zhu Dake, Soziologe an der Shanghaier Tongji-Universität.
"Schon allein die Vorstellung, dass man durch den Gaokao sein Schicksal selbst bestimmen könnte, geht in die falsche RIchtung. Für Kinder vom Land ist das System unfair, weil die Stadtkinder schon ab der Grundschule eine viel bessere Schulbildung genießen. Am Ende aber müssen alle die gleichen Prüfungsaufgaben erledigen. Ist das fair? Natürlich nicht."
In Zhang Shuais Klasse saßen 150 Schüler. Um ein Vielfaches mehr als in einer Stadt wie Schanghai.
Fair ist das nicht
"Es gibt eine große Ungleichheit zwischen Stadt und Land. Die Ressourcen sind unfair verteilt. In den Städten sind die besten Lehrer, die besten Schulen, der beste Lebensstandard. Sogar die Ernährung ist besser in der Stadt. Wie sollen da Kinder vom Land mithalten? Die können doch von Anfang an nur scheitern. Es gibt Ausnahmeschüler, die diese Barrieren durch extrem harte Arbeit durchbrechen. Doch die anderen scheitern einfach."
Große Ungleichheit zwischen Stadt und Land
Zhang Shuais Mutter war froh, wenn sie finanziell irgendwie über die Runden kam. In den reichen Städten hingegen schicken die Eltern ihre Kinder zum teuren Privat-Unterricht am Wochenende und in den Ferien. In Schanghai ist das ganz normal. Manche Kinder besuchen gar Sommercamps in den USA. Die Gaokao-Prüfung mag überall gleich sein, die Vorbereitung darauf ist es keineswegs.
Und damit nicht genug. Die besten Universitäten sind in den großen Metropolen angesiedelt, und sie bevorzugen die Einheimischen. Studienplätze werden nach regionalen Quoten vergeben. Schanghais Fudan-Universität etwa hielt im vergangenen Jahr 330 Plätze für einheimische Shanghaier Schüler bereit, aber nur 60 für Absolventen aus dem viel größeren Henan, der Heimatprovinz von Zhang Shuai, dabei gibt es dort sehr viel mehr Gaokao-Absolventen. Statistisch gesehen ist es für einen Schüler aus Henan 80 mal schwieriger, einen Platz an der Fudan-Universität zu bekommen als für einen aus Schanghai. Und da sind die ohnehin schon schlechteren Startbedingungen auf dem Land noch gar nicht berücksichtigt.
Zhang Shuai lässt auf den Gaokao trotzdem nichts kommen. Er sei das Fairste, was die heutige chinesische Gesellschaft noch zu bieten habe.
"Gäbe es keinen Gaokao, hätten Schüler aus ländlichen Gebieten überhaupt keine Chancen mehr, sagt er. Leute wie ich, wenn wir keinen Gaokao haben oder aus mächtigen Familien stammen, was soll aus uns schon werden? Diese Prüfung legt zumindest einen Standard fest. Wenigstens das. Ohne diesen Standard wäre alles noch unfairer. Dann würde die Korruption alles übernehmen."