Es ist schwer zu begreifen: Gegen Ende der Amtszeit des russischen Präsidenten Putin ergab eine repräsentative Umfrage, dass fast ein Drittel der Wahlberechtigten für Stalin stimmen würde, wenn er denn noch leben und für das Amt des Präsidenten kandidieren würde. Während noch Anfang der neunziger Jahre und unter dem Eindruck zahlreicher und dokumentarisch belegter Veröffentlichungen zu Formen und Folgen des Stalinschen Terrorregimes das Bild des Diktators die ihm gemäßen harten Konturen und düsteren Farben erhielt, hellt es sich mittlerweile wieder auf, verändern sich auch seine Umrisse - planmäßig, wie es den Anschein hat, initiiert von interessierter Seite.
"In Russland findet derzeit eine intensive Mythologisierung der sowjetischen Vergangenheit statt. Diese Mythologisierung schließt auch die Stalin-Ära ein und berührt gerade die heutige Jugend, die knapp drei Generationen von dieser Vergangenheit entfernt ist.
Umso leichter werden die jungen Menschen ... Opfer dieser Instrumentalisierung. Die Erinnerung an die politischen Repressionen wird ... zunehmend marginalisiert. Im Bewusstsein unserer Jugend nisten sich Versatzstücke aus altem sowjetischen Denken und neuem national-patriotischen oder gar offen faschistischem Denken ein..."
schreibt die Historikerin Irina Schtscherbakowa, die Leiterin des Bildungsprogramms von Memorial, jener Vereinigung, die sich die Aufarbeitung der Vergangenheit ebenso zur Aufgabe gemacht hat wie die ständige Anmahnung der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die russische Gesellschaft. Unter der Überschrift "Erinnerung in der Defensive" beschäftigt sich Frau Schtscherbakowa mit dem, was Jugendliche heute mit Begriffen wie "Gulag" und "Repression" verbinden - mit Bezeichnungen also, die zu Synonymen für die Verbrechen des Stalinismus geworden waren. Übrigens war es die Vereinigung Memorial, die im April den 70. Jahrestag des Beginns des sog. Großen Terrors zum Anlass nahm, in Thesen auf die Lehren daraus für Russland, aber eben auch für die Welt aufmerksam zu machen:
"Gulag, Kolyma, 1937 - das sind ebensolche Symbole des 20. Jahrhunderts wie Auschwitz und Hiroshima. Sie gehen über die Grenzen des historischen Schicksals der UdSSR oder Russlands hinaus und werden zu einem Zeugnis für die Brüchigkeit und Labilität der menschlichen Zivilisation, für die Relativität der Errungenschaften des Fortschritts, zu einer Warnung vor der Möglichkeit künftiger katastrophaler Rückfälle in die Barbarei. Deshalb muss die Diskussion über den Großen Terror ebenfalls über den nationalen Rahmen hinausgehen..."
In der Tat, was wissen wir, was weiß die Welt anzufangen mit: Gulag, Kolyma, 1937? - Vielleicht, dass uns "Gulag" seit Erscheinen von Alexander Solshenizyns voluminösem Werk "Der Archipel Gulag" im Jahre 1974 noch etwas sagt: als System aus über die Landkarte der einstigen Sowjetunion verstreuten und isolierten Arbeitslagern, abgeschieden ähnlich Inseln eines Archipels eben. Aber Kolyma - eigentlich doch der Name eines Flusses im fernen Nordosten Sibiriens, auf der Höhe Kamtschatkas?
"Im Labyrinth der Lager ist die Kolyma das letzte und unterste Bollwerk der Hölle", ...
schrieb einst Andrej Sinjawski. Doch wie sah sie aus, diese Hölle? Was machte sie dazu? Warum ist sie uns, ist sie sogar den Russen so fern und fremd geblieben? Im literarischen Untergrund der Sowjetunion zirkulierten doch schon während der siebziger Jahre "Erzählungen aus Kolyma"; und Stücke daraus wurden auch im Westen gedruckt. Erst in den neunziger Jahren erschienen sie - mehr oder weniger vollständig - auch in russischen Verlagen. Aber hier wie dort fanden sie nur eine begrenzte Aufmerksamkeit. Und auch angesichts dessen stellt sich die Frage nach dem Warum.
