Gehen wir einmal davon aus, dass Popmusik das Kulturphänomen ist, das Jugendliche in unserer Zeit am stärksten prägt. Popmusik, das umfasst mehr als nur die unterschiedlichsten musikalischen Strömungen. Zum jeweiligen Musikgeschmack gehören bekanntlich auch die Stil bildenden Stars und Idole, Fanclubs, ein bestimmtes Outfit und unter anderem sprachliche Codes. Gehen wir des Weiteren davon aus, dass diese Welt Erwachsenen naturgemäß nicht ohne weiteres verständlich beziehungsweise zugänglich ist.
Was bedeutet das für Kinder- und Jugendromane, die sich auf das Thema Popmusik einlassen? Wie nähert sich dieses Genre diesem Thema und mit welchem Erfolg?
Es gibt, um dies schon einmal vorweg zu nehmen, eine auffällige Tendenz: In fast allen Romanen, die sich mit dem Thema Musik und Jugendkultur beschäftigen, wird die Hingabe Jugendlicher an ihre Idole in Beziehung gesetzt zu familiären Problemen, mangelnder Geborgenheit, unzureichendem Verständnis der Erwachsenen für die spezifischen Ausdruckswünsche Jugendlicher wie zu fehlender sozialer Integration überhaupt. Das kann - ins Pädagogische oder auch ins Komische gewendet - nervtötend wirken. Da aber, wo die Neugier am Jugendmilieu und seinen Ausprägungen stärker ist als jegliche Absicht zur Belehrung, und dazu noch die erzählerische Kraft dominiert und nicht die sprachliche Anbiederung - da kann ein Jugendroman über die Faszination populärer Musik als gelungen bezeichnet werden.
"Stixx on stage" - so heißt das erste Buch von den fünf Romanen, von denen hier beispielhaft die Rede sein soll. Sylvia Hauenschild, Jahrgang 1957 und Mutter zweier Kinder, ist die Autorin. Ihre Mutterschaft zu erwähnen ist hier durchaus angebracht, denn sie ist die Quelle aus der sie - neben ihrer literarischen Tätigkeit - für ihre Ratgeberliteratur schöpft. Da sind Titel zu nennen wie "Zwillinge- die doppelte süße Last" und "Wann trägt man als Mutter schon mal Seidenstrümpfe". Nichts gegen Lebenshilfe für gestresste Mütter. Aber der unverwüstliche, frisch-fröhlich-aufbauende Optimismus der Ratgeberliteratur ist auch in ihrem belletristischen Schaffen zu vernehmen und das tut der Geschichte gar nicht gut.
Dabei ist der Start in diese Jungenstory nicht schlecht. Der etwa12-jährige Frederik ist erst ratlos, um nicht zu sagen entsetzt: Der ungeliebte Musiklehrer, bei dem Frederik als musikalische Null abgeschrieben ist, wird vorübergehend durch eine junge Lehrkraft vertreten, die den Musikunterricht der 6. Klasse gründlich umkrempelt. Sie lässt durch ein Losverfahren Gruppen bilden, die die Aufgabe erhalten, gemeinsam zu Hause jeweils kleine musikalische Darbietungen ihrer Wahl zu erarbeiten. Für Frederik eine Tortour, da er sich nichts zutraut und noch dazu durch das Losverfahren mit Klassenkameraden zusammengewürfelt wird, die er bislang auf das Strengste gemieden hat, beziehungsweise meiden musste, um nicht bei anderen in Ungnade zu fallen.
Lydia Hauenschild lässt jetzt ihren zunächst reichlich Komplex beladenen Helden Lernprozesse in zweifacher Hinsicht durchmachen. Erstens: Abgrenzungen von fest gefügten Cliquen zu durchbrechen, kann neue Freundschaften stiften. Zweitens: Entdecke Dein Talent! Unmusikalische Kinder gibt es nicht!
Bis es so weit ist und Frederik als Drummer einer frisch gegründeten Band
brilliert, passiert noch allerhand Komisches, was nicht zuletzt Lydia Hauenschilds Talent zuzuschreiben ist, typische umgangssprachliche Redewendungen Jugendlicher wirkungsvoll - gern auch als Kontrastmittel zur Erwachsenenwelt - einzusetzen.
Hier die Szene, als Frederik von Daniel, einem Mitglied der neuen Musikarbeitsgruppe, von zu Hause abgeholt wird:
"Plötzlich quietschten Fahrradbremsen und ein Schwall Kiesel spritzte mit lautem Klackern gegen den Gartenzaun. "Boh, hammerheiß heute!" rief Daniel zu Frederik rüber. "Los, Alter! Wir zischen ab!" Was war denn das eben!?" Frederiks Vater lugte erschrocken aus der Garage und starrte auf Daniels Stacheln, bevor sein Blick weiter zu Daniels kanariengelbem T-Shirt wanderte, auf dem in riesigen Lettern FUCK geschrieben stand." Wer um Himmels willen ist das?!" - "Darf ich vorstellen: Das ist Daniel", erklärte Frederik trocken und verbarg seine Freude über das Entsetzen seines Vaters hinter einer gleichgültigen Miene."
Das liest sich amüsant, gerinnt aber - zuviel davon genossen - zu Klischees im Inhaltlichen wie im Sprachlichen. Dass Frederik aufgrund seiner vermeintlichen Unmusikalität auch in seiner Familie - zumindest in den Augen seines Vaters - das schwarze Schaf ist, wirkt so unglaubwürdig, wie seine Sprüche abgedroschen und aufgesetzt bieder, zum Beispiel, dass manche Mädchen aussähen als seien sie in den Tuschkasten gefallen oder Jungs Hosen anhätten, die aussähen als hätten sie hinein gemacht. Hier wird im Grunde genommen der platteste aller Konflikte konstruiert: ein konservativer, weltfremder Vater, der nur klassische Musik hört und nur Geigen- und Klavierunterricht akzeptiert, gegen einen Heranwachsenden, der sich unterdrückt fühlt in seiner Begeisterung für Boy-Groups und Schlagzeug. Aber schließlich triumphiert der missratene Sohn auf seinem eigenen Gebiet und überzeugt den letztendlich schmunzelnden Vater. Ein Happy End wie in der Familienserie.
