Freitag, 03. Mai 2024

Archiv


Gefangenengesänge

Es geht um Macht, in beiden der selten gespielten Opern-Einakter, und der Librettist und Komponist Luigi Dallapiccola ist immer auf der Seite der Leidenden. Im Mittelpunkt von "Volo di notte", Nachtflug, des frühen, auf Saint-Exupérys Roman basierenden und schon vor dem 2. Weltkrieg entstandenen Werks, steht Rivière, der Direktor einer Fluggesellschaft. Der hatte in der Pionierzeit des Fliegens, um den Postverkehr zu beschleunigen, Nachtlüge angeordnet und schreckte auch nicht davor zurück, Menschen für das große Ziel des technischen Fortschritts zu opfern. Gefühle haben in diesem Leben keinen Platz, Zweifel, die - nur - Dallapiccolas Musik malt, unterdrückt er automatisch. Der nächste Kurier wird pünktlich starten, obwohl gerade ein Pilot den Kampf gegen heftige Unwetter verliert und abstürzt. Weder die Piloten noch die Techniker wagen es, sich Rivières Anordnungen zu widersetzen, zu groß ist die Sorge um den Job, zu ausgeklügelt sein Angst-Apparat.

Von Cornelie Ueding | 07.06.2004
    Noch viel abgefeimter sind die Methoden des mit dem Großinquisitor identischen Kerkermeisters im zweiten Werk des Abends, des 1949 ur-aufgeführten "Il prigioniero", Der Gefangene, der Adaption einer grausamen Villiers-Geschichte, an der Dallapiccola unter dem Eindruck des Faschismus schon während des 2. Weltkriegs zu arbeiten begann. Die Strategen der Macht setzen sadistisch auf die 'Hoffnungsfolter'. "Fratello", Bruder nennt der Kerkermeister verführerisch den Gefangenen, berichtet ihm von den Aufständen in Flandern und mit ihm kann nun das Publikum nachgerade exemplarisch verfolgen, wie die Hoffnung, in kleinsten Dosierungen angewandt, immense Kräfte im Hoffenden freisetzt: Ein Spalt offen die Tür - und schon nimmt der Gefangene die bedrückende Wirklichkeit unter anderen Vorzeichen wahr, hofft, glaubt, die ganze Welt stünde ihm offen und alle Schranken brächen. Der britische Regisseur Keith Warner und sein Bühnenbildner Kaspar Glarner haben ein ringförmiges Gebäude aus einer Reihe identischer weißer Zellen auf die Drehbühne der Frankfurter Oper gesetzt. Auf dem Weg des Gefangenen in die vermeintliche Freiheit sind diese Zellen mit surrealen Elementen "möbliert": er passiert schief im Raum schwebende Stühle, die symbolbeladene hereingestürzte Rolandglocke, geborstene Schiffsplanken, riesige Flügelfedern,essende Priester und singende Nonnen, landet vor dem Prospekt einer einsamen Gebirsgwelt - doch die Entzauberung folgt auf dem Fuße, der Kerkermeister schwebt aus dem Bühnenhimmel und treibt den Gefangenen zurück in die Todeskammer, wo schon die Totenbahre auf ihn wartet. Zurück durch entleerte Kammern.

    Alles Illusion, Ausgeburten seines Hoffnungswahns, was er zuvor in bläulichem Schimmer gesehen zu haben glaubte und sogar gefürchtet hatte. Diese Flucht durch die Zimmerfluchten gewinnt durch den grandiosen, stürmisch gefeierten Sängerdarsteller Lucio Gallo eine solch suggestive Kraft, dass die Zuschauer buchstäblich mit dem Gefangenen diese Räume und Träume von einer entsetzlichen Unentrinnbarkeit durchmessen, ertasten, durcheilen, gelockt und gepeinigt von einer Glücksvision: Leben, Freiheit, Zukunft. Und lange wissen nur die Zuschauer, dass alles Täuschung ist.

    Ein großer Abend, auch wenn Warner zuvor für "Volo di notte" eine weniger glückliche Hand bewiesen hatte. Dort zitiert er nicht nur das Maschinentheater des Expressionismus, bewegt in einem fort nicht nur die Drehbühne und die einzelnen Flughafenkontrolltürme, sondern er bewegt die Figuren, besonders Rivière, der permanent mit erhobenen Flügelarmen rudern muss, auch wie Maschinen. So dass nicht nur der Regisseur, sondern vor allem die Bühnenfiguren als Gefangene einer allzu schematischen Konzeption erscheinen, statt die ambivalenten affektiven Valeurs der Partitur auch darstellerisch zu entfalten. Freilich: eine kleine Einschränkung angesichts dieser von Martyn Brabbins musikalisch feinsinnig aufgefächerten und hinreißend gesungenen, von Angst- und Hoffnungsklängen durchsetzten Latenzmusik des großen melodischen Zwölftöners mit ihren bestürzenden dynamischen Sturm-, Flut- und Affektwellen.