Es gibt viele Antworten. Sie liegen zum einen in der Persönlichkeit des Verfassers Warlam Schalamow, zum anderen in der Form seiner Erzählungen, schließlich auch an Umständen und Zeit ihrer Veröffentlichung. Erst dieser Tage ist übrigens der erste Band der "Erzählungen" unter dem Titel "Durch den Schnee" in Deutschland erschienen - ein schwieriges Unterfangen, ein Wagnis fast.
Es ist das Verdienst der Zeitschrift OSTEUROPA, nun auf Schalamow aufmerksam zu machen und in Verbindung damit all die aufgeworfenen Fragen gründlich zu beantworten wie auch andere Facetten des Großen Terrors darzustellen und zu analysieren. "Das Lager schreiben - Warlam Schalamow und die Aufarbeitung des Gulag" sind die rund 450 Seiten überschrieben, mit Unterabteilungen wie "Dimensionen des Gulag" und "Der Schatten des Gulag". Bis auf einen Franzosen sind es deutsche und russische Autoren, die sich in rund zwanzig Beiträgen also nicht nur des Komplexes Kolyma annehmen, als Symbol und als Synonym für den Terror Stalins und seines Herrschaftssystems.
"Die ... Straflager an der Kolyma bildeten allein wegen ihrer Dimension eine außergewöhnliche 'Insel' im Archipel Gulag der 1930er-1950er Jahre. Diese 'Insel' bedeckte Mitte 1941 ein Zehntel, 1951 gar ein Siebtel des Staatsgebiets der UdSSR. Im äußersten Nordosten Russlands gelegen, ... war der größte Teil dieses Gebiets (bis Mitte der 1930er Jahre) völlig unbewohnt und nicht erschlossen. Auch in der Folgezeit blieben viele Hochgebirgs- und Taigaregionen ein weißer Fleck auf der Landkarte. Bis heute gibt es hier Orte, auf die noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hat."
Auslösendes Moment für die - teilweise - Erschließung des Kolyma-Beckens war die Entdeckung großer Gold- und Zinnvorkommen. Doch während der Gold rush einst Tausende und Abertausende nach Alaska und Kalifornien trieb, musste eine Kommission der Moskauer Parteiführung 1929 feststellen, dass ...
"... wir erhebliche Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Arbeitskräften für den Norden haben. Eine Konzentrierung vieler Tausender von Häftlingen wird uns helfen, die wirtschaftliche Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Nordens voranzutreiben."
Unter schrecklichen Bedingungen: bei drückender Hitze in kurzen Sommerwochen und extremer Kälte während langer und dunkler Wintermonate; bei miserabler Versorgung mit allem, denn jeder Nagel und jedes Gramm Mehl mussten - wie die Menschen - per Schiff aus Wladiwostok nach Magadan geschafft werden, und der Transport war nur einige Monate im Jahr möglich; ausgesetzt einer ausschließlich auf Normerfüllung fixierten Lagerbürokratie, koste es, was es wolle.
"Der Tod durch Arbeit - nicht nur durch Hunger, Kälte oder Erschießungen - lag im Kalkül der politischen Macht. In den Lagern kursierte nach 1945 das Stichwort vom 'Auschwitz ohne Öfen'..."
... heißt es bei Franziska Thun-Hohenstein, die auch die "Erzählungen aus Kolyma" herausgegeben und mit einem Nachwort versehen hat. Und Schalamow schrieb nach vierzehn Jahren an der Kolyma in einem Brief:
"Wenn ich mein Leben wiederholen müsste, würde ich - obwohl ich nach meiner Rückkehr und den heutigen Begegnungen große Freude empfinde -, in Erinnerung an alles, was ich ertragen musste, meinem Leben irgendwo auf dem Schiff ein Ende setzen, noch vor der Ankunft in Magadan."