Auch eher von der unterhaltsam-amüsanten Sorte ist Simon Cheshires Roman "Ich im Lift mit Lisa!" Der Plot und die Rahmenhandlung sind denkbar einfach konstruiert: In Birminghams größtem Multimediastore bleibt der 15jährige Dominic Smith zusammen mit der Popikone Lisa Voyd, Frontgruppe der fiktiven Band "Plastic", im Fahrstuhl stecken. Dominic hatte sich während dieser Werbe- und Autogrammstunde einfach an ihre Fersen geheftet, um einmal ganz in der Nähe seines großen Idols zu sein. Während des mehrstündigen Zwangsaufenthaltes im engen Fahrstuhl beschreibt Dominic den Wandlungsprozess, der sich da im Denken eines fanatischen Fans einerseits, also bei ihm selbst, und eines vom Business ausgelaugten und desillusionierten Popstars anderseits, vollzieht. Durchbrochen wird die unmittelbare Gegenwart des Fahrstuhlaufenthaltes, die sich schließlich quälend langsam hinzieht und durch Zeitangaben dokumentiert wird, durch Rückblenden des Ich-Erzählers Dominic. Auch Lisa erzählt in einem eigenen Kapitel über ihre freudlosen Aufenthalte in Hotels während einer Tournee.
Das Überzeugende an Chesires Buch ist, dass er Witz und Tragik dieser beiden Figuren, die als Fan wie auch als Star auf unterschiedliche und doch komplementäre Weise in ihrem Leben feststecken - was der Fahrstuhl versinnbildlicht - dass er das erzählerisch gekonnt in der Balance hält. Es ist eben nicht frei von Komik, aber auch gleichzeitig beängstigend, wie weit es ein Fan mit seiner Anbetung einer Popgröße treiben kann.
"Mein Leben bekommt eine ganz Qualität. Es ist, als hätte ich bisher nur von Wasser und Brot gelebt und stünde nun in einem feinen Restaurant mit hunderten von leckeren Gerichten zur Auswahl. Plastic macht den Alltagstrott um vieles erträglicher. Alles erscheint wie durch eine rosarote Brille. Man findet sich mit dem ganzen Mist ab, weil man weiß, dass das alles keine Rolle spielt, jedenfalls nicht im Vergleich mit den wichtigen Dingen des Lebens. Schule und Zuhause und Arbeit und Wochenenden - sie alle werden von Musik begleitet. Für jede Gelegenheit gibt es einen eigenen Sound. Plastic muntert mich auf, wenn mein Tag mies ist, zu Plastic singe ich, wenn mein Tag gut ist. Du findest immer einen Song, der zu dem passt, was gerade abgeht. Plastic ist der Soundtrack zu meinem Leben."
Der 41jährige britische Rundfunkjournalist und Jugendbuchautor Simon Cheshire findet für diese Unbedingtheit des Fan-Daseins immer wieder schrille Bilder und Zuspitzungen, wenn er zum Beispiel die abstrusen Recherchen eines Fanclubs beschreibt oder seinen enthusiasmierten Helden Dominic mit knapper Not an einem höchst peinlichen Schulauftritt vorbeischliddern lässt, bei dem er vorhatte, Lisa Voyd, seine "coole
Königin des Pop", ernsthaft zu imitieren.
Das Buch hat Witz, Tempo, eine flotte, pointenreiche Sprache - ohne anzubiedern - aber ein literarisch herausragendes Beispiel für ein Jugendbuch, das sich mit Popmusik und Jugendkultur beschäftigt, ist es nicht geworden. Dazu kommt die Läuterung der beiden Eingeschlossenen am Schluss der Geschichte etwas zu glatt und widerspruchsfrei daher. Und auch der wortidentische Auftritt der beiden Elternteile im Zimmer Dominiques, die wegen ihrer Berufstätigkeit vom schlechten Gewissen geplagt, sich nach der Befindlichkeit ihres Sohnes erkundigen, taugt noch nicht mal als Satire. Diese Elterninstanz als Negativposten darf offensichtlich niemals fehlen, und sei es in seiner untauglichsten Variante - als Parodie oder Ulk-Nummer.
Und noch eine kritische Anmerkung, die auf den ersten Blick marginal erscheint, aber unbedingt etwas mit unserem Thema zu tun hat: Wenn ein Jugendbuch von Popmusik handelt, muss offensichtlich unbedingt etwas Flottes her, um die Kapitel zu kennzeichnen. Da reicht es dann nicht, Erstes Kapitel, Zweites Kapitel und so weiter zu schreiben ... Nein: "Track 1" und "Track 2" muss da stehen! Vielleicht wird sich die Masche einmal totlaufen, die auch Simon Cheshire bedient. Zumindest sollte man sich etwas Intelligenteres ausdenken, wenn man als Autor die Machart von Popmusik, das Abspielen oder Hören von Songs und das Betrachten und Konsumieren von CDs in Literatur überführen will. Und damit sind wir beim nächsten Buch, das in dieser Hinsicht mit einigen Möglichkeiten experimentiert.
"Die Störe schwammen oben, wie immer, suchten nach Futter. Die kleinen Welse schoben sich wie Staubsauger mit dem Maul über die Glaswände. Und auch der Aal, der tagsüber sonst schlief, schlängelte sich durch die Wasserpflanzen. Das Wasser, das durch die Leuchtröhren und Algen eigentlich hellgrün gefärbt war, hatte jetzt einen leichten Rotstich."
"Das Aquarium war fast zwei Meter lang, Mira passte problemlos hinein. Ihre Haare bewegten sich in den aufsteigenden Luftblasen. Dort, wo der Aal kleine Löcher in ihren Körper gebissen hatte, quoll in feinen Wolken Blut ins Wasser. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, als suchte sie etwas auf dem Grund des Aquariums."
- Das so genannte "Intro" des wie eine Doppel-CD aufgebauten Romans "Crazy Diamond" von David Chotjewitz. Schon allein der Titel des Buches ist eine Anspielung auf einen der großen Songs der Popgeschichte: "Shine On You Crazy Diamond" von Pink Floyd und die Aussage dieser vermutlichen Hommage an ein Bandmitglied, das am Erfolgs- und Drogenrausch kaputt ging, korrespondiert mit der Geschichte von Mira, die als Popsängerin einen Schwindel erregenden Aufstieg in die Charts bis zum Auftritt bei den MTV Awards in Barcelona erlebt und am Schluss tot in einem Aquarium ihres Hamburger Appartements liegt.
