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Geheul in den Bergen

Es gibt nicht viele Wölfe in Frankreich, auf höchstens 80 wird ihre Zahl geschätzt. Doch während die Schäfer und Bergbauern in Italien, Spanien oder Rumänien sich mit dem Raubtier arrangiert haben, waren die Franzosen ausgesprochen überrascht, als Anfang der 90er Jahre wieder die ersten Wölfe gesichtet wurden.

Von Simonetta Dibbern; Redakteurin am Mikrofon: Barbara Schmidt-Mattern |
    Ein alter Schäfer in den südfranzösischen Bergen, der seine Schafe vor dem Wolf schützen muss:

    "Man muss Tag und Nacht oben sein, wir sind die Sklaven unserer Schafe geworden. Eineinhalb Stunden Weg braucht man bis oben, das kann man nicht zweimal am Tag machen. Und immer einer von uns muss oben übernachten. Früher reichte es, wenn wir alle zwei Tage rauf gingen, aber jetzt ist das hier der reinste Krieg."

    Und eine junge Wolfs-Expertin, die das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Wolf erforscht:

    ""Man hasst ihn und gleichzeitig liebt man ihn. Dass jemand ganz neutral über den Wolf spricht, das kommt sehr selten vor. Die einen sind für, die anderen gegen ihn. Aber daran ist nicht der Wolf schuld."



    Schäferstündchen am Bach - Francis und Liliane

    Francis Loques ruft seinen Hund. Der alte Schäfer hat seine Herde heute Nacht aus dem Tinee-Tal heraufgebracht, zusammen mit seiner Frau Liliane. Die Bergweiden, die sie für den Sommer gepachtet haben, liegen direkt am Parc National de Mercantours. Einige sogar innerhalb des Nationalparks. Das Gras am Ufer des kleinen Bächleins ist saftig, es duftet nach Thymian, manchmal schreit ein Murmeltier. Die Sonne scheint. Schäfer-Idylle.

    "Das sagen alle, die hierher kommen in ihren schönen Autos: Was für ein schöner Beruf. Aber die müssten mal ein paar Monate hier bleiben, zum Beispiel, wenn wir die Schafe im Frühjahr raufbringen aus der Provence in die Berge, vier Monate waren wir unterwegs, bei Regen und Nebel, den ganzen Tag feuchte Klamotten, abends eine Suppe und man legt sich schlafen auf Stroh. Dies hier, das ist die hübsche Ansichtskarte, den Rest sieht man nicht."

    Liliane echauffiert sich, wenn es um ihre Berufsehre geht und um die Schäferwirklichkeit. Sie ist Ende 50, eine runde humorvolle Frau, in schmutzig-weißem T-Shirt und dunkelblauen Leggings. Bergstiefel an den Füßen, einen Stock in der Hand. Vor 26 Jahren ist sie von der Küste hierher in die Berge gezogen - aus Liebe zu Francis. Die Liebe zu den Schafen ist erst später gekommen. Auf den Wolf sind beide nicht gut zu sprechen. Und auf die Naturschützer des Nationalparks schon gar nicht, sagt Francis.

    "Sie haben sie hier ausgesetzt, 1992. Das jedenfalls behaupte ich, und da bin ich nicht der einzige. Die sind nicht über die Autobahn gekommen. Ich hatte nie sehr viele Schafe. Und ich bin immer gern in die Berge gegangen mit ihnen. Aber seitdem ich mein erstes Lamm gesehen habe, gerissen von einem Wolf - er hat es getötet am Hals. Und dann nicht mal gefressen, nur eine Schulter!. Seitdem ist es vorbei mit der Freiheit."

    Francis nimmt einen Schluck Wein aus der Flasche. Er redet nicht gerne über das Thema. Eigentlich redet er überhaupt nicht gern. Seine selbstgedrehte Zigarette ist schon wieder ausgegangen.

    Liliane dagegen erzählt umso lieber. Sie raucht nicht, sie trinkt nicht, Gesundheit, sagt sie, ist das allerwichtigste in diesem Beruf. Seit sie mit Francis verheiratet ist, ist sie mit Leib und Seele Schäferin. Die Tiere, sagt sie, sind ihr fast genauso wichtig wie Mann und Sohn. Schon eins zu verkaufen, fällt ihr schwer. Aber das muss sein sagt sie, das gehört dazu.

    "Der Wolf ist für uns ein großes Problem, ohne ihn haben wir besser gelebt. Früher konnten wir unsere Schafe rauf in die Berge zur Sommerfrische schicken, sie konnten fressen, was sie wollten. Das geht nicht mehr. Nachts müssen wir sie einsperren - und tagsüber müssen wir auch immerfort hinter ihnen herlaufen und aufpassen, dass kein Wolf kommt. Wir haben immer noch schöne Lämmer, aber sie sind nicht mehr soviel wert, weil sie nicht mehr dasselbe fressen können wie früher. Und für uns hat sich natürlich auch vieles geändert: Ich mache meine Arbeit wirklich gerne, aber irgendwann ist Schluss. Tag und Nacht bei den Schafen zu sein, das kann doch keiner von mir verlangen. Niemand schläft in seinem Büro! Man muss doch auch noch ein Leben haben!"

    Sie lehnt sich auf ihren Schäferstock. Das Hüten, sagt sie, ist ja längst nicht alles. Sie muss sich um den Haushalt kümmern, einkaufen gehen, die Finanzen verwalten. Und wenn die Schafe lammen, ist sie die ganze Nacht auf. Beklagen tut sie nicht über die Arbeit, schon gar nicht an einem Sommertag wie diesem. Und prinzipiell hat sie auch nichts gegen Wölfe.

    "Wenn sie den Kinder den Wolf zeigen wollen, dann sollen sie doch ein schönes Gehege bauen und ihn reinsetzen. Dann muss er nicht unsere Schafe fressen. Natürlich ist der Wolf ein Teil der Natur. Aber ich denke, unsere Großeltern und unsere Urgroßeltern waren nicht dümmer als wir heute. Und sie hatten ihre Gründe, warum sie die Wölfe ausgerottet haben. Meiner Meinung nach jedenfalls gibt es keinen Grund, sie wieder hierher zurückzubringen."