Von 1931 bis zur Auflösung der meisten Lager Mitte der fünfziger Jahre lässt sich für das Kolyma-Becken eine Gesamtzahl von rund 870.000 Häftlingen dokumentarisch belegen, von denen etwa 130.000 durch Hunger, Kälte und Krankheit ums Leben kamen; nach der Aktenlage wurden zudem 11.000 Häftlinge erschossen.
Allerdings war das erste große Bauvorhaben auf der Basis von Zwangsarbeit eine Wasserstraße, die das Weiße Meer mit der Ostsee verband - ein Kanal von 227 Kilometern Länge mit 19 Schleusen in einer der Kolyma-Region ähnlich unwirtlichen und unbesiedelten Gegend. Zwischen 126.000 und 170.000 Häftlinge gruben binnen zweier Jahre mit nichts mehr als mit Spaten und Schippen das Bett des Kanals und warfen 49 gewaltige Dämme auf. Mindestens 25.000 starben, etwa 10.000 gelang die Flucht. Als "Großbauwerk des Sozialismus" gefeiert - und von korrupten Literaten besungen - war es ein wirtschaftlich völlig unsinniges Projekt: Mehr als sechs Monate war der Kanal zugefroren, die Schleusen mussten ständig erneuert werden, ein parallel verlaufender Schienenstrang nahm fast den gesamten Gütertransport auf.
Zu diesen beiden Komplexen ließen sich noch andere nennen, anhand derer das Gulag-System primär als Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung gesehen wurde, beispielsweise die weit nördlich des Polarkreises liegenden Zwangsarbeitslager um die Kohlegruben von Workuta.
Mittlerweile jedoch ist diese Auffassung mit einem Fragezeichen zu versehen. Der französische Historiker Nicolas Werth hatte die Möglichkeit, an der Seite russischer Kollegen die Geschichte des Gulag auf der Basis bis dahin unter Verschluss gehaltener Akten zu erforschen und in einer siebenbändigen Quellensammlung zu veröffentlichen. Und Werths Fazit lautet:
"Auch wenn der Zwangsarbeit bei der Erschließung der Bodenschätze in den unwirtlichen Gegenden des Landes, wohin kein anderer Mensch freiwillig gegangen wäre, eine erhebliche Bedeutung zufiel, stand ihre repressionspolitische Funktion doch stets im Vordergrund. Bei den Massenrepressionen ging es nie um wirtschaftliche, sondern nur um politische Ziele."
Indessen - so Werth - gehörte die Mehrzahl der Lagerinsassen keineswegs der Kategorie der "Politischen" an, also der der tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner oder auch nur Kritiker des Herrschaftssystems Stalins.
"Vielmehr schwankte der Anteil der 'Politischen' je nach Jahr - mit anderen Worten: in Abhängigkeit von den inneren Spannungen des stalinistischen Regimes - zwischen zwanzig und dreißig Prozent. Doch waren die anderen Häftlinge längst nicht alle Kriminelle im herkömmlichen Sinne des Wortes... Bestraft wurde 'normales' Verhalten 'normaler' Bürger."
Wer aus Hunger ein paar Ähren von abgeernteten Feldern sammelte, wer zu spät zur Arbeit kam, wer seinen Wohnort unerlaubt verließ, wer sich eines kleinen Diebstahls - meist aus Not - schuldig gemacht hatte. Hunderttausende kamen so in die Lager, oft für viele Jahre. Von um die zwanzig Millionen Häftlingen ist häufig die Rede, doch all die...
"... befanden sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gulag, es ist aber jene Zahl, auf die - mit einer Abweichung von wenigen Millionen - derjenige kommt, der die Aufnahmezeit von gut zwanzig Jahren, nämlich von 1930 bis 1953, addiert."