Der Anspielungsreichtum der als Tracks gekennzeichneten Kapitelüberschriften auf Songs von Popstars wie Nelly Furtado oder Christina Aguilera entspricht die Mischung der Erzählerstimmen. Das heißt, es gibt eine durchgängige Erzählstimme, die jedoch von Mira, und zwar von der toten Mira aus der rückblickenden Perspektive, immer wieder unterbrochen wird, beziehungsweise sie greift den lose hängenden Erzählfaden des vorherigen Kapitels auf, um ihn weiterzuführen oder korrigierend einzugreifen.
Dieses Ineinandergreifen von Erzählstimmen erinnert an das Platten auflegen und Mischen verschiedener Songs und Stile eines DJs. Das ist geschickt gemacht, verlangt aber einem, sagen wir einmal 14-jährigen Leser erhebliche Konzentration ab. Was über die Kompliziertheit des Aufbaus hinweghilft, das ist der Spannungsbogen, der sich daraus ergibt, dass Mira am Anfang tot im Aquarium liegt und die Frage zu lösen ist, was zu ihrem Tode führte.
Die Geschichte von Mira und ihren Freunden Rosa, Melody, Zucka, Jackson und Kralle, die nun entfaltet wird, lässt bis zum Schluß alle Möglichkeiten offen. Sie kann ermordet worden sein, was nicht ganz abwegig ist, weil Melody, selbst ein vom Produzenten abgehalftertes Pop-Sternchen eifersüchtig ist und mit Mira um die Urheberschaft eines Erfolgssongs und dem finanziellen Gewinn daraus streitet. Sie kann Selbstmord begangen haben, denn Mira ist von ihrer Blitzkarriere und durch die erfolgsgeilen Umtriebe ihres Produzenten völlig aufgerieben, nimmt Alkohol, Speed und Schlaftabletten in flottem Wechsel und hört schließlich Stimmen in ihrem Appartement. Es kann auch ein Unfall gewesen sein - was lange Zeit angesichts des kulminierenden Konfliktpotentials als die unwahrscheinlichste Möglichkeit erscheint.
David Chotjewitz berührender Roman "Crazy Diamond" kommt wie ein Krimi daher - was allerdings immer wieder konterkariert wird durch die ruhige, sachliche , unaufgeregte Erzählstimme der toten Mira, die ja den gesamten Ablauf und Sachverhalt kennt - im Gegensatz zu ihren Freunden. Das hat allerdings den Nachteil, dass die Perspektiven der anderen Figuren nur eine untergeordnete Rolle spielen. Als Theaterstück, auf dem diese Geschichte auch tatsächlich als Gemeinschaftsarbeit des Autors mit Jugendlichen basiert, ist so eine Konstruktion gut vorstellbar. Aber in eben diesem Roman hätte man sich die wechselnden Perspektiven der Freunde Miras hinzugewünscht. Zumal sie in diesem Buch eine Art Schicksalsgemeinschaft, eine Ersatzfamilie bilden. Allesamt fast noch Kinder und doch schon als Looser gezeichnet: drei von ihnen Schwarze, mit einem Containerschiff nach Hamburg geschmuggelt und hier in die kalte Großstadt gespült, eine weitere obdachlos, die in einem Bauwagen Unterschlupf findet und Mira selbst, ein elternloses Flüchtlingskind aus dem zerfallenden Jugoslawien. Bei dieser Verbindung von Elend, Verlassenheit und verbissenen Aufstiegswünschen, die sich an ein bisschen Stimme und gutes Aussehen klammern, sind eigentlich nicht die Todesumstände Miras wirklich wichtig, sondern die Zusammenführung verschiedener Sichtweisen, die eben als einzelne aufgrund ihrer eingeschränkten Perspektive nicht alles erklären können.
"Hey, Mika auf Radio Gaga"
"Ich habe euch polnische Rockmusik mitgebracht und was aus Spandau, das mir jemand gestern gemailt hat. Ein total verrücktes Ding. (...) Gestern gab es noch eine heiße Diskussion per Mail, nachdem ich Nirvana gespielt hatte. Und ich bleibe dabei, dass man bei jedem Stück schon die Kugel im Kopf hört. Und das ist doch völlig in Ordnung so. Wieso ist euch das zu esoterisch? Das ist Physik. (...) Zeit ist relativ und diese ganzen Songs sind nur ein einziger auseinander gezogener Schuss! Peng. Die Frage, was vorher war, der Schuss oder die Musik, keine Ahnung. Ich spiele einfach noch einen Song."
In Katrin Bongards vor kurzem mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichneten Jugendromandebüt "Radio Gaga" geht es nicht vorrangig um Stars, Karrieren, Bands oder Popsongs, sondern um einen Berliner Piratensender, der von einem Wachturm aus im ehemaligen Todesstreifen der einst geteilten Stadt mit frechen Sprüchen und cooler Musik "etwas Unordnung in die Radiolandschaft" bringt.
Das Buch passt nicht ganz rein in unsere Abfolge. Aber es streift das Thema zumindest, da es Einblick gewährt in das Lebensgefühl von Großstadtkindern, die, in kaputten, problematischen oder unvollständigen Familien aufgewachsen, im Kreise etwa Gleichaltriger mit ähnlichem Musikgeschmack und ähnlicher sozialer Prägung Orientierung und Halt suchen. Außerdem ist es ein gutes Buch.
Der 16jährige Rocco, gerade mit seiner deutschen Mutter und seinem italienischen Vater sowie mit dem älteren Bruder Giovanni von München nach Berlin umgezogen, hört eines Tages zufällig "Radio Gaga" und die Stimme von Mika und ist wie elektrisiert. Er macht den Piratensender ausfindig und nach anfänglichem Misstrauen wird er in die Gruppe aufgenommen. Der Ich-Erzähler Rocco merkt, je mehr er in die Gruppe integriert wird und die Mitglieder auch vor dem Mikrofon Persönliches von sich preisgeben, wie existentiell für jeden einzelnen - auch für Rocco - diese Erfahrung von Gemeinschaft, Liebe, und Vertrauen ist.