    Voiou ist einer der drei Hütehunde der Loques, ein flinker schwarzweißer Bordercollie, der eifrig um die Herde herumrennt und sie immer wieder zusammentreibt. Einen großen Schutzhund, wie ihn sich viele Schäfer angeschafft haben, als Schutz vor dem Wolf, den haben sie nicht. Weil sie ihn nicht mögen.

    "Ich habe Angst vor den Patous. Sie sind riesengroß, wachsen auf wie ein Schaf, mitten in der Herde und sind so gezüchtet, dass sie die Schafe gegen jeden Angreifer verteidigen. An Menschen sind sie eigentlich gar nicht gewöhnt. Sie hören nicht, sie arbeiten nicht – das ist mir unheimlich."

    Francis stößt einen hohen Ruf aus. Und noch einen. Das Zeichen für die Schafe zum Aufbruch: Vor der Mittagshitze sollen sie oben sein.

    "Jeder Schäfer hat seinen ganz persönliche Art, die Schafe zu rufen. Und die Schafe kennen seine Stimme. Genau wie wir die Schafe erkennen, am Klang ihrer Glocke."

    Liliane nimmt noch einen Schluck aus der Wasserflasche, setzt sich den Rucksack auf den Rücken und folgt Mann, Hunden und Herde hinauf auf den Berg.


    Knapp 15 Jahre ist es mittlerweile her, dass der Wolf, im Winter 1992, nach Frankreich zurückkehrte. Vermutlich ist er aus den Abbruzzen über Ligurien in die italienisch-französischen Seealpen gekommen. Dort, kurz hinter der Grenze, wurden jedenfalls die ersten Tiere gesichtet: im Nationalpark von Mercantour nördlich von Nizza. Zwischen 50 und 10 Wölfe gibt es heute in ganz Frankreich. Anders aber als in Italien oder Spanien - wo es schätzungsweise zehn Mal so viele Wölfe gibt - wollen die französischen Schäfer sich nicht an die Tiere gewöhnen. Sie beklagen vor allem die finanziellen Einbußen: Allein im vorletzten Jahr kamen durch die Wölfe 2500 Schafe um, darunter ganze Herden, die sich aus Panik in Schluchten hinunterstürzten. Der Wolf bringt also Verluste, und er schlägt auf die Stimmung: Viele Schäfer fühlen sich in ihrer Berufsehre gekränkt, weil der Staat nicht sie, sondern die Naturschützer unterstützt. Frankreichs Schäfer sind so zornig, dass sie jedes Jahr im Sommer mehrfach auf die Straße gehen und ihrem Ärger Luft machen. Rund um den Mercantours-Nationalpark nahe der italienischen Grenze ist die Stimmung gereizt.

    Der Bürgermeister der kleinen Gemeinde Saint Martin Vesubie, nördlich von Nizza, hat indes beschlossen, aus dem vermeintlichen Unheil das Beste zu machen: Im Juni 2005 wurde in Saint Martin Vesubie ein Wolfspark eröffnet: das Centre Alpha, mit 20 Wölfen in 3 Gehegen.



    Bürgermeister versus Schäfer

    Es ist Freitag, später Nachmittag. Draußen ist es heiß, die Türen der kleinen Stadthalle von Saint Martin Vesubie stehen weit offen. Drinnen tummeln sich stolze Eltern und aufgeregte Kinder: Heute wird ihr Buch vorgestellt. "Les reves du loup" - die Träume des Wolfs. Fast das ganze Schuljahr haben die Kinder Geschichten geschrieben, Informationen gesammelt und Bilder gemalt. Jetzt ist das Büchlein fertig, und alle wollen es endlich in die Hand und mit nach Hause nehmen. Aber der Ehrengast der Veranstaltung fehlt noch: Gaston Franco, Bürgermeister von Saint Martin Vesubie.

    Da kommt er. In seinem schwarzpolierten Landcruiser der Luxusklasse ist er bis vor den Eingang gefahren, jetzt eilt er auf die Bühne. Gaston Franco ist eigentlich immer in Eile. Aber für die Kinder nimmt er sich Zeit. Und fein gemacht hat er sich auch: Trotz der Hitze trägt der runde 60-Jährige einen grauen Anzug, dazu eine Krawatte in bananengelb.

    Gaston Franco ist der Schirmherr des Buchprojekts. Und er ist der Initiator des Wolfsparks in Boreon, ein paar Kilometer außerhalb des Städtchens, im Gebiet des Nationalparks Mercantour.

    Jedes Kind holt er einzeln zu sich, gibt ihm das Buch, tätschelt dem einen den Kopf, lobt ein Mädchen für ihren schönen Vornamen: Mathilde.

    "Ich mag konkrete Taten. Ich habe gern Kontakt, das ist das Schönste an meinem Amt, auch wenn dies nur eine kleine Gemeinde ist: Dinge in die Tat umsetzen, und dass die Leute zu mir kommen und sagen: Herr Bürgermeister, ich habe ein Problem, Sie müssen mir helfen. Lösungen zu finden, das ist meine Leidenschaft."

    Gaston Franco kennt seine, fast möchte man sagen: seine Untertanen. Wie ein König herrscht er über seine Gemeinde, seit 16 Jahren. Er hat viele Leidenschaften und viele Ideen, die er auch gegen alle Widerstände durchsetzt.

    "Hier ist der erste Wolf aufgetaucht vor 13 Jahren. Bei mir. Und ich bin, anders als viele andere Politiker, überzeugt davon, dass er auf natürliche Weise hierher nach Frankreich gekommen ist und dass er bleiben wird. Darum müssen wir uns irgendwie damit arrangieren, meine ich. Das war schon immer mein Standpunkt. Als ich noch Abgeordneter war im Regionalparlament, war ich es, der die Entschädigungsregelungen für die Schäfer erfunden und festgelegt hat. Und die jetzige Strategie, Schutzhunde einzusetzen, Patous - das war auch meine Idee. Das zum einen."

    Gaston Franco ist überzeugt von sich und von seinen Ideen, nicht nur bezüglich der Wölfe. Doch die und vor allem das Centre Alpha sind momentan seine Lieblingsthemen.

    "Zweitens habe ich sehr schnell gemerkt, dass der Wolf nicht nur die Gemüter erhitzt, das natürlich auch, sondern dass im Wolf auch ein enormes Potenzial steckt, dass er ein Wirtschaftsfaktor sein könnte für meine Region, der die Medien anziehen könnte und die Touristen. Und seitdem habe ich darüber nachgedacht, wie so ein Wolfsprojekt aussehen könnte, wo man diskutieren, sich austauschen, etwas lernen kann, und was vor allem den Tourismus ankurbelt in Saint Martin Vesubie."