Nicolas Werths Erkenntnisse über Daten und Fakten wie auch die seiner Kollegen mögen ein zunehmend klareres Bild des stalinistischen Repressionsregimes bieten, welchen Torturen aber die Lagerinsassen ausgesetzt waren, welches Elend und Leid ihr Leben Tag um Tag über Jahre hinweg enthielt, wird erst mit Sinjawskis Wort vom "Bollwerk der Hölle" angedeutet.
"Aus dieser Hölle dringt die Stimme von Warlam Schalamow", ...
... heißt es in der Einführung zur Juni-Ausgabe von OSTEUROPA. Und weiter:
"Warlam Schalamow gehört in die Reihe mit Jorge Semprun, Primo Levi und Imre Kertész. Sie alle haben ihre Erfahrungen im Konzentrationslager in literarischen Werken verarbeitet, die zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts zählen. Während Semprun, Levi, Kertész mittlerweile weltweit auf Anerkennung gestoßen sind, ist Warlam Schalamow ... immer noch weitgehend vergessen... Dabei gehören die Werke ... zu dem Eindrücklichsten und Besten, was je über die Zerstörung des Menschen durch Menschen im Namen des Staates geschrieben wurde."
Und auch dies bleibt festzuhalten:
"Während die Erinnerung an die Opfer der Shoa eine globale geworden ist und Eingang in die Massenkultur gefunden hat, ist die Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Massenvernichtung regional begrenzt. Zeugnisse über den Holocaust finden ein größeres Echo als Zeugnisse über den Gulag. Während wir über Auschwitz fast alles wissen, wissen wir über Kolyma so gut wie nichts."
Selbst und gerade auch in Russland. Es hat den Anschein, als ob das Regime Putin den Terror der Stalinzeit geradezu planmäßig vergessen lassen möchte. Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" jedenfalls wurden aus dem Kanon für den Literaturunterricht gestrichen - zugunsten übrigens von Nikolaj Ostrowskis Roman "Wie der Stahl gehärtet wurde", dem Muster des von Stalin verordneten "sozialistischen Realismus".
Dietrich Möller über: "Das Lager schreiben. Varlam Salamov und die Aufarbeitung des Gulag", OSTEUROPA, Nr. 6/2007, Berliner Wissenschaftsverlag, EUR 24,00.
Die Hölle auf Erden hat viele Namen. Einer lautet: Norilsk. Norilsk - ein Ort am Ende der russischen Welt, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises; ein Ort mit durchschnittlich 253 Frosttagen im Jahr, mit Temperaturen zwischen minus 25 und minus 30 Grad Celsius im Januar, in dem Schneestürme und Windgeschwindigkeiten von über 30 m/s keine Seltenheit sind.
Norilsk ist ein Eiskeller, eine Schatzkammer, angefüllt mit gewaltigen Buntmetallvorkommen - und eine moderne Industriestadt, gebaut auf den Knochen hunderttausender Häftlinge.
Eine eindrucksvolle Gedenkstätte am Rande der Stadt erinnert an jene, die lebten, litten und umkamen in der Hölle von Norilsk.
"Das ist die erste Begrabung, wo die ersten Leute gestorben sind. Das ganze Territorium war ein Konzentrationslager. Das Konzentrationslager gab es von 1935 bis 1956. Während aller dieser Jahre waren da mehr als 500.000 Menschen. Hier sind mehr als 70.000 Menschen gestorben."
Der junge Historiker Simon Ertz, derzeit Doktorand am History Department der Stanford University in Kalifornien, hat die faszinierende, die grausame Geschichte von Norilsk erforscht und aufgeschrieben. Titel seines Buches: "Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem. Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935 - 1953", Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006, EUR 48,00. Prädikat: äußerst lesenswert - "Gulag"-Literatur auf solidem Fundament, ein bewegendes, herausragendes Werk der Leidensgeschichte der Menschheit im 20. Jahrhundert.
Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählungen aus
Kolyma I, Verlag Matthes & Seitz
Berlin, Berlin 2007, 336 S.,
EUR 19.80, 336 S., ISBN 978-3-88221-600-4
Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Osteuropa. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2007, 440 S., EUR 24.00, ISSN 0030-6428
Simon Ertz: Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem. Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935 - 1953. Duncker & Humblot, Berlin 2006, 273 S., EUR 48.00, ISBN 978-3-428-11863-2
"In Russland findet derzeit eine intensive Mythologisierung der sowjetischen Vergangenheit statt. Diese Mythologisierung schließt auch die Stalin-Ära ein und berührt gerade die heutige Jugend, die knapp drei Generationen von dieser Vergangenheit entfernt ist.
Umso leichter werden die jungen Menschen ... Opfer dieser Instrumentalisierung. Die Erinnerung an die politischen Repressionen wird ... zunehmend marginalisiert. Im Bewusstsein unserer Jugend nisten sich Versatzstücke aus altem sowjetischen Denken und neuem national-patriotischen oder gar offen faschistischem Denken ein..."
schreibt die Historikerin Irina Schtscherbakowa, die Leiterin des Bildungsprogramms von Memorial, jener Vereinigung, die sich die Aufarbeitung der Vergangenheit ebenso zur Aufgabe gemacht hat wie die ständige Anmahnung der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die russische Gesellschaft. Unter der Überschrift "Erinnerung in der Defensive" beschäftigt sich Frau Schtscherbakowa mit dem, was Jugendliche heute mit Begriffen wie "Gulag" und "Repression" verbinden - mit Bezeichnungen also, die zu Synonymen für die Verbrechen des Stalinismus geworden waren. Übrigens war es die Vereinigung Memorial, die im April den 70. Jahrestag des Beginns des sog. Großen Terrors zum Anlass nahm, in Thesen auf die Lehren daraus für Russland, aber eben auch für die Welt aufmerksam zu machen:
"Gulag, Kolyma, 1937 - das sind ebensolche Symbole des 20. Jahrhunderts wie Auschwitz und Hiroshima. Sie gehen über die Grenzen des historischen Schicksals der UdSSR oder Russlands hinaus und werden zu einem Zeugnis für die Brüchigkeit und Labilität der menschlichen Zivilisation, für die Relativität der Errungenschaften des Fortschritts, zu einer Warnung vor der Möglichkeit künftiger katastrophaler Rückfälle in die Barbarei. Deshalb muss die Diskussion über den Großen Terror ebenfalls über den nationalen Rahmen hinausgehen..."
In der Tat, was wissen wir, was weiß die Welt anzufangen mit: Gulag, Kolyma, 1937? - Vielleicht, dass uns "Gulag" seit Erscheinen von Alexander Solshenizyns voluminösem Werk "Der Archipel Gulag" im Jahre 1974 noch etwas sagt: als System aus über die Landkarte der einstigen Sowjetunion verstreuten und isolierten Arbeitslagern, abgeschieden ähnlich Inseln eines Archipels eben. Aber Kolyma - eigentlich doch der Name eines Flusses im fernen Nordosten Sibiriens, auf der Höhe Kamtschatkas?
"Im Labyrinth der Lager ist die Kolyma das letzte und unterste Bollwerk der Hölle", ...
schrieb einst Andrej Sinjawski. Doch wie sah sie aus, diese Hölle? Was machte sie dazu? Warum ist sie uns, ist sie sogar den Russen so fern und fremd geblieben? Im literarischen Untergrund der Sowjetunion zirkulierten doch schon während der siebziger Jahre "Erzählungen aus Kolyma"; und Stücke daraus wurden auch im Westen gedruckt. Erst in den neunziger Jahren erschienen sie - mehr oder weniger vollständig - auch in russischen Verlagen. Aber hier wie dort fanden sie nur eine begrenzte Aufmerksamkeit. Und auch angesichts dessen stellt sich die Frage nach dem Warum.