Katrin Bongartz macht aber nicht den Fehler, die Erwachsenenwelt pauschal für diese Heimat suchenden Jugendlichen verantwortlich zu machen. Sensibel und behutsam zeichnet sie exemplarisch an Roccos Zuhause ein Familienportrait, das gekennzeichnet ist von übergroßer, gut gemeinter Toleranz, die aber zur Verzweiflung aller fast in der Katastrophe endet. Katrin Bongartz Botschaft ist, wenn man überhaupt hier von einer Botschaft sprechen kann, dass in der heutigen zersplitterten Welt Jugendlichen oft keine andere Wahl bleibt, als in der Gemeinschaft ihresgleichen Werte auszubilden, für die es sich zu leben lohnt. - Ein starkes Debüt.
Und auch unser fünftes Buch zeichnet kein rosiges Bild von Kindheit, Jugend und Familie. Im Gegenteil. Mit Han Nolans Jugendroman "Born Blue" werden wir noch tiefer hineingeführt in einen Sumpf aus sozialer Aussichtslosigkeit, seelischer Verwüstung und erbarmungslosem Überlebenskampf. Und hier spielt auch wieder die Musik als Chance, sich selbst am Schopf aus dem Abgrund zu ziehen, ein zentrale Rolle. Keines der bisher genannten Bücher bringt eine jugendliche Existenz mit Musik nicht nur als Karrieremöglichkeit sondern auch als Lebenselexier, als Gier nach Ausdruck und Befreiung so radikal und so überzeugend miteinander in Beziehung wie dieses Buch der amerikanischen Autorin und ehemaligen Tanzlehrerin Han Nolan. Nur das es hier nicht um Popmusik geht, sondern um die Faszination von Soul, Blues und Jazz, und um Randexistenzen an wechselnden amerikanischen Schauplätzen.
Die junge Janie erzählt hier ihr Leben. Die Mutter drogensüchtig, der Vater unbekannt, lebt sie für einige Zeit - bevor sie wieder weiter geschoben wird in einer schwarzen Pflegefamilie. Der farbige Pflegesohn Harmon ist ihr einziger Halt in diesem Milieu, das geprägt ist durch seelische Grausamkeit, Brutalität und Vernachlässigung. Als Harmon ihr im Keller Kassetten vorspielt mit den Stimmen von Etta James, Aretha Franklin und Billie Holliday - den "Ladys", wie die beiden diese Berühmtheiten künftig nennen, erwacht in Janie der fortan unstillbare, geradezu zwanghafte Wunsch, sich diese Musik mit Leib und Seele zu eigen zu machen. Der Wunsch ist nicht abwegig, denn Janie hat eine bemerkenswerte Stimme. Nur, wenn die ersehnte Mutter sie mal besucht, versagt diese Stimme, als würde sie sich erinnern an dieses Erlebnis als Kleinkind als Mama Linda sie alleine ließ am Strand und sie fast ertrank.
"Doris meinte, du kannst singen", sagte sie, wie sie vom Klo wieder ins Zimmer kam und den Reißverschluss ihrer Jeans hochzog. Sie sah mich an."Na, komm rein und sing was. Mal sehen, was für eine tolle Sängerin ich da habe." Ich rührte mich nicht und sagte nix. Mama Linda stemmt die Hände in die Hüften und sagte "Sing!" Und ihre Stimme klang wütend, ganz plötzlich. "Ich kann nicht singen", sagte ich. "Doris hat gesagt, du hättest eine schöne Stimme. Also los, mach schon, Mäuschen, sing."
"Ehe ich wusste, was los war, stieß Mama Linda mich zur Tür raus, zerrte mich zurück zum Auto und wir fuhren mit kreischenden Reifen vom Parkplatz weg und wieder auf die Autobahn. "Du willst also nicht singen. Dann bringe ich dich eben zurück zu Patsy.
Dann machen wir es eben so, okay? Singst du?" Ich schüttelte den Kopf, das Kinn an meine Brust gepresst. So sehr ich mir auch wünschte, dass Mama Linda mich mit zu sich nach Hause nahm. Ich konnt's einfach nicht.(...)"
"Mama Linda raste zurück zum Stinkhaus. (...) Ich stieg aus und sie fuhr weiter, langsam, wie wenn sie dachte, ich käme hinterhergerannt. (...) Ich lief einfach weiter (...) Und dabei sang ich , denn das Einzigste, was gegen dieses Hungerübelkeitsgefühl half, war Singen."
Und fortan verfolgt dieses Mädchen die Spuren der großen Blues- und Soulsängerin Etta James bis zur fast völligen Selbstzerstörung durch Drogen und Rücksichtslosigkeit gegen sich und andere. Han Nolans Heldin ist keineswegs eine durchweg bemitleidenswerte und sympathische Figur. Mit ihrer demonstrativ flapsigen Sprache und schnörkellosen Erzählweise, die sich Emotionen weitgehend verbietet und doch sich pausenlos schonungslos selbst entblößt, provoziert sie beim Leser geradezu Aggressionen. Dieses Mädchen muss permanent zerstören, was sie gerade hoffnungsvoll begonnen hat. Sie saugt die Menschen aus, die ihr helfen wollen, sie ruiniert jeden Ansatz einer möglichen Gesangskarriere. Erst als sie schwanger wird, ein Mädchen zur Welt bringt und die Wiederholung des Schicksals ihrer Mutter allzu offensichtlich wird, hält Janie inne. Ein kleiner Hoffnungsschimmer wird sichtbar, aber kein Happy End.
Die Geschichte zieht ihre überzeugende Wucht aus der stimmigen Verschmelzung ihrer Figuren mit dem Milieu, in dem sie sich bewegen und mit der Musik, der ihren verzweifelten Träumen Ausdruck verleiht. Hier wird nicht gepredigt oder moralisiert. Aber was deutlich spürbar ist in diesem Buch von Han Nolan, das ist ihr Glaube an die Kraft der Einsicht und der Selbsterkenntnis - und an die mitreißende Magie des Gesangs.