    Im Juni wurde das Centre Alpha eröffnet. Fast täglich fährt der Bürgermeister zum Park, um Wissenschaftler, Journalisten, Experten von seinem Projekt zu überzeugen. 80.000 Besucher will er pro Jahr in den Wolfspark locken - und nach Saint Martin Vesubie. Er ist sehr zuversichtlich, und er hat viel Erfahrung: 30 Jahre lang war er Tourismuschef in Nizza. Was die 20 Schäfer in seiner Gemeinde von dem ganzen Projekt halten, das, sagt Gaston Franco, interessiere ihn nicht.

    "Mit den Schäfern hier hatte ich immer Probleme und habe sie immer noch - nicht nur wegen des Wolfs. Sie denken, sie sind die Herren der Berge, die machen können, was sie wollen, und wann sie wollen. Damit bin ich nicht einverstanden. Zum Beispiel bewachen sie ihre Herden nicht. Sie respektieren nicht das Eigentum anderer Leute, sie bestehlen sich gegenseitig. Sie halten sich für was besseres, nur weil sie Schäfer sind, und pflegen ihre archaischen Verhaltensweisen. Ehrlich gesagt bin ich nicht der Meinung, dass sie für die Wirtschaft meines Landes eine große Rolle spielen."

    Der Bürgermeister könnte den Schäfern viele gute Vorschläge machen, was sie ändern müssten: kleinere Herden, mehr Hunde, engere Zusammenarbeit untereinander. Aber er will seine Zeit nicht verschwenden, die Schäfer, sagt er, hören ja sowieso nicht auf ihn. Und jetzt hat er noch einen Termin, bedankt sich, wünscht alles Gute und steigt wieder in den schmuck-robusten Geländewagen.

    Einer der rund 20 Schäfer der Kommune sitzt an diesem Freitagabend unten in der Stadt, in der einzigen Straßenbar: Chez Amandine. Daniel Laugier, Besitzer von über 2000 Schafen. Er hat den neuen Wolfspark noch nicht besucht.

    "Ich werde mir das aber demnächst ansehen, weil alle Leute davon reden und weil man nur etwas kritisieren kann, was man gesehen hat. Wir Schäfer sind nicht eigentlich nicht gegen den Park. Aber wir haben was gegen Wölfe, die von dort abhauen."

    Davon hat der Bürgermeister gar nichts erzählt.

    "Dazu noch eine Wölfin - die sich wahrscheinlich bald paaren und eine gefährliche Mischung auf die Welt bringen wird. Sie müssen ziemlich unfähige Leute da oben haben, sonst wäre ihnen das doch nicht passiert. Dass ein zahmer Wolf über einen drei Meter hohen Zaun springt und dass man den danach nicht einfangen kann oder erschießen, das kann mir doch keiner erzählen."

    Er lässt sich auch sonst nicht gern was erzählen. Daniel Laugier , 40 Jahre alt, groß, kräftig-durchtrainiert, breites Lachen. Die Waden zerschrammt, Hände und Unterarme sind rot befleckt. Nein, sagt er und lacht. Das ist kein Blut, er hat heute Nachmittag Schafe markiert. Aber es gibt da noch etwas, was er nicht versteht.

    "Sie haben drei Milliarden für diesen Zoo, aber 500 Euro für eine Hütte, die haben sie nicht. Vor Monaten habe ich das beantragt, damit ich oben in den Bergen übernachten kann, bei meinen Schafen. Sie haben gerade mit dem Bürgermeister geredet, sagen Sie? Na schön. Ich rede nicht mehr mit ihm. Seit er im Amt ist, haben sich die Pachtpreise verdreifacht. In diesem Jahr habe ich darum gebeten, den Preis zu senken, damit ich einen zweiten Schäfer einstellen kann. Bis heute habe ich keine Antwort. Wahrscheinlich kann ich darauf warten, bis mein Sohn in Rente geht."

    Sein Sohn, sagt Daniel Laugier, ist jetzt fünfeinhalb. Und er lacht wieder mit breitem Mund. Dabei ist er eigentlich stinksauer: auf seinen Bürgermeister, auf die Naturschützer und natürlich auf den Wolf. 17 Schafe hat er ihm im Januar gerissen, 11 im Februar, 9 im Mai. Wenn er nicht so eine heitere und zupackende Natur hätte, hätte er schon längst aufgegeben.

    "Ich bin Schäfer geworden, weil ich den Beruf mag. Den ganzen Tag draußen zu sein, in den Bergen, schöne Lämmer großziehen und verkaufen. Der Inbegriff der Freiheit. Ich bin so stolz auf meine Tiere wie ein Architekt auf sein neues Haus. Vor vier, fünf Jahren habe ich den Mut verloren, da gab es eine Attacke nach der anderen. Inzwischen ist es wieder besser, 150 pro Jahr, das kann ich verkraften. Aber 300 Tiere waren es damals, die Wölfe haben sogar einen Esel gefressen."

    Ums Geld, sagt Daniel Laugier, gehe es ihm gar nicht.

    "Ich bin glücklich, wenn ich ein schönes Lamm verkaufen kann und nicht sagen muss: Ein Wolf hat es getötet, bezahlen Sie es mir. Jeder Schäfer wird Ihnen dasselbe sagen. Und davon abgesehen, macht jedes getötete Schaf viel Extra-Arbeit: Man muss sofort den Parkagenten holen, damit der den Schadensbericht aufnimmt. Wenn man Pech hat, waren inzwischen die Geier da, die gibt es hier ja auch noch, und fressen das Tier komplett auf. 30 Geier habe ich einmal gesehen, die sich über einen Kadaver hermachten, 30 Stück! Und während dieser ganzen Zeit kann man sich nicht um die anderen noch lebenden Schafe kümmern, und hinterher ist es doppelte Arbeit, die verletzten Tiere zu versorgen. Die Hölle, sage ich Ihnen."

    Daniel Laugier schlägt mit der Faust auf den Tisch und bestellt sich noch ein Bier. Einen Schäfer hat er schon eingestellt, einen weiteren kann er sich nicht leisten. Überhaupt, meint er, was der französische Staat sich den Wolf kosten lässt, das kann sich niemand vorstellen. Er selbst würde am liebsten kurzen Prozess machen mit dem Angreifer.

