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Gauchos der Literatur

Früher wollten die Autoren die Welt verändern, heute schauen sie, was um sie herum passiert und beschreiben es, erklärt Michi Strausfeld, Lektorin für spanisch- und portugiesischsprachige Literatur. Die junge Schriftsteller-Generation sei froh, wenn die Welt ihnen nicht um die Ohren fliege.

Michi Strausfeld im Gespräch mit Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: Michi Strausfeld, seit Jahrzehnten beobachten Sie die argentinische Literatur. Reden wir am Anfang über die Themen der aktuellen Schriftstellergenerationen, der jüngeren und älteren. Ist die 200-jährige Unabhängigkeit, ist die Militärdiktatur, die gerade von Frau Kirchner erwähnt, ein Literaturthema heute in verschiedenen Autorengenerationen?

    Michi Strausfeld: Ja, unbedingt. Die Militärdiktatur war ein solches Trauma für die ganze Bevölkerung, dass es natürlich ein bisschen Zeit gebraucht hat, um Abstand zu gewinnen. Auch war die Gesellschaft zunächst ja nicht bereit, sich mit dieser unmittelbaren Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber seit etwa zehn Jahren, also seit dem Staatsbankrott 2001, hat sich das Blatt irgendwie gewendet und da fielen verschiedene Dinge zusammen. Zum einen wurde die Immunität für die Verbrecher aufgehoben, die stehen jetzt vor Gericht, die Generäle, und sie werden verurteilt, es kommt zu Zeugenaussagen. Das heißt, die ganze Zivilbevölkerung ist wieder involviert. Auf der anderen Seite haben viele der jüngeren Autoren gesagt, meine Güte, wie war das denn damals, das war vielleicht unsere Kindheit oder wir sind gerade erst geboren, waren sie schuldig, waren sie opportunistisch, waren sie Mitläufer, was haben unsere Eltern, unsere Familienangehörigen, unsere Nachbarn gemacht, und diese Aufarbeitung ist sicherlich ein herausragendes Merkmal der jüngsten argentinischen Literatur.

    Schmitz: Welche Autoren und Titel würden Sie da jetzt nennen, aktuell zum übersetzten Programm?

    Strausfeld: Ich würde zum Beispiel Felix Bruzzone nennen, der Titel heißt "76" ganz lapidar. Der Autor ist 1976 geboren ...

    Schmitz: Beginn der Diktatur!

    Strausfeld: Beginn der Diktatur ... und beide seiner Eltern zählen zu diesen berüchtigten Verschwundenen. Und ich möchte sagen, die Verschwundenen ist eine Erfindung der argentinischen Militärdiktatur gewesen. Das hat es bislang noch nicht gegeben, das ist ja nun wirklich etwas besonders Grauenvolles, dass die Leichen nicht gefunden werden, sondern viele wurden eben über dem Rio de la Plata abgeworfen, oder in Massengräbern verscharrt und man kümmerte sich nicht weiter darum. Das sind sehr einprägsame Erzählungen von Felix Bruzzone, der sich mit dieser eigenen Vergangenheit irgendwie auseinandersetzt, die Suche, immer die Suche, was kann man noch herausfinden.
    Auf der anderen Seite würde ich nennen Martin Kohan mit dem Roman "Sittenlehre". Das ist der Horror in einer Schule, nämlich in einem Elitegymnasium, und dann geht die Reduktion noch mal weiter. Es ist eben eine Aufseherin, die aufpassen muss, dass nun ja alles nach Zucht und Ordnung geht, der Haarscheitel richtig, die Fingernägel sauber und so weiter und so weiter, und ob nun ja keiner der Sprösslinge irgendwie verboten eine Zigarette raucht. So schließt sie sich auf eine Toilettenzelle ein, und was ihr dort dann selber widerfährt, das ist natürlich auch nur möglich in Zeiten einer solchen Oppression wie der Diktatur. Das ist der Roman "Sittenlehre" von Martin Kohan.

    Schmitz: Vielleicht, Frau Strausfeld, müssten wir hier noch mal den Blick etwas öffnen. Sonst sind wir zu sehr verhaftet bei Themen der Militärdiktatur. 200 Jahre Unabhängigkeit, ist das ein wichtiges Datum für die argentinische Literatur?