Katrin Bongard: "Radio Gaga"
Beltz & Gelberg
337 Seiten, 12,90 Euro (ab 13 J.)
Simon Cheshire: "Ich im Lift mit Lisa"
Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt
Beltz & Gelberg
176 Seiten, 7,90 Euro (ab 12 J.)
David Chotjewitz: "Crazy Diamond"
Carlsen
320 Seiten, 14,00 Euro (ab 14 J.)
Lydia Hauenschild: "Stixx on Stage"
ars edition
169 Seiten, 9,90 Euro (ab 10 J.)
Han Nolan: "Born Blue"
Aus dem Amerikanischen von Salah Naoura
Carlsen
256 Seiten, 13,00 Euro (ab 14 J.)
Was bedeutet das für Kinder- und Jugendromane, die sich auf das Thema Popmusik einlassen? Wie nähert sich dieses Genre diesem Thema und mit welchem Erfolg?
Es gibt, um dies schon einmal vorweg zu nehmen, eine auffällige Tendenz: In fast allen Romanen, die sich mit dem Thema Musik und Jugendkultur beschäftigen, wird die Hingabe Jugendlicher an ihre Idole in Beziehung gesetzt zu familiären Problemen, mangelnder Geborgenheit, unzureichendem Verständnis der Erwachsenen für die spezifischen Ausdruckswünsche Jugendlicher wie zu fehlender sozialer Integration überhaupt. Das kann - ins Pädagogische oder auch ins Komische gewendet - nervtötend wirken. Da aber, wo die Neugier am Jugendmilieu und seinen Ausprägungen stärker ist als jegliche Absicht zur Belehrung, und dazu noch die erzählerische Kraft dominiert und nicht die sprachliche Anbiederung - da kann ein Jugendroman über die Faszination populärer Musik als gelungen bezeichnet werden.
"Stixx on stage" - so heißt das erste Buch von den fünf Romanen, von denen hier beispielhaft die Rede sein soll. Sylvia Hauenschild, Jahrgang 1957 und Mutter zweier Kinder, ist die Autorin. Ihre Mutterschaft zu erwähnen ist hier durchaus angebracht, denn sie ist die Quelle aus der sie - neben ihrer literarischen Tätigkeit - für ihre Ratgeberliteratur schöpft. Da sind Titel zu nennen wie "Zwillinge- die doppelte süße Last" und "Wann trägt man als Mutter schon mal Seidenstrümpfe". Nichts gegen Lebenshilfe für gestresste Mütter. Aber der unverwüstliche, frisch-fröhlich-aufbauende Optimismus der Ratgeberliteratur ist auch in ihrem belletristischen Schaffen zu vernehmen und das tut der Geschichte gar nicht gut.
Dabei ist der Start in diese Jungenstory nicht schlecht. Der etwa12-jährige Frederik ist erst ratlos, um nicht zu sagen entsetzt: Der ungeliebte Musiklehrer, bei dem Frederik als musikalische Null abgeschrieben ist, wird vorübergehend durch eine junge Lehrkraft vertreten, die den Musikunterricht der 6. Klasse gründlich umkrempelt. Sie lässt durch ein Losverfahren Gruppen bilden, die die Aufgabe erhalten, gemeinsam zu Hause jeweils kleine musikalische Darbietungen ihrer Wahl zu erarbeiten. Für Frederik eine Tortour, da er sich nichts zutraut und noch dazu durch das Losverfahren mit Klassenkameraden zusammengewürfelt wird, die er bislang auf das Strengste gemieden hat, beziehungsweise meiden musste, um nicht bei anderen in Ungnade zu fallen.
Lydia Hauenschild lässt jetzt ihren zunächst reichlich Komplex beladenen Helden Lernprozesse in zweifacher Hinsicht durchmachen. Erstens: Abgrenzungen von fest gefügten Cliquen zu durchbrechen, kann neue Freundschaften stiften. Zweitens: Entdecke Dein Talent! Unmusikalische Kinder gibt es nicht!
Bis es so weit ist und Frederik als Drummer einer frisch gegründeten Band
brilliert, passiert noch allerhand Komisches, was nicht zuletzt Lydia Hauenschilds Talent zuzuschreiben ist, typische umgangssprachliche Redewendungen Jugendlicher wirkungsvoll - gern auch als Kontrastmittel zur Erwachsenenwelt - einzusetzen.
Hier die Szene, als Frederik von Daniel, einem Mitglied der neuen Musikarbeitsgruppe, von zu Hause abgeholt wird:
"Plötzlich quietschten Fahrradbremsen und ein Schwall Kiesel spritzte mit lautem Klackern gegen den Gartenzaun. "Boh, hammerheiß heute!" rief Daniel zu Frederik rüber. "Los, Alter! Wir zischen ab!" Was war denn das eben!?" Frederiks Vater lugte erschrocken aus der Garage und starrte auf Daniels Stacheln, bevor sein Blick weiter zu Daniels kanariengelbem T-Shirt wanderte, auf dem in riesigen Lettern FUCK geschrieben stand." Wer um Himmels willen ist das?!" - "Darf ich vorstellen: Das ist Daniel", erklärte Frederik trocken und verbarg seine Freude über das Entsetzen seines Vaters hinter einer gleichgültigen Miene."
Das liest sich amüsant, gerinnt aber - zuviel davon genossen - zu Klischees im Inhaltlichen wie im Sprachlichen. Dass Frederik aufgrund seiner vermeintlichen Unmusikalität auch in seiner Familie - zumindest in den Augen seines Vaters - das schwarze Schaf ist, wirkt so unglaubwürdig, wie seine Sprüche abgedroschen und aufgesetzt bieder, zum Beispiel, dass manche Mädchen aussähen als seien sie in den Tuschkasten gefallen oder Jungs Hosen anhätten, die aussähen als hätten sie hinein gemacht. Hier wird im Grunde genommen der platteste aller Konflikte konstruiert: ein konservativer, weltfremder Vater, der nur klassische Musik hört und nur Geigen- und Klavierunterricht akzeptiert, gegen einen Heranwachsenden, der sich unterdrückt fühlt in seiner Begeisterung für Boy-Groups und Schlagzeug. Aber schließlich triumphiert der missratene Sohn auf seinem eigenen Gebiet und überzeugt den letztendlich schmunzelnden Vater. Ein Happy End wie in der Familienserie.