Es gibt viele Antworten. Sie liegen zum einen in der Persönlichkeit des Verfassers Warlam Schalamow, zum anderen in der Form seiner Erzählungen, schließlich auch an Umständen und Zeit ihrer Veröffentlichung. Erst dieser Tage ist übrigens der erste Band der "Erzählungen" unter dem Titel "Durch den Schnee" in Deutschland erschienen - ein schwieriges Unterfangen, ein Wagnis fast.
Es ist das Verdienst der Zeitschrift OSTEUROPA, nun auf Schalamow aufmerksam zu machen und in Verbindung damit all die aufgeworfenen Fragen gründlich zu beantworten wie auch andere Facetten des Großen Terrors darzustellen und zu analysieren. "Das Lager schreiben - Warlam Schalamow und die Aufarbeitung des Gulag" sind die rund 450 Seiten überschrieben, mit Unterabteilungen wie "Dimensionen des Gulag" und "Der Schatten des Gulag". Bis auf einen Franzosen sind es deutsche und russische Autoren, die sich in rund zwanzig Beiträgen also nicht nur des Komplexes Kolyma annehmen, als Symbol und als Synonym für den Terror Stalins und seines Herrschaftssystems.
"Die ... Straflager an der Kolyma bildeten allein wegen ihrer Dimension eine außergewöhnliche 'Insel' im Archipel Gulag der 1930er-1950er Jahre. Diese 'Insel' bedeckte Mitte 1941 ein Zehntel, 1951 gar ein Siebtel des Staatsgebiets der UdSSR. Im äußersten Nordosten Russlands gelegen, ... war der größte Teil dieses Gebiets (bis Mitte der 1930er Jahre) völlig unbewohnt und nicht erschlossen. Auch in der Folgezeit blieben viele Hochgebirgs- und Taigaregionen ein weißer Fleck auf der Landkarte. Bis heute gibt es hier Orte, auf die noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hat."
Auslösendes Moment für die - teilweise - Erschließung des Kolyma-Beckens war die Entdeckung großer Gold- und Zinnvorkommen. Doch während der Gold rush einst Tausende und Abertausende nach Alaska und Kalifornien trieb, musste eine Kommission der Moskauer Parteiführung 1929 feststellen, dass ...
"... wir erhebliche Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Arbeitskräften für den Norden haben. Eine Konzentrierung vieler Tausender von Häftlingen wird uns helfen, die wirtschaftliche Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Nordens voranzutreiben."
Unter schrecklichen Bedingungen: bei drückender Hitze in kurzen Sommerwochen und extremer Kälte während langer und dunkler Wintermonate; bei miserabler Versorgung mit allem, denn jeder Nagel und jedes Gramm Mehl mussten - wie die Menschen - per Schiff aus Wladiwostok nach Magadan geschafft werden, und der Transport war nur einige Monate im Jahr möglich; ausgesetzt einer ausschließlich auf Normerfüllung fixierten Lagerbürokratie, koste es, was es wolle.
"Der Tod durch Arbeit - nicht nur durch Hunger, Kälte oder Erschießungen - lag im Kalkül der politischen Macht. In den Lagern kursierte nach 1945 das Stichwort vom 'Auschwitz ohne Öfen'..."
... heißt es bei Franziska Thun-Hohenstein, die auch die "Erzählungen aus Kolyma" herausgegeben und mit einem Nachwort versehen hat. Und Schalamow schrieb nach vierzehn Jahren an der Kolyma in einem Brief:
"Wenn ich mein Leben wiederholen müsste, würde ich - obwohl ich nach meiner Rückkehr und den heutigen Begegnungen große Freude empfinde -, in Erinnerung an alles, was ich ertragen musste, meinem Leben irgendwo auf dem Schiff ein Ende setzen, noch vor der Ankunft in Magadan."
Von 1931 bis zur Auflösung der meisten Lager Mitte der fünfziger Jahre lässt sich für das Kolyma-Becken eine Gesamtzahl von rund 870.000 Häftlingen dokumentarisch belegen, von denen etwa 130.000 durch Hunger, Kälte und Krankheit ums Leben kamen; nach der Aktenlage wurden zudem 11.000 Häftlinge erschossen.
