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Gebeuteltes Afghanistan

Im 19. Jahrhundert maßen Briten und Russen ihre Kräfte am Hindukusch, im 20. Jahrhundert waren es Russen und Amerikaner. Heute sind es Amerikaner, Chinesen, Europäer und viele andere mehr - sie alle treffen sich in Afghanistan. Frieden aber bringen sie nicht mit, wie Ulrich Ladurner von seinen Reisen berichtet.

Von Daniel Blum | 06.09.2010
    Schon wieder ein Reportagebuch über den Mittleren Osten? Mit Splitterschutzweste und Notebook durchs wilde Afghanistan – kann das mehr sein als ein Déjà vu? Oh ja, es kann, das beweist Ulrich Ladurner. Der gebürtige Südtiroler mit italienischer Staatsbürgerschaft ist Redakteur der "Zeit" und gehört zu dem Journalistentross, der den Nato-Truppen in ihrem "Krieg gegen den Terror" in den Irak und nach Afghanistan gefolgt ist. Was Ladurners Buch originell macht: Er verwebt selbst erlebte Szenen aus dem Afghanistan der letzten Kriegsjahre mit episodischen Erzählungen aus der Geschichte des Landes. Der literarische Stoff, den Ladurner fertigt, ist Kunsthandwerk: stilistisch anspruchsvoll und mit faszinierenden Motiven, durchdacht geknüpft und dennoch verspielt wirkend.
    Auf dem Rollfeld sah ich einen Jungen vor mir stehen. Er betrachtete mich mit großen Augen und ernster Mine. Auf seinem Gesicht lag eine Schicht Staub, in seinen Haaren war Staub, seine Kleider waren bedeckt damit. Ich wandte mich kurz um, und als ich mich wieder umdrehte, war der Junge verschwunden. Ich blickte in alle Richtungen, doch ich sah ihn nicht mehr. Wenn jemand behauptete, er sei vom Erdboden verschluckt worden, ich glaubte es sofort, weil ich dieser Erde alles zutraue. Sie hat Imperien verschlungen. Sie hat siegesgewisse Armeen zu sich in die Tiefe gezogen. Es gibt Menschen, die erzählen, man könne das Klagen der zahllosen Soldaten, die im Laufe der Jahrhunderte hier verschwunden sind, aus dem Inneren der Erde hören. Man müsse nur das Ohr anlegen auf diesen afghanischen Boden.
    In Rückblicken begleitet Ladurner die Gäste, die im Laufe der Geschichte nach Afghanistan kamen, als Diplomaten, häufig auch als Eroberer. Dabei wechselt er die Perspektiven: Mal teilt er ihr Erstaunen über dieses scheinbar primitive Land und die halbwilden, armen Menschen, die es behausen. Er schwelgt in den Überlegenheitsfantasien der Besucher, schildert ihre Versuche, die Afghanen zu instrumentalisieren im Kampf gegen andere Großmächte. Dann schlüpft Ladurner in die Sicht der Gastgeber, die über viele Jahrhunderte hinweg immer wieder Besucher mit feinen Gastgeschenken und unfeinen Hintergedanken erdulden mussten. Des Öfteren waren es die Engländer, dann die Deutschen, die Russen, die es nach Afghanistan trieb, aus Angst – der Furcht davor, andere könnten ihnen zuvorkommen, könnten sich dieser Schachposition bemächtigen im strategischen Wettkampf um Hegemonie. Und stets verkleideten die ungebetenen Gäste ihre egoistischen Ambitionen mit scheinbarer Uneigennützigkeit, mit dem Versprechen, dieses rückständige Land zu zivilisieren – zu domestizieren. Kein Wunder, dass die Afghanen lernten, großzügigen Gästen und Gesten mit Skepsis zu begegnen, erläutert Ulrich Ladurner:

    "Warum sollten uns die Afghanen vertrauen, wenn wir kommen und Schulen bauen und das tun im Schutze von Panzern und Kanonen? Warum sollte ein Afghane uns vertrauen, wenn er die Erfahrung gemacht hat, dass immer wieder Leute mit Panzern und Kanonen gekommen sind und gesagt haben: 'Wir wollen euch helfen'."
    "Eine Nacht in Kabul" hat Ladurner sein Buch getauft – und benennt damit den Rahmen seiner Erzählungen: eine Nacht, in der er im Hotelzimmer die zerfledderten Reiseführer durchblättert, die brüchigen Landkarten studiert, die ihm im vergangenen Jahrzehnt bei der Orientierung in diesem fremden Land dienten. Das klingt etwas aufgesetzt, doch umgesetzt hat Ladurner diese Idee großartig. Wenn er anekdotenhaft von eigens erlebten Szenen zu historischen Episoden hin- und herspringt, dann wirken solche Zeit- und Raumwechsel nie gezwungen, sondern unaufdringlich, plausibel herbeigeführt. Ladurner schildert, dass alle fremden Domestizierungsversuche denselben Ausgang hatten: Die Afghanen vertrieben die ungebetenen Gäste.
    Die Briten, die Sowjets, die Amerikaner, die Europäer schlugen ihren Wanderzirkus auf. Einmal führten sie ein Stück namens Sozialismus auf, ein andermal ein Stück namens Demokratie. Dann zogen sie wieder ab, nicht unbedingt freiwillig, denn sie wurden aus dem Land vertrieben, den Engländern ging es so und den Sowjets ging es so. Die Afghanen blieben zurück. Das Entscheidende für sie war, dass sie schlechter dran waren als vor der jeweiligen Intervention.
    Ladurner befürchtet, dass es auch diesmal so sein wird, dass es nach Abzug der alliierten westlichen Truppen heißen wird: History as usual.

    "Für die Afghanen, glaube ich, wird es wohl schlecht ausgehen, weil sie werden zurückbleiben mit ihren Kriegsherren, mit ihren Fanatikern, mit ihren korrupten Politikern und mit einem kriegsverwüsteten Land. Ich habe die Befürchtung, dass Afghanistan wieder zurücksinken wird in die 80er-Jahre, wo es alle Welt vergessen hatte."
    Als Ladurner 2001 erstmals ins Land kam, war er als sogenannter eingebetteter Journalist Teil der publizistischen Flankierung der Besatzungstruppen, hielt den Einmarsch für unvermeidlich. Als eine doppelte Chance sah er ihn, zur Ausmerzung des Terrorismus wie zur Hilfe für die Einheimischen, die unter der Knute der Taliban standen. Die Ernüchterung kam bald.

    "Es ist eigentlich ein Buch der Desillusionierung. Also ich bin fortschreitend mit jeder Reise habe ich eine Illusion verloren, und heute bin ich, was den Einsatz des Westens in Afghanistan betrifft, sehr illusionslos."
    Alles Tun des Westens, alle Hoffnungen, alle Opfer werden letztlich vergebens gewesen sein, glaubt Ladurner. Wie alle anderen fremden Expeditionsarmeen, die in den vergangenen Jahrhunderten in Afghanistan einmarschierten, wird sich auch diese erschöpft zurückziehen müssen.

    Osama bin Laden hatte damit gerechnet. Als er den Westen so lange provoziert hatte, bis die Nato-Truppen endlich kamen, da verschwand er über die afghanischen Berge und hinterließ ein riesiges Loch, in das die Nato immer mehr Soldaten marschieren ließ. Tiefer und tiefer fielen die Soldaten und zogen alles mit sich in diesen Schlund, was uns so wichtig ist: Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat. Und tief unten war ein schallendes Lachen zu hören.
    Alles andere als ein typisches Sachbuch ist "Eine Nacht in Kabul". Ulrich Ladurners Reiseerzählungen in die afghanische Gegenwart und Historie erzeugen bisweilen einen Erzählsog, der mitreißt, sodass man Ort und Zeit vergisst. Ein Buch, das man verschlingt – ein schöneres Kompliment lässt sich einem Autor kaum machen.

    Und dieses Kompliment kam von Daniel Blum. Es geht an Ulrich Ladurner und das Buch "Eine Nacht in Kabul – Unterwegs in eine fremde Vergangenheit". Es erscheint morgen im Residenz Verlag, mit 256 Seiten für 21,90 Euro, ISBN: 978-3-701-73205-0.