Auch eher von der unterhaltsam-amüsanten Sorte ist Simon Cheshires Roman "Ich im Lift mit Lisa!" Der Plot und die Rahmenhandlung sind denkbar einfach konstruiert: In Birminghams größtem Multimediastore bleibt der 15jährige Dominic Smith zusammen mit der Popikone Lisa Voyd, Frontgruppe der fiktiven Band "Plastic", im Fahrstuhl stecken. Dominic hatte sich während dieser Werbe- und Autogrammstunde einfach an ihre Fersen geheftet, um einmal ganz in der Nähe seines großen Idols zu sein. Während des mehrstündigen Zwangsaufenthaltes im engen Fahrstuhl beschreibt Dominic den Wandlungsprozess, der sich da im Denken eines fanatischen Fans einerseits, also bei ihm selbst, und eines vom Business ausgelaugten und desillusionierten Popstars anderseits, vollzieht. Durchbrochen wird die unmittelbare Gegenwart des Fahrstuhlaufenthaltes, die sich schließlich quälend langsam hinzieht und durch Zeitangaben dokumentiert wird, durch Rückblenden des Ich-Erzählers Dominic. Auch Lisa erzählt in einem eigenen Kapitel über ihre freudlosen Aufenthalte in Hotels während einer Tournee.
Das Überzeugende an Chesires Buch ist, dass er Witz und Tragik dieser beiden Figuren, die als Fan wie auch als Star auf unterschiedliche und doch komplementäre Weise in ihrem Leben feststecken - was der Fahrstuhl versinnbildlicht - dass er das erzählerisch gekonnt in der Balance hält. Es ist eben nicht frei von Komik, aber auch gleichzeitig beängstigend, wie weit es ein Fan mit seiner Anbetung einer Popgröße treiben kann.
"Mein Leben bekommt eine ganz Qualität. Es ist, als hätte ich bisher nur von Wasser und Brot gelebt und stünde nun in einem feinen Restaurant mit hunderten von leckeren Gerichten zur Auswahl. Plastic macht den Alltagstrott um vieles erträglicher. Alles erscheint wie durch eine rosarote Brille. Man findet sich mit dem ganzen Mist ab, weil man weiß, dass das alles keine Rolle spielt, jedenfalls nicht im Vergleich mit den wichtigen Dingen des Lebens. Schule und Zuhause und Arbeit und Wochenenden - sie alle werden von Musik begleitet. Für jede Gelegenheit gibt es einen eigenen Sound. Plastic muntert mich auf, wenn mein Tag mies ist, zu Plastic singe ich, wenn mein Tag gut ist. Du findest immer einen Song, der zu dem passt, was gerade abgeht. Plastic ist der Soundtrack zu meinem Leben."
Der 41jährige britische Rundfunkjournalist und Jugendbuchautor Simon Cheshire findet für diese Unbedingtheit des Fan-Daseins immer wieder schrille Bilder und Zuspitzungen, wenn er zum Beispiel die abstrusen Recherchen eines Fanclubs beschreibt oder seinen enthusiasmierten Helden Dominic mit knapper Not an einem höchst peinlichen Schulauftritt vorbeischliddern lässt, bei dem er vorhatte, Lisa Voyd, seine "coole
Königin des Pop", ernsthaft zu imitieren.
Das Buch hat Witz, Tempo, eine flotte, pointenreiche Sprache - ohne anzubiedern - aber ein literarisch herausragendes Beispiel für ein Jugendbuch, das sich mit Popmusik und Jugendkultur beschäftigt, ist es nicht geworden. Dazu kommt die Läuterung der beiden Eingeschlossenen am Schluss der Geschichte etwas zu glatt und widerspruchsfrei daher. Und auch der wortidentische Auftritt der beiden Elternteile im Zimmer Dominiques, die wegen ihrer Berufstätigkeit vom schlechten Gewissen geplagt, sich nach der Befindlichkeit ihres Sohnes erkundigen, taugt noch nicht mal als Satire. Diese Elterninstanz als Negativposten darf offensichtlich niemals fehlen, und sei es in seiner untauglichsten Variante - als Parodie oder Ulk-Nummer.
Und noch eine kritische Anmerkung, die auf den ersten Blick marginal erscheint, aber unbedingt etwas mit unserem Thema zu tun hat: Wenn ein Jugendbuch von Popmusik handelt, muss offensichtlich unbedingt etwas Flottes her, um die Kapitel zu kennzeichnen. Da reicht es dann nicht, Erstes Kapitel, Zweites Kapitel und so weiter zu schreiben ... Nein: "Track 1" und "Track 2" muss da stehen! Vielleicht wird sich die Masche einmal totlaufen, die auch Simon Cheshire bedient. Zumindest sollte man sich etwas Intelligenteres ausdenken, wenn man als Autor die Machart von Popmusik, das Abspielen oder Hören von Songs und das Betrachten und Konsumieren von CDs in Literatur überführen will. Und damit sind wir beim nächsten Buch, das in dieser Hinsicht mit einigen Möglichkeiten experimentiert.
"Die Störe schwammen oben, wie immer, suchten nach Futter. Die kleinen Welse schoben sich wie Staubsauger mit dem Maul über die Glaswände. Und auch der Aal, der tagsüber sonst schlief, schlängelte sich durch die Wasserpflanzen. Das Wasser, das durch die Leuchtröhren und Algen eigentlich hellgrün gefärbt war, hatte jetzt einen leichten Rotstich."
"Das Aquarium war fast zwei Meter lang, Mira passte problemlos hinein. Ihre Haare bewegten sich in den aufsteigenden Luftblasen. Dort, wo der Aal kleine Löcher in ihren Körper gebissen hatte, quoll in feinen Wolken Blut ins Wasser. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, als suchte sie etwas auf dem Grund des Aquariums."
- Das so genannte "Intro" des wie eine Doppel-CD aufgebauten Romans "Crazy Diamond" von David Chotjewitz. Schon allein der Titel des Buches ist eine Anspielung auf einen der großen Songs der Popgeschichte: "Shine On You Crazy Diamond" von Pink Floyd und die Aussage dieser vermutlichen Hommage an ein Bandmitglied, das am Erfolgs- und Drogenrausch kaputt ging, korrespondiert mit der Geschichte von Mira, die als Popsängerin einen Schwindel erregenden Aufstieg in die Charts bis zum Auftritt bei den MTV Awards in Barcelona erlebt und am Schluss tot in einem Aquarium ihres Hamburger Appartements liegt.