Allerdings war das erste große Bauvorhaben auf der Basis von Zwangsarbeit eine Wasserstraße, die das Weiße Meer mit der Ostsee verband - ein Kanal von 227 Kilometern Länge mit 19 Schleusen in einer der Kolyma-Region ähnlich unwirtlichen und unbesiedelten Gegend. Zwischen 126.000 und 170.000 Häftlinge gruben binnen zweier Jahre mit nichts mehr als mit Spaten und Schippen das Bett des Kanals und warfen 49 gewaltige Dämme auf. Mindestens 25.000 starben, etwa 10.000 gelang die Flucht. Als "Großbauwerk des Sozialismus" gefeiert - und von korrupten Literaten besungen - war es ein wirtschaftlich völlig unsinniges Projekt: Mehr als sechs Monate war der Kanal zugefroren, die Schleusen mussten ständig erneuert werden, ein parallel verlaufender Schienenstrang nahm fast den gesamten Gütertransport auf.
Zu diesen beiden Komplexen ließen sich noch andere nennen, anhand derer das Gulag-System primär als Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung gesehen wurde, beispielsweise die weit nördlich des Polarkreises liegenden Zwangsarbeitslager um die Kohlegruben von Workuta.
Mittlerweile jedoch ist diese Auffassung mit einem Fragezeichen zu versehen. Der französische Historiker Nicolas Werth hatte die Möglichkeit, an der Seite russischer Kollegen die Geschichte des Gulag auf der Basis bis dahin unter Verschluss gehaltener Akten zu erforschen und in einer siebenbändigen Quellensammlung zu veröffentlichen. Und Werths Fazit lautet:
"Auch wenn der Zwangsarbeit bei der Erschließung der Bodenschätze in den unwirtlichen Gegenden des Landes, wohin kein anderer Mensch freiwillig gegangen wäre, eine erhebliche Bedeutung zufiel, stand ihre repressionspolitische Funktion doch stets im Vordergrund. Bei den Massenrepressionen ging es nie um wirtschaftliche, sondern nur um politische Ziele."
Indessen - so Werth - gehörte die Mehrzahl der Lagerinsassen keineswegs der Kategorie der "Politischen" an, also der der tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner oder auch nur Kritiker des Herrschaftssystems Stalins.
"Vielmehr schwankte der Anteil der 'Politischen' je nach Jahr - mit anderen Worten: in Abhängigkeit von den inneren Spannungen des stalinistischen Regimes - zwischen zwanzig und dreißig Prozent. Doch waren die anderen Häftlinge längst nicht alle Kriminelle im herkömmlichen Sinne des Wortes... Bestraft wurde 'normales' Verhalten 'normaler' Bürger."
Wer aus Hunger ein paar Ähren von abgeernteten Feldern sammelte, wer zu spät zur Arbeit kam, wer seinen Wohnort unerlaubt verließ, wer sich eines kleinen Diebstahls - meist aus Not - schuldig gemacht hatte. Hunderttausende kamen so in die Lager, oft für viele Jahre. Von um die zwanzig Millionen Häftlingen ist häufig die Rede, doch all die...
"... befanden sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gulag, es ist aber jene Zahl, auf die - mit einer Abweichung von wenigen Millionen - derjenige kommt, der die Aufnahmezeit von gut zwanzig Jahren, nämlich von 1930 bis 1953, addiert."
Nicolas Werths Erkenntnisse über Daten und Fakten wie auch die seiner Kollegen mögen ein zunehmend klareres Bild des stalinistischen Repressionsregimes bieten, welchen Torturen aber die Lagerinsassen ausgesetzt waren, welches Elend und Leid ihr Leben Tag um Tag über Jahre hinweg enthielt, wird erst mit Sinjawskis Wort vom "Bollwerk der Hölle" angedeutet.
"Aus dieser Hölle dringt die Stimme von Warlam Schalamow", ...
... heißt es in der Einführung zur Juni-Ausgabe von OSTEUROPA. Und weiter:
"Warlam Schalamow gehört in die Reihe mit Jorge Semprun, Primo Levi und Imre Kertész. Sie alle haben ihre Erfahrungen im Konzentrationslager in literarischen Werken verarbeitet, die zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts zählen. Während Semprun, Levi, Kertész mittlerweile weltweit auf Anerkennung gestoßen sind, ist Warlam Schalamow ... immer noch weitgehend vergessen... Dabei gehören die Werke ... zu dem Eindrücklichsten und Besten, was je über die Zerstörung des Menschen durch Menschen im Namen des Staates geschrieben wurde."
Und auch dies bleibt festzuhalten:
"Während die Erinnerung an die Opfer der Shoa eine globale geworden ist und Eingang in die Massenkultur gefunden hat, ist die Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Massenvernichtung regional begrenzt. Zeugnisse über den Holocaust finden ein größeres Echo als Zeugnisse über den Gulag. Während wir über Auschwitz fast alles wissen, wissen wir über Kolyma so gut wie nichts."
Selbst und gerade auch in Russland. Es hat den Anschein, als ob das Regime Putin den Terror der Stalinzeit geradezu planmäßig vergessen lassen möchte. Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" jedenfalls wurden aus dem Kanon für den Literaturunterricht gestrichen - zugunsten übrigens von Nikolaj Ostrowskis Roman "Wie der Stahl gehärtet wurde", dem Muster des von Stalin verordneten "sozialistischen Realismus".
Dietrich Möller über: "Das Lager schreiben. Varlam Salamov und die Aufarbeitung des Gulag", OSTEUROPA, Nr. 6/2007, Berliner Wissenschaftsverlag, EUR 24,00.
Die Hölle auf Erden hat viele Namen. Einer lautet: Norilsk. Norilsk - ein Ort am Ende der russischen Welt, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises; ein Ort mit durchschnittlich 253 Frosttagen im Jahr, mit Temperaturen zwischen minus 25 und minus 30 Grad Celsius im Januar, in dem Schneestürme und Windgeschwindigkeiten von über 30 m/s keine Seltenheit sind.
Norilsk ist ein Eiskeller, eine Schatzkammer, angefüllt mit gewaltigen Buntmetallvorkommen - und eine moderne Industriestadt, gebaut auf den Knochen hunderttausender Häftlinge.
Eine eindrucksvolle Gedenkstätte am Rande der Stadt erinnert an jene, die lebten, litten und umkamen in der Hölle von Norilsk.
"Das ist die erste Begrabung, wo die ersten Leute gestorben sind. Das ganze Territorium war ein Konzentrationslager. Das Konzentrationslager gab es von 1935 bis 1956. Während aller dieser Jahre waren da mehr als 500.000 Menschen. Hier sind mehr als 70.000 Menschen gestorben."
Der junge Historiker Simon Ertz, derzeit Doktorand am History Department der Stanford University in Kalifornien, hat die faszinierende, die grausame Geschichte von Norilsk erforscht und aufgeschrieben. Titel seines Buches: "Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem. Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935 - 1953", Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006, EUR 48,00. Prädikat: äußerst lesenswert - "Gulag"-Literatur auf solidem Fundament, ein bewegendes, herausragendes Werk der Leidensgeschichte der Menschheit im 20. Jahrhundert.
Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählungen aus
Kolyma I, Verlag Matthes & Seitz
Berlin, Berlin 2007, 336 S.,
EUR 19.80, 336 S., ISBN 978-3-88221-600-4
Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Osteuropa. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2007, 440 S., EUR 24.00, ISSN 0030-6428
Simon Ertz: Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem. Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935 - 1953. Duncker & Humblot, Berlin 2006, 273 S., EUR 48.00, ISBN 978-3-428-11863-2