    Strausfeld: Nein, für die Literatur nicht. Für die Politik ja, weil man sagt, vor 100 Jahren war Argentinien noch eines der zehn reichsten Länder, und jetzt, 200 Jahre danach, um Himmels Willen, wie stehen wir jetzt da? Wir sind nichts Besonderes mehr, wir haben die ähnlichen Probleme wie alle anderen lateinamerikanischen Länder und es muss doch eigentlich jetzt ein Neuanfang gemacht werden. Aber das ist nicht das Thema der Literatur, das ist das Thema der Politik.

    Schmitz: Welche anderen Themen greift die Literatur auf?

    Strausfeld: Es gibt ganz junge Autoren, die sagen, wir wollen nicht immer nur den Blick zurückwenden, wir müssen auch jetzt, heute uns mit unserer Umgebung auseinandersetzen, und die Probleme, die wir jetzt haben, die Schere, die sich öffnet zwischen reich und arm, die Menschen, die unter der Menem-Regie, also unter der Ägide zehn Jahre Neoliberalismus, reich geworden sind und plötzlich wieder ihren Reichtum infrage gestellt sehen, alles das sind auch aktuelle Themen, die auch zur lateinamerikanischen Literatur, der argentinischen Literatur von heute dazugehören. Also es ist nicht alles nur Diktatur.

    Schmitz: Und wie wird das geschrieben? Wie ist die ästhetische Qualität?

    Strausfeld: Das sind ganz unterschiedliche Bereiche, denn die Lateinamerikaner – das gilt für den gesamten Kontinent – haben ja in der Zwischenzeit alle Register gelernt und spielen die Klaviatur von oben bis unten durch – ob das die Sittenkomödie ist, ob es der Kriminalroman ist, ob es der Detektivroman ist, ob es der sensationelle schnelle Roman ist. Also es gibt nicht mehr Eingrenzungen irgendwelcher Art und insofern kann eigentlich jeder Leser heute bei diesem breiten Angebot, was nun wirklich zur Buchmesse vorgelegt worden ist, etwas finden, was ihm ganz besonders zusagt.

    Schmitz: Nun steht diese Literatur in einem größeren Kontext, nämlich der lateinamerikanische, den Sie auch sehr gut beobachten. Unterscheidet sich in dieser Hinsicht diese argentinische Literatur von dem, was in Brasilien, in Kolumbien, in Venezuela, in Chile geschrieben wird, oder ist das mittlerweile ein großer literarischer Raum geworden?

    Strausfeld: Ich würde sagen, Brasilien muss man immer ausklammern.

    Schmitz: Wegen der Sprache!

    Strausfeld: Es ist eine andere Sprache und wirklich auch eine andere Kultur. Aber während früher Garcia Marquez (Kolumbien) und Borges (Argentinien) wirklich nichts zusammen zu bringen vermochte, ist das heute so, dass ein junger Autor aus Bogota und ein junger Autor aus Buenos Aires – sie sind beide in Megacitys groß geworden, sie haben vergleichbare Probleme; das fängt mit der Violencia an; sie sind groß geworden mit Internet, Kriminalromanen, einem breiten generellen Kodex, sie haben alle ihre Klassiker gelesen -, sie haben heute viel mehr Gemeinsamkeiten, als das bei den früheren Generationen möglich war.
    Und vielleicht noch etwas anderes: Die früheren Generationen wollten vielleicht noch die ganze Welt darstellen, den totalen Roman schreiben, wie das Vargas Llosa mal gesagt hat. Die jüngeren Leute sagen, nein, wir bescheiden uns, wir gucken, was um uns herum passiert, und wenn wir das beschreiben können, reicht das schon aus. Früher wollten die Autoren die Welt verändern, wir sind froh, wenn sie uns nicht um die Ohren fliegt.

    Schmitz: Michi Strausfeld - vielen Dank für diesen prägnanten Schluss - Publizistin, Lektorin beim Fischer-Verlag für lateinamerikanische Literatur, über Jahrzehnte auch im Suhrkamp-Verlag tätig.

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