Der Anspielungsreichtum der als Tracks gekennzeichneten Kapitelüberschriften auf Songs von Popstars wie Nelly Furtado oder Christina Aguilera entspricht die Mischung der Erzählerstimmen. Das heißt, es gibt eine durchgängige Erzählstimme, die jedoch von Mira, und zwar von der toten Mira aus der rückblickenden Perspektive, immer wieder unterbrochen wird, beziehungsweise sie greift den lose hängenden Erzählfaden des vorherigen Kapitels auf, um ihn weiterzuführen oder korrigierend einzugreifen.
Dieses Ineinandergreifen von Erzählstimmen erinnert an das Platten auflegen und Mischen verschiedener Songs und Stile eines DJs. Das ist geschickt gemacht, verlangt aber einem, sagen wir einmal 14-jährigen Leser erhebliche Konzentration ab. Was über die Kompliziertheit des Aufbaus hinweghilft, das ist der Spannungsbogen, der sich daraus ergibt, dass Mira am Anfang tot im Aquarium liegt und die Frage zu lösen ist, was zu ihrem Tode führte.
Die Geschichte von Mira und ihren Freunden Rosa, Melody, Zucka, Jackson und Kralle, die nun entfaltet wird, lässt bis zum Schluß alle Möglichkeiten offen. Sie kann ermordet worden sein, was nicht ganz abwegig ist, weil Melody, selbst ein vom Produzenten abgehalftertes Pop-Sternchen eifersüchtig ist und mit Mira um die Urheberschaft eines Erfolgssongs und dem finanziellen Gewinn daraus streitet. Sie kann Selbstmord begangen haben, denn Mira ist von ihrer Blitzkarriere und durch die erfolgsgeilen Umtriebe ihres Produzenten völlig aufgerieben, nimmt Alkohol, Speed und Schlaftabletten in flottem Wechsel und hört schließlich Stimmen in ihrem Appartement. Es kann auch ein Unfall gewesen sein - was lange Zeit angesichts des kulminierenden Konfliktpotentials als die unwahrscheinlichste Möglichkeit erscheint.
David Chotjewitz berührender Roman "Crazy Diamond" kommt wie ein Krimi daher - was allerdings immer wieder konterkariert wird durch die ruhige, sachliche , unaufgeregte Erzählstimme der toten Mira, die ja den gesamten Ablauf und Sachverhalt kennt - im Gegensatz zu ihren Freunden. Das hat allerdings den Nachteil, dass die Perspektiven der anderen Figuren nur eine untergeordnete Rolle spielen. Als Theaterstück, auf dem diese Geschichte auch tatsächlich als Gemeinschaftsarbeit des Autors mit Jugendlichen basiert, ist so eine Konstruktion gut vorstellbar. Aber in eben diesem Roman hätte man sich die wechselnden Perspektiven der Freunde Miras hinzugewünscht. Zumal sie in diesem Buch eine Art Schicksalsgemeinschaft, eine Ersatzfamilie bilden. Allesamt fast noch Kinder und doch schon als Looser gezeichnet: drei von ihnen Schwarze, mit einem Containerschiff nach Hamburg geschmuggelt und hier in die kalte Großstadt gespült, eine weitere obdachlos, die in einem Bauwagen Unterschlupf findet und Mira selbst, ein elternloses Flüchtlingskind aus dem zerfallenden Jugoslawien. Bei dieser Verbindung von Elend, Verlassenheit und verbissenen Aufstiegswünschen, die sich an ein bisschen Stimme und gutes Aussehen klammern, sind eigentlich nicht die Todesumstände Miras wirklich wichtig, sondern die Zusammenführung verschiedener Sichtweisen, die eben als einzelne aufgrund ihrer eingeschränkten Perspektive nicht alles erklären können.
"Hey, Mika auf Radio Gaga"
"Ich habe euch polnische Rockmusik mitgebracht und was aus Spandau, das mir jemand gestern gemailt hat. Ein total verrücktes Ding. (...) Gestern gab es noch eine heiße Diskussion per Mail, nachdem ich Nirvana gespielt hatte. Und ich bleibe dabei, dass man bei jedem Stück schon die Kugel im Kopf hört. Und das ist doch völlig in Ordnung so. Wieso ist euch das zu esoterisch? Das ist Physik. (...) Zeit ist relativ und diese ganzen Songs sind nur ein einziger auseinander gezogener Schuss! Peng. Die Frage, was vorher war, der Schuss oder die Musik, keine Ahnung. Ich spiele einfach noch einen Song."
In Katrin Bongards vor kurzem mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichneten Jugendromandebüt "Radio Gaga" geht es nicht vorrangig um Stars, Karrieren, Bands oder Popsongs, sondern um einen Berliner Piratensender, der von einem Wachturm aus im ehemaligen Todesstreifen der einst geteilten Stadt mit frechen Sprüchen und cooler Musik "etwas Unordnung in die Radiolandschaft" bringt.
Das Buch passt nicht ganz rein in unsere Abfolge. Aber es streift das Thema zumindest, da es Einblick gewährt in das Lebensgefühl von Großstadtkindern, die, in kaputten, problematischen oder unvollständigen Familien aufgewachsen, im Kreise etwa Gleichaltriger mit ähnlichem Musikgeschmack und ähnlicher sozialer Prägung Orientierung und Halt suchen. Außerdem ist es ein gutes Buch.
Der 16jährige Rocco, gerade mit seiner deutschen Mutter und seinem italienischen Vater sowie mit dem älteren Bruder Giovanni von München nach Berlin umgezogen, hört eines Tages zufällig "Radio Gaga" und die Stimme von Mika und ist wie elektrisiert. Er macht den Piratensender ausfindig und nach anfänglichem Misstrauen wird er in die Gruppe aufgenommen. Der Ich-Erzähler Rocco merkt, je mehr er in die Gruppe integriert wird und die Mitglieder auch vor dem Mikrofon Persönliches von sich preisgeben, wie existentiell für jeden einzelnen - auch für Rocco - diese Erfahrung von Gemeinschaft, Liebe, und Vertrauen ist.
Katrin Bongartz macht aber nicht den Fehler, die Erwachsenenwelt pauschal für diese Heimat suchenden Jugendlichen verantwortlich zu machen. Sensibel und behutsam zeichnet sie exemplarisch an Roccos Zuhause ein Familienportrait, das gekennzeichnet ist von übergroßer, gut gemeinter Toleranz, die aber zur Verzweiflung aller fast in der Katastrophe endet. Katrin Bongartz Botschaft ist, wenn man überhaupt hier von einer Botschaft sprechen kann, dass in der heutigen zersplitterten Welt Jugendlichen oft keine andere Wahl bleibt, als in der Gemeinschaft ihresgleichen Werte auszubilden, für die es sich zu leben lohnt. - Ein starkes Debüt.