    "Einmal, es war der 23. Oktober 1997, da habe ich an einem Nachmittag elf Wölfe gesehen. Zwei Meuten, die sich auf meine Schafe stürzten. 17 haben sie getötet. Es war 4 Uhr nachmittags. Wenn ich da mein Gewehr dabei gehabt hätte, dann hätte ich mir elf schöne Mäntel gemacht."

    Inzwischen, sagt Daniel Laugier, hat er schon viele Wölfe erschossen, aber immer noch keinen einzigen Wolfspelz . Die toten Tiere hat er den Geiern überlassen.

    Ein kleiner Junge kommt an den Tisch. Quentin, fünfeinhalb, Daniels Sohn. Er sammelt Autogramme für sein Buch, eins hat er schon: von Gaston Franco, dem Bürgermeister. Quentin hat mitgemacht beim Wolfsprojekt seiner Schule "Les reves du loup". Daniel, nicht Schäfer sondern ganz Papa, gibt ihm die gewünschte Signatur.

    "Das Büchlein ist gut. Es regt an zum Nachdenken. Hauptsache, sie drehen die Gehirne unserer Kinder nicht um und sagen: Der Wolf ist gut. Man muss ihnen die Wahrheit sagen."

    Daniel Laugier kratzt sich am Ellenbogen, er bestellt sich noch ein Bier und Erdnüsse für Quentin.

    "Man müsste ein Referendum durchführen wie für die europäische Verfassung. Und fragen: Seid ihr für den Wolf? Und dann müsste man unter den Befürwortern die Kosten aufteilen. Im Jahr darauf würde garantiert kein Mensch mehr bezahlen, das sage ich Ihnen. Der Wolf rechnet sich einfach nicht. Und es ist eine Unverschämtheit, dass sie Steuergelder dafür verbrauchen."


    In den 30erJahren wurden die letzten Wölfe in Frankreich ausgerottet. Danach hatten die südfranzösischen Schäfer erst einmal Ruhe, jahrzehntelang. Das Geschäft mit den Schafen entwickelte sich in dieser Zeit gut. Große Herden mit bis zu 2000 Schafen sicherten das Einkommen, bis heute leben die Schäfer von der Fleischproduktion. Nach wie vor werden die Herden in den Sommermonaten auf die Weiden im Hochgebirge getrieben, wo sie früher - bewacht vom Schäfer und seinem Hund - ungestört fressen konnten. Inzwischen ist die Ruhe dahin. Der Wolf ist zurück. Und er kostet Geld. Mehr als fünf Millionen Euro Entschädigungsgelder sind bereits an die Schäfer geflossen, nicht zu vergessen die 70 Cent Stress-Zuschlag, die pro Schaf noch extra gezahlt werden. Überhaupt gibt es in der Schafzucht für fast alles Prämien, Kompensationen oder Zuschüsse. Holz zum Heizen ist gleich ganz kostenlos.

    Trotzdem lag im Jahre 2000 das durchschnittliche Monatseinkommen eines französischen Schäfers nur bei knapp eintausend 800 Euro brutto. Das sind weniger als 40 Prozent des durchschnittlichen Jahreseinkommens in Frankreich.

    Die französische Krimiautorin Fred Vargas heißt mit richtigem Vornamen eigentlich Frederique. 1999 schrieb sie den Roman "Bei Einbruch der Nacht", und griff damit den Konflikt zwischen Naturschützern und Schäfern auf. Der Roman spielt in Südfrankreich, in den kleinen Dörfern rund um den Nationalpark Mercantour. Ein Wolfsmensch zieht durch die Gegend und tötet Menschen und Tiere. Auch Kommissar Jean Baptiste Adamsberg wird Stück für Stück in die Geschichte hineingezogen. Nach einem langen Arbeitstag erfährt er aus dem Fernsehen vom Schrecken und der Angst, die in Südfrankreich um sich greifen:

    "Adamsberg stellte den Apparat lauter und ging wieder ein Stück zurück. Er mochte Wölfe, so wie man Alpträume mag. Seine ganze Kindheit in den Pyrenäen war eingehüllt in die Stimmen der Alten, die das Epos von den letzten Wölfen Frankreichs erzählten.

    Er hatte sehr wohl gehört, dass einige Wölfe aus den Abruzzen wieder die Alpen überquert hatten, schon vor ein paar Jahren. Eine Bande von Verantwortungslosen gewissermaßen. Beschwipste Trunkenbolde. Sympathischer Streifzug, symbolische Rückkehr, herzlich willkommen, ihr drei Kerle aus den Abruzzen mit eurem schütteren Pelz. Salut, Kameraden. Er glaubte zu wissen, dass ein paar Typen dort oben im Geröll des Mercantour sie seitdem wie einen Schatz hätschelten. Und dass ihnen von Zeit zu Zeit ein Lamm vor die Zähne kam. Aber es war das erste Mal, dass er Bilder davon sah. Während er schweigend weiter aß, sah Adamsberg auf dem Bildschirm ein zerfetztes Schaf, er sah blutverschmierten Boden, das verzerrte Gesicht eines Schafzüchters, das blutbefleckte Fell eines Schafes, das zerrissen auf dem Gras einer Weide lag. Die Kamera fuhr genüsslich die Wunden ab, und der Journalist spitzte seine Fragen zu, schürte das Feuer der dörflichen Wut. Man hätte glauben können, das gesamte Hinterland von Nizza ginge plötzlich vor dem Atem der wilden Meute in die Knie, während alte Schäfer stolze Gesichter reckten, um das Tier herauszufordern und ihm direkt in die Augen zu sehen: 'Wie glühende Holzstückchen, Bürschchen, wie glühende Holzstückchen.'"

    Der Wolf - lateinisch Canis Lupus - hat die Menschen seit jeher fasziniert und verängstigt zugleich. Romulus und Remus wurden von einer Wölfin gesäugt. Die Indianer in Nordamerika verehrten die Wölfe als mutige und weise Herrscher über das Land. Je stärker Kultur und Wildnis aber im Laufe der Jahrhunderte aufeinander prallten, desto mehr wurde der Wolf zum Hassobjekt; das reale und irreale Ängste auslöste. Und mit dem Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf wachsen bis heute Kinder in ganz Europa auf, auch in Frankreich.



    Im Wolfsgehege

    Die kleine Lucy ist zehn Monate alt. Sie hat keine Angst vor Wölfen, ist quasi mit ihnen aufgewachsen: Ihre Mutter nimmt sie mit in die Gehege, seit sie zwei Monate alt ist, im Tragetuch auf dem Rücken.

    "Solange sie an mir festkleben kann, ist alles in Ordnung. Und ich brauche mir während der Arbeit keine Sorgen zu machen, wenn sie bei mir ist. Mit einem Kind, das schon laufen kann, würde ich nicht zu den Wölfen hineingehen, auch wenn wahrscheinlich nichts passieren würde. Aber Lucy läuft noch nicht, sie sitzt auf meinem Rücken wie auf einem Pferd."

    Genevieve Carbone ist gewissermaßen die Chefin des Tierparks. Anfang 30, Pagenschnitt, schwarze Haare, dicke Intellektuellenbrille, die sie sich immer wieder mit dem Handrücken die Nase hochschiebt. Mit dem rechten, denn im linken Arm hält sie natürlich Lucy. Zwei Monate nach der Geburt hat die temperamentvolle junge Frau die Stelle im Wolfspark angetreten. Für die Verhaltensforscherin und Wolfsexpertin war es die Traumstelle. Und das ist es bis heute.

    "Meine Aufgabe ist es, die Wölfe zu beobachten. Das ist doch schon mal ziemlich gut als Arbeit. Ich muss sehen, ob es ihnen gut geht, und versuchen, eine Lösung zu finden, wenn etwas offensichtlich nicht so gut läuft. Der Wolf ist ein sehr sensibles Tier, das leicht in Stress gerät - überhaupt eingesperrt zu sein ist für die Tiere schon ein Stressfaktor. Das kann ich nicht ändern, aber ich versuche, dass es ihnen in den Gehegen so gut geht wie möglich und dass sie sich möglichst so verhalten können, wie es ihre Natur ist."

    20 Wölfe sind im Park, aus drei europäischen Zoos: Prag, Riga und Kopenhagen. Genevieve Carbone war bei der Ankunft jedes einzelnen Tiers dabei, hat beobachtet, ob die Tiere zueinander passen, ob sie in der Lage sind, Rangfolgen zu bilden innerhalb der Meute.

    "Wenn man täglich mit den Tieren zu tun hat, lernt man sie verstehen, zumindest ein bisschen. Der Wolf ist ein soziales Tier, die Kommunikation funktioniert über Mimik und Gestik - untereinander, aber auch mit uns. Wenn man sich länger mit ihnen beschäftigt, merkt man tatsächlich, dass sie den Ausdruck auf deinem Gesicht lesen können. Und ich habe manchmal wirklich den Eindruck, dass sie mich verstehen. Sie kneifen die Augen zusammen, oder sie öffnen sie, sie runzeln die Stirn, alles, was wir Menschen auch machen."

    Nach jedem Besuch im Gehege schreibt sie einen Bericht. Dokumentation ist alles, sagt Genevieve Carbone. Sie schiebt sich die Brille zurecht, entschuldigt sich und greift zum Walkie Talkie: Morgane, Tierpflegerin und Teampartnerin, will wissen, ob sie mit der Kindergruppe zur Aussichtsplattform gehen darf.

    Sie sind zu dritt im Team – und wechseln sich ab mit den täglichen Rundgängen durch die Gehege. Immer zur selben Uhrzeit und immer in derselben Richtung, damit die Tiere nicht überrascht werden. Heute ist Genevieve an der Reihe, sie schlingt das Tuch um den Rücken, bindet Lucy fest und hängt sich das Fernrohr um den Hals.

    "Das sind die allerschönsten Momente, bei diesen ruhigen Spaziergängen fühle ich mich sehr privilegiert. Die Vögel singen, und ich bin den Wölfen ganz nah. Ich halte immer an derselben Stelle an, auch das, um die Tiere nicht unnötig zu beruhigen. Wir haben sie nämlich gestern schon sehr stören müssen: Die Welpen, die vor ein paar Wochen geboren sind, mussten geimpft und untersucht werden. Zu viert sind wir den ganzen Tag durch das Gehege gelaufen, um sie einzufangen. Es hat Stunden gedauert, bis wir das geschafft haben. Aber da kommen sie: Sie sind alle da, guten Morgen Wölfe! Marquise, Chaussette, Shadow, Discrete. Na komm her, Chaussette, ruhig. Na komm. Ah, und da sind die kleinen, darum sind die Tiere so unruhig: Die Wölfchen sind draußen, eins, zwei, das kleine Weibchen winselt ein bisschen."

    Genevieve redet auf ihren Rundgängen immer mit den Wölfen, mit leiser, ruhiger Stimme.

    "Dass sie so still sind, das finde ich am faszinierendsten. Du läufst durch das Gehege, drehst dich um und auf einmal steht er hinter dir, der Wolf, du hast ihn nicht kommen hören. Auch wenn sie spielen oder herumtoben, machen sie das völlig geräuschlos, wie Geister. Ich finde das bewundernswert, denn wir Menschen machen so einen Krach mit unseren großen Füßen, wenn wir durch den Wald laufen."

    Genevieve verabschiedet sich: Sie muss ins Büro, den Bericht schreiben und Lucy stillen. Die Kleine hat Hunger und quengelt. Die Kunst des Schleichens, sagt Genevieve auf dem Weg zum Ausgang, trägt sicher zum Mythos um den Wolf bei. Dass er sich sozusagen unsichtbar machen kann. Das ist faszinierend und furchterregend zugleich.

    "Man hasst ihn und gleichzeitig liebt man ihn. Und immer ist Leidenschaft und Gefühl im Spiel. Dass jemand ganz neutral über den Wolf spricht, das kommt sehr selten vor. Beim Thema Wolf kochen sehr schnell die Emotionen hoch. Die einen sind für, die anderen gegen ihn. Aber daran ist nicht der Wolf schuld."


    Patou - der Name kommt vom altfranzösischen Wort "pastre" für Schäfer. Patous, das sind weiße Pyrenäenhunde, die speziell zur Verteidigung gegen den Wolf gezüchtet wurden. Schon als Welpen werden sie in die Herde gesetzt und wachsen dort sozusagen in dem Bewusstsein auf, ein Schaf zu sein. Dabei sind die Patous alles andere als lammfromm. Ihr Verteidigungs- und Kampfinstinkt ist durch die Zucht besonders ausgeprägt. Ein Patou stürzt sich auf jeden potenziellen Angreifer, im Zweifel sogar auf Wanderer, wenn sie ihm bedrohlich erscheinen.

    Der beste Schutz gegen Wölfe aber ist die Gegenwart von Menschen. Denn sie fürchten die Wölfe wie kaum etwas anderes. Allerdings kann kein Schäfer es sich leisten, einen ganzen Sommer lang Tag und Nacht oben im Gebirge zu sein. Das geht allein schon deshalb nicht, weil die Schäfer von Zeit zu Zeit sichere Gehege für die nächtliche Bewachung bauen müssen.

    Um die Schäfer zu unterstützen, gibt es in Südfrankreich seit einigen Jahren Freiwilligen-Organisationen, die "Möchtegern-Schäfer" für einige Wochen an echte Schäfer vermitteln.



    Einmal im Leben Schäfer sein… - die Freiwilligenorganisation "A pas de loup"

    Ein etwas schäbiger Altbau, direkt an der Hauptstraße von Dieulefit. Hier, in dem kleinen Städtchen im Departement Drome, zwischen Alpen und Provence, befindet sich das Büro von A pas de loup, was übersetzt soviel bedeutet wie: mit leisen Schritten, Eben: wie ein Wolf. Auf dem unscheinbaren, von der Sonne ausgebleichten Schild die Zeichnung eines Wolfs. Im Treppenhaus steht ein Fahrrad.

    Die Tür ist offen. Drei junge Frauen arbeiten hier, eine von ihnen ist Laurence Girard. Sie telefoniert.

    "Sie sollten mindestens drei Wochen Zeit haben zwischen Juli und Oktober. Was Sie auf jeden Fall brauchen, ist eine gute Kondition. Denn die Einsätze sind größtenteils hoch oben in den Alpen."

    Jemand möchte einen Sommer lang Schäfer sein.

    "Und Sie sollten keine großen Ansprüche haben, was den Komfort betrifft: Die Schäfer zelten oder schlafen in einer sehr rustikalen Hütte, das Essen ist einfach, Telefon gibt es nicht. Und, das sollten Sie auch bedenken: Die Zusammenarbeit mit dem Schäfer ist nicht immer einfach. Es sind oft wortkarge Menschen, die daran gewöhnt sind, den ganzen Tag mit ihren Hunden und der Herde allein zu sein."

    A pas de Loup, eine Art Maklerbüro im Dienst der Natur. Vor zehn Jahren hat Laurence Girard den Verein ins Leben gerufen – der Name passt auch gut zu der sanften Frau. Mitte 30, die blonden Haare hat sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden, ihrer gesunden Gesichtsfarbe ist anzusehen, dass sie viel an der frischen Luft ist.

    Das war eine Studentin, sagt Laurence. Natürlich interessieren sich vor allem junge Leute für den Einsatz in den Bergen. Aber es gibt auch einige Pensionäre, Männer und Frauen. Die meisten von ihnen seien Städter.

    "Ein Drittel der Bewerber kommt aus Paris und Umgebung. Ein weiteres Drittel aus Lyon beziehungsweise aus der Region hier, Rhone-Alpes. Die meisten aktiven Naturschützer leben in der Stadt. Vielleicht engagieren sie sich gerade deswegen, weil sie so weit weg sind von der Natur und weil sich der Mythos, gerade auch, was den Wolf angeht, unter den Städtern besser hält. Denn der Wolf ist nun mal das Symbol schlechthin für die Wildnis, auch für die Sehnsucht nach Natur, nach einem simplen ursprünglichen Leben."

    Einen Teil seiner freien Zeit für einen guten Zweck einzusetzen, das hat in Frankreich Tradition, sei es im sozialen Bereich, in der Entwicklungshilfe oder für den Naturschutz. Dies können sich allerdings nur die leisten, die geregelte Ferien haben und genügend Geld. Den Schäfern, sagt Laurence, sei diese Tradition vergleichsweise fremd.

    "Manchmal vergesse ich absichtlich, unseren Namen zu nennen, A pas de loup, und stelle mich lieber nur mit der Unterzeile vor: Freiwillige für die Natur. Denn das ist etwas zurückhaltender, man fällt nicht mit der Tür ins Haus. Denn wenn die Schäfer das Wort 'Wolf' hören, empfinden sie es als Attacke und sind sofort in Verteidigungshaltung.

    Jeder Anruf bei einem Schäfer kostet uns viel Zeit und viel Geld: Ein bis zwei Stunden lang sind die Gespräche, immer auf dem Handy. Und danach weiß man nicht mal, ob es tatsächlich zu einer Zusammenarbeit führt. Das ist wirklich viel Arbeit, und es ist sehr mühsam. Denn die Schäfer sind immer noch ziemlich abweisend gegenüber den Ökos, wie sie sie nennen."

    Es ist Mittag. Midi. Laurence macht Pause, ihre beiden Kolleginnen sind schon gegangen. Sie hat sich ein Picknick mitgebracht. Und besucht wie jeden Tag ihre beiden Pferde, die außerhalb des Städtchens auf der Wiese stehen. Daher also die gesunde Gesichtsfarbe.

    "Den größten Erfolg haben wir auf Seite der Freiwilligen. Sie kommen mit vielen Vorurteilen. Und merken dann, wie komplex das Problem ist. Und viele von ihnen ändern hinterher tatsächlich ihr Leben. Manche werden Schäfer, manche heiraten einen Schäfer, einige arbeiten danach in der Landwirtschaft – hier haben schon viele ihre Berufung gefunden."


    In Fred Vargas Wolfs-Krimi "Bei Einbruch der Nacht" spitzen sich die Ereignisse innerhalb kürzester Zeit zu im Süden Frankreichs:

    "Schon im Morgengrauen hatten sich auf dem Dorfplatz von Saint-Victor Menschen zu kleinen, dichtgedrängten Gruppen zusammen gefunden. Lawrence war am Vorabend in großer Eile in das Mercantour-Massiv zurück gekehrt. Beistand leisten, die Meute kontrollieren, alle Zugänge überwachen, sie gegen jeden Versuch eines Eindringens verteidigen. Im Prinzip dürfte die Treibjagd sich nur auf die Umgebung von Saint-Victor erstrecken. Im Prinzip würden sich die Jäger nicht in den Mercantour hineinwagen. Im Prinzip setzte man auf ein Tier, das man seit dem Winter aus den Augen verloren hatte, oder ein neu hinzugekommenes aus den Abruzzen. Im Prinzip würden die Wölfe vom Park verschont bleiben. Noch. Aber man durfte sich nicht über den Ausdruck der Gesichter mit den halb geschlossenen Augen und das schweigende Abwarten täuschen: Es herrschte Krieg. Mit dem angeknickten Gewehr über dem Unterarm oder über der Schulter stolzierten die Männer auf dem Platz um den Brunnen herum. Man wartete auf Anweisungen, welcher Gruppe man sich anschließen solle, da mehrere Gruppen gleichzeitig von Saint-Martin, Puygiron, Thorailles, Beauval und Pierrefort aus losziehen sollten. Nach dem letzten Stand sollten die Männer von Saint-Victor sich denen von Saint-Martin anschließen.
    Es herrschte Krieg.
    Neuneinhalb Millionen Schafe. Vierzig Wölfe."

    1992 wurde die so genannte Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der Europäischen Union beschlossen. Sie dient dem Schutz und der Erhaltung natürlicher Lebensräume sowie der Pflanzen und Tiere. Damit steht in der EU auch der Wolf unter Naturschutz. In Frankreich geht der Streit zwischen Tierschützern und Tierzüchtern aber trotzdem weiter. Das Umweltministerium in Paris rückt dabei von seiner Position nicht ab: Der Wolf, so heißt es, sei ein Beleg für die Artenvielfalt in Frankreich, die geschützt und erhalten bleiben müsse. Deshalb auch durften im Jahre 2004 nur vier Wölfe mit offizieller Genehmigung erschossen werden, drei von ihnen traf es am Ende tödlich.

    Im letzten Jahr haben die Wölfe nun erstmals nicht nur Schafe, sondern auch Rinderkälber gerissen. Inzwischen gibt es Berichte über junge Eltern auf dem Lande, die ihre Kinder nicht mehr auf den Feldern spielen lassen wollen. Umweltministerin Nelly Olin gab letztes Jahr sechs Wölfe zum Abschuss frei, zwei wurden tatsächlich offiziell getötet. Allerdings dürfen nur Tiere geschossen werden, die innerhalb kurzer Zeit mehrfach die gleiche Herde angreifen. Für jedes gerissene Schaf erhält der betroffene Schäfer einen finanziellen Ausgleich. Um zu verhindern, dass Schäfer sich die Kompensationszahlungen erschleichen, muss jeder Schafskadaver offiziell gemeldet und beurteilt werden. Im Nationalpark von Mercantours ist dies Sache des staatlichen Schadensgutachters.



    Geheul in den Bergen - Unterwegs mit einem Wolfs-Experten

    Es ist Samstagvormittag, die Sonne scheint, es ist heiß. Gerard Millischer, einer der beiden Wolfsexperten des Nationalparks, hat eine gute Stunde Autofahrt hinter sich. Hier in Le Bourguet, einem kleinen Örtchen im Tinee-Tal direkt an der Route Nationale, hier ist er verabredet.

    Die Kirschbäume sind voller Früchte, vor dem Haus plätschert ein Brunnen. Es riecht nach Ziege und Schaf. Hier wohnt Lucien Millefors, so heißt der Schäfer, der ihn gestern angerufen hat. Ein kleiner weißhaariger Mann kommt um die Ecke: das Gesicht wettergegerbt, die Ärmel des karierten Hemds sind hochgekrempelt. Er strahlt über das ganze Gesicht, als er den Besucher begrüßt. Dabei kann ihm eigentlich kaum nach Lachen zumute sein: Eines seiner Schafe liegt oben, in einer Hütte am Berg. Der Schäfer hatte das schwer verwundete Tier töten müssen.

    Gerard Millischer, Naturschützer und staatlich angestellter Wolfsspezialist, ist gut vorbereitet für eine lange Bergwanderung: Wanderstiefel, Rucksack, ein schwarzer Filzhut als Sonnenschutz. Einen Wanderstock hat er auch. Manchmal, sagt der drahtige 50-Jährige, sind es drei Stunden Fußmarsch bis zum Unfallort.

    "Als man mir diesen Job als Gutachter angeboten hat, habe ich lange überlegt, denn das ist eine heikle Angelegenheit. Die Schäfer sind zornig. Die Stimmung ist angespannt. In dieser Situation einen objektiven Schadensbericht aufzunehmen, das ist nicht gerade leicht. Außerdem ist man immer im Dienst, sieben Tage die Woche. Man weiß nie, wie weit man fahren muss und wie weit man danach noch zu Fuß gehen muss. Bei jedem Wetter. Natürlich ist die Arbeit auch interessant, aber eben auch schwierig, körperliche und psychologische Schwerstarbeit."

    Dieser Fall scheint nicht sehr schwierig zu werden: Der Schäfer ist nicht wütend. Eher scheint ihm es peinlich zu sein, dass sich der staatliche Wolfsexperte zu ihm bemühen musste. Und weit ist es auch nicht. Höchstens 20 Minuten, sagt Lucien, zieht die Haustür zu und geht voran.

    Gerard Millischer ist durch Zufall zu seinem Wolfsjob gekommen. Er ist weder Tierarzt noch Biologe. Früher ist der gebürtige Nordfranzose zur See gefahren, als Berufssoldat bei der französischen Marine, hat dann aus Gewissensgründen gekündigt und danach ein paar Jahre als Olivenbauer gearbeitet, in der Provence.

    "Wölfe haben mich immer fasziniert. Aber ich hatte überhaupt keine Ahnung. In den Mercantour bin ich damals eigentlich nur gekommen, weil ich Bartgeier beobachten wollte, die hier gerade eingeführt worden waren. Und da hörte ich zum ersten Mal von der Rückkehr der Wölfe."

    Das war vor elf Jahren, damals hatte kaum jemand Erfahrung mit Wölfen. Die Parkwächter waren überfordert, und Gerard Millischer blieb. Er suchte Spuren, sammelte Wolfskot ein und beobachtete die Wölfe, tage-, wochen-, monatelang. Fünf Winter hintereinander verbrachte er in einer Hütte in einem verlassenen Tal und wartete darauf, dass ein Wolf vorbei kam.

    "Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung, das erste Mal ist natürlich immer etwas besonderes. Ich war in meinem abgeschiedenen Tal, mitten im Winter. Ich hatte mich im Gebüsch versteckt, es war früher Morgen und gerade hell geworden. Auf einmal, ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, kamen zwei Wölfe vorbei. Der eine setzte sich hin, und der andere sah genau in meine Richtung. Er konnte mich nicht sehen, aber ich hatte das Gefühl, dass er mir in die Augen blickte, dass er mich ansah. Das ist ein Erlebnis, das man nie vergisst."

    Seitdem ist er Wolfsfan. Seine Augen beginnen zu leuchten, wenn er von den seltenen Begegnungen mit dem wilden Tier erzählt oder von dem tierischen Gesang, wie er es nennt.

    "Die Wölfe heulen zu hören, das ist sehr beeindruckend, ihr Geheul füllt das ganze Tal. Besonders nachts kommt es mir manchmal vor wie ein Konzert, einer beginnt, dann setzen die anderen ein, man weiß nicht, wieviele es sind, denn derselbe Wolf kann ganz verschiedene Töne machen. In einer windstillen Nacht kann man das über Kilometer hören. Ich finde es nicht beängstigend, im Gegenteil: Es ist sehr sehr schön. Ein eindrucksvoller tierischer Gesang."

    Ob er einmal vormachen könnte, wie es sich anhört, wenn ein Wolf heult? Ja, sagt Gerard Millischer leise: später. Dem Schäfer gegenüber lässt er sich seine Wolfspassion keinesfalls anmerken.

    Das Opfer liegt im Schuppen, Gerard Millischer zieht den Kadaver nach draußen. Kein schöner Anblick: Das Fell auf der einen Flanke ist komplett abgerissen, die Gedärme sind herausgequollen. Gerard Millischer betrachtet es eingehend von allen Seiten. Hier am Bauch: ein Hämatom. Er zieht ein scharfes Messer, um die Kehle zu untersuchen: Wölfe beißen immer zuerst in die Kehle. Doch da ist nichts. Er notiert sich die auf dem Fell tätowierte Nummer und besprüht das tote Tier anschließend mit violettem Farbspray. Die Farbspur des Schadensaufnehmers, damit der Kadaver nicht noch einmal registriert werden kann.

    Der Schäfer Lucien steht hilflos daneben. "Und was soll ich jetzt damit tun", fragt er. "Was Sie wollen", sagt Gerard Millischer. Am besten liegen lassen. Er setzt sich auf einen Stein, im Schatten einer Kastanie und holt einen Block mit Formularen aus seinem Rucksack, notiert Name und Adresse des Schäfers, fragt, wann das Tier entdeckt wurde, und von wem. Haben Sie Hunde? Natürlich hat Lucien Hunde. Aber nicht die, die hier gemeint sind: Wolfshunde, Patous.

    "Nein, keine Hunde, sie sind zu teuer, und sie fressen zuviel. Man muss das Futter ja auch nach oben bringen, das ist aufwändig, es gibt zwar Hubschrauber, aber trotzdem. Nein, keine Patous. Früher war alles einfacher, heute ist es der reinste Krieg hier in den Bergen."

    230 Schafe hat Lucien, und ein paar Ziegen. Früher konnten die Tiere im Sommer oben auf den Bergweiden allein bleiben. Jetzt ist er 70, Kinder haben sie nicht. Seine Frau und er wechseln sich ab beim Hüten.

    "Man muss Tag und Nacht oben sein, wir sind die Sklaven unserer Schafe geworden. Eineinhalb Stunden braucht man bis oben, das kann man nicht zweimal am Tag machen. Und einer von uns muss immer oben übernachten. Früher reichte es, wenn wir alle zwei Tage rauf gingen, aber jetzt ist das hier der reinste Krieg."

    Ob er oben ein Handy hat, fragt Gerard Millischer. Nein, das ist zu teuer, zum Telefonieren muss man hinunter gehen, zum Haus. Millischer macht ein Kreuz in der entsprechenden Spalte, fragt behutsam nach und erwähnt ein paar Möglichkeiten, die Schutz bieten könnten vor dem nächsten Angriff: ein Freiwilliger, der das alte Ehepaar beim Hüten unterstützt oder eben ein Patou. Der alte Lucien hört ihm erst abweisend, dann immer aufmerksamer zu. Aha, sagt er, interessant, ja, das wäre vielleicht eine gute Idee.

    Dann muss er noch unterschreiben. Ich kann Ihnen nichts versprechen, sagt der Parkbeamte. Der Schadensbericht wird in Nizza geprüft. Und auch im Fall eines positiven Bescheids könne es einige Zeit dauern, bis das Geld komme.

    Der Schäfer bedankt und verabschiedet sich und nimmt den steinigen kleinen Pfad den Berg hinauf zu seinen Schafen und zu seiner Frau, die oben auf ihn wartet.

    Die Spuren, sagt Gerard Millischer auf dem Weg zu seinem Auto, sprechen nicht für einen Wolf. Vielleicht war es ein streunender Hund, der das Schaf angegriffen hat, ein Fuchs, ein Greifvogel oder nur ein herabstürzender Stein. Heftige Gewitter gibt es hier fast jeden Nachmittag. Er scheint geradezu erleichtert, dass nicht er die Entscheidung treffen muss, ob Lucien Geld bekommt oder nicht: Wenn er den Bericht zur Post gebracht hat, ist seine Arbeit getan. Gerard Millischer ist einer der wenigen, die beiden helfen wollen: dem Schäfer und dem Wolf.

    "Natürlich ist es gut für die Fauna der Wildnis, dass der Wolf zurückgekommen ist und sich hier ansiedelt. Denn er nimmt einen wichtigen Platz ein in der Nahrungsmittelkette, als Angreifer, leider, aber auch als wichtiger Selektionierer. Denn vor allem die schwachen Tiere werden vom Wolf gerissen, die alten und die kranken. Und dadurch kann sich die Population besser entwickeln. Insofern ist der Wolf auf jeden Fall eine Bereicherung für den Nationalpark."

    Wann er zum nächsten gerissenen Schaf gerufen wird, das weiß Gerard Millischer nicht. Sein Handy ist immer an und sein weißer Renault-Kastenwagen immer vollgetankt. Doch an diesem Nachmittag hat er erstmal frei. Er will auf die andere Seite des Tinee-Tals fahren, dort sollen heute Bartgeier ausgