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Gefährliche Nahrung

Viele Seevögel sind bei der Auswahl ihrer Nahrung nicht gerade wählerisch. Auf der Nordsee ziehen hinter Fischkuttern und Personenfähren oft Dutzende von Möwen und anderen Vögeln her, immer auf der Suche nach Fressbarem: Dazu gehören Fischereiabfälle oder Essensreste, die die Menschen ins Meer werfen. Die Tiere haben sich auch an Nahrungsreste auf Mülldeponien und manches andere gewöhnt. In jüngster Zeit verenden allerdings immer wieder Seevögel an Plastikabfällen, die sie offenbar nicht von ihrer Nahrung unterscheiden können. In mehreren Projekten untersuchen Biologen zur Zeit, wie Schifffahrt, intensive Fischerei und andere menschliche Einflüsse die Ernährungsgewohnheiten unserer Seevögel in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert haben.

Von Jens Wellhöner |
    Am Strand bei Büsum in Schleswig-Holstein hat die Flut einen toten Vogel angeschwemmt. Meeresbiologe Niels Gusow hebt ihn auf und verpackt ihn. Der Forscher will die Todesursache klären. Von außen wirkt das Tier zwar ganz unversehrt. Aber der Eissturmvogel hat sich wahrscheinlich regelrecht zu Tode gefressen. Wie so viele Eissturmvögel im Nordseeraum. Niels Gusow:

    "95 Prozent der Tiere, die an der deutschen Nordseeküste angeschwemmt werden, haben Plastik im Magen."

    Im Forschungs- und Technologiezentrum Westküste in Büsum werden die toten Eissturmvögel untersucht. Die weiß-grauen Vögel brüten zwar vor allem in Schottland und auf Inseln im Nordatlantik. Und nur vereinzelt in Deutschland. Aber außerhalb der Brutzeit fliegen sie kreuz und quer über die ganze Nordsee, bis in die Deutsche Bucht. Und auf ihrem Weg über das Meer sind sie bei der Nahrungssuche nicht gerade wählerisch. Niels Gusow:

    " Es ist so, dass die Eissturmvögel kleine Krebse fressen. Und es ist möglich, dass sie transparentes Plastik mit Krebsen verwechseln. Zum Teil fressen sie auch Fischereiabfälle: Und das sind unförmige, organische Reste, eben Eingeweide von Fischen und so weiter. Und wir gehen davon aus, dass sie kein so genaues Suchraster haben, dass sie da unterscheiden könnten."

    Eissturmvögel verwechseln also Plastikteile mit Fischereiabfällen. Und auf der Nordsee wächst der Schiffsverkehr und damit auch die Müllmenge von Jahr zu Jahr. Nach Schätzungen werden allein an der deutschen Nordseeküste mindestens 20.000 Tonnen Müll pro Jahr angespült.

    " Das, was aus dem Bereich der Schifffahrt kommt, was einfach so über Bord geworfen wird, das hat in den letzten Jahren zugenommen. Das heißt, was wir als Verbraucherplastik bezeichnen, wird auf See entsorgt."

    Und das geschluckte Plastik bereitet den Eissturmvögeln ein qualvolles Ende. Durch Ersticken oder Verletzungen im Magen-Darm-Trakt. Wie sich das auf die Bestände der Vögel auswirkt, wird zur Zeit in einem EU-Projekt untersucht. Die Aktivitäten des Menschen beeinflussen aber auch andere Seevogelarten. So haben zum Beispiel Möwen ihren Speiseplan seit Zunahme der Industrie-Fischerei umgestellt. Meeresbiologe Stefan Garthe:

    " Und man kann sich das so vorstellen - man kennt das von der Küste, wenn man hinter einem Fischkutter her fährt - dass dann, wenn die Netze an Bord geholt werden, der Fisch, der nicht gebraucht wird, über Bord geworfen wird. Und das ist natürlich für einige Seevogelarten eine attraktive Nahrungsquelle."

    Wenn man von einigen wenigen Arten absieht, wächst die Zahl der Seevögel an der deutschen Küste seit etwa 50 Jahren. Zum Einen durch den Schutz der Brutgebiete.

    " Zum Zweiten kommt hinzu, dass zum Beispiel durch diese Fischereiabfälle eine weitere Nahrungsquelle den Vögeln zur Verfügung steht. Das heißt, in der Wiedererholungsphase haben sie gleichzeitig eine sehr gute Nahrungsbasis."

    Die meisten Seevogelarten sind also die Nutznießer der modernen Fischerei. Die Überfischung der Meere hat sich auf sie noch nicht negativ ausgewirkt. Im Gegenteil: Sie können jetzt sogar Fische fressen, die eigentlich in großen Tiefen leben, von den Vögeln also bisher nicht erbeutet werden konnten. Denn diese Fische werden gefangen, an die Oberfläche gezogen und landen zum Teil als Abfall wieder im Wasser. Der Mensch liefert den Seevögeln Nahrung quasi auf dem Silbertablett. Und das nicht nur auf See: Jahrzehntelang waren Müll-Deponien ein Tummelplatz für Möwen. Stefan Garthe:

    " Das Problem mit den Müllplätzen ist aber heute nicht mehr so aktuell, weil die meisten Deponien jetzt ja fast durchgängig abgedeckt sind, und insofern als weitere Nahrungsquelle ausfallen. Und von daher warten wir auch mit großen Interesse darauf, inwieweit sich die Verteilung insbesondere der Silbermöwen im Binnenland - die gibt es ja bis zu den großen Müllplätzen in Nordrhein-Westfalen hinein - in Zukunft entwickeln wird, weil ihnen eine Nahrungsquelle ausgeht."

    Auch auf dem Meer wird sich der Speiseplan der Seevögel in Zukunft ändern: Denn in den letzten Jahren wird in der Nordsee wieder weniger gefischt, da die Fischbestände zum Teil dramatisch zurückgegangen sind. Dadurch sinkt auch die Menge an Fischereiabfällen. Die Seevögel werden also häufiger nach anderen Nahrungsquellen Ausschau halten müssen. Und sie müssen sich auch noch auf etwas anderes einstellen, so Biologe Stefan Garthe:

    " Es gibt auch klimatische Veränderungen, die Auswirkungen haben werden in den nächsten 50 bis 100 Jahren. So dass wir weiter von einer interessanten Bestandsfluktuation ausgehen müssen. Wir können aber nicht sagen, ob sie allgemein drastisch abnehmen oder drastisch zunehmen."