Und auch unser fünftes Buch zeichnet kein rosiges Bild von Kindheit, Jugend und Familie. Im Gegenteil. Mit Han Nolans Jugendroman "Born Blue" werden wir noch tiefer hineingeführt in einen Sumpf aus sozialer Aussichtslosigkeit, seelischer Verwüstung und erbarmungslosem Überlebenskampf. Und hier spielt auch wieder die Musik als Chance, sich selbst am Schopf aus dem Abgrund zu ziehen, ein zentrale Rolle. Keines der bisher genannten Bücher bringt eine jugendliche Existenz mit Musik nicht nur als Karrieremöglichkeit sondern auch als Lebenselexier, als Gier nach Ausdruck und Befreiung so radikal und so überzeugend miteinander in Beziehung wie dieses Buch der amerikanischen Autorin und ehemaligen Tanzlehrerin Han Nolan. Nur das es hier nicht um Popmusik geht, sondern um die Faszination von Soul, Blues und Jazz, und um Randexistenzen an wechselnden amerikanischen Schauplätzen.
Die junge Janie erzählt hier ihr Leben. Die Mutter drogensüchtig, der Vater unbekannt, lebt sie für einige Zeit - bevor sie wieder weiter geschoben wird in einer schwarzen Pflegefamilie. Der farbige Pflegesohn Harmon ist ihr einziger Halt in diesem Milieu, das geprägt ist durch seelische Grausamkeit, Brutalität und Vernachlässigung. Als Harmon ihr im Keller Kassetten vorspielt mit den Stimmen von Etta James, Aretha Franklin und Billie Holliday - den "Ladys", wie die beiden diese Berühmtheiten künftig nennen, erwacht in Janie der fortan unstillbare, geradezu zwanghafte Wunsch, sich diese Musik mit Leib und Seele zu eigen zu machen. Der Wunsch ist nicht abwegig, denn Janie hat eine bemerkenswerte Stimme. Nur, wenn die ersehnte Mutter sie mal besucht, versagt diese Stimme, als würde sie sich erinnern an dieses Erlebnis als Kleinkind als Mama Linda sie alleine ließ am Strand und sie fast ertrank.
"Doris meinte, du kannst singen", sagte sie, wie sie vom Klo wieder ins Zimmer kam und den Reißverschluss ihrer Jeans hochzog. Sie sah mich an."Na, komm rein und sing was. Mal sehen, was für eine tolle Sängerin ich da habe." Ich rührte mich nicht und sagte nix. Mama Linda stemmt die Hände in die Hüften und sagte "Sing!" Und ihre Stimme klang wütend, ganz plötzlich. "Ich kann nicht singen", sagte ich. "Doris hat gesagt, du hättest eine schöne Stimme. Also los, mach schon, Mäuschen, sing."
"Ehe ich wusste, was los war, stieß Mama Linda mich zur Tür raus, zerrte mich zurück zum Auto und wir fuhren mit kreischenden Reifen vom Parkplatz weg und wieder auf die Autobahn. "Du willst also nicht singen. Dann bringe ich dich eben zurück zu Patsy.
Dann machen wir es eben so, okay? Singst du?" Ich schüttelte den Kopf, das Kinn an meine Brust gepresst. So sehr ich mir auch wünschte, dass Mama Linda mich mit zu sich nach Hause nahm. Ich konnt's einfach nicht.(...)"
"Mama Linda raste zurück zum Stinkhaus. (...) Ich stieg aus und sie fuhr weiter, langsam, wie wenn sie dachte, ich käme hinterhergerannt. (...) Ich lief einfach weiter (...) Und dabei sang ich , denn das Einzigste, was gegen dieses Hungerübelkeitsgefühl half, war Singen."
Und fortan verfolgt dieses Mädchen die Spuren der großen Blues- und Soulsängerin Etta James bis zur fast völligen Selbstzerstörung durch Drogen und Rücksichtslosigkeit gegen sich und andere. Han Nolans Heldin ist keineswegs eine durchweg bemitleidenswerte und sympathische Figur. Mit ihrer demonstrativ flapsigen Sprache und schnörkellosen Erzählweise, die sich Emotionen weitgehend verbietet und doch sich pausenlos schonungslos selbst entblößt, provoziert sie beim Leser geradezu Aggressionen. Dieses Mädchen muss permanent zerstören, was sie gerade hoffnungsvoll begonnen hat. Sie saugt die Menschen aus, die ihr helfen wollen, sie ruiniert jeden Ansatz einer möglichen Gesangskarriere. Erst als sie schwanger wird, ein Mädchen zur Welt bringt und die Wiederholung des Schicksals ihrer Mutter allzu offensichtlich wird, hält Janie inne. Ein kleiner Hoffnungsschimmer wird sichtbar, aber kein Happy End.
Die Geschichte zieht ihre überzeugende Wucht aus der stimmigen Verschmelzung ihrer Figuren mit dem Milieu, in dem sie sich bewegen und mit der Musik, der ihren verzweifelten Träumen Ausdruck verleiht. Hier wird nicht gepredigt oder moralisiert. Aber was deutlich spürbar ist in diesem Buch von Han Nolan, das ist ihr Glaube an die Kraft der Einsicht und der Selbsterkenntnis - und an die mitreißende Magie des Gesangs.
Katrin Bongard: "Radio Gaga"
Beltz & Gelberg
337 Seiten, 12,90 Euro (ab 13 J.)
Simon Cheshire: "Ich im Lift mit Lisa"
Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt
Beltz & Gelberg
176 Seiten, 7,90 Euro (ab 12 J.)
David Chotjewitz: "Crazy Diamond"
Carlsen
320 Seiten, 14,00 Euro (ab 14 J.)
Lydia Hauenschild: "Stixx on Stage"
ars edition
169 Seiten, 9,90 Euro (ab 10 J.)
Han Nolan: "Born Blue"
Aus dem Amerikanischen von Salah Naoura
Carlsen
256 Seiten, 13,00 Euro (ab 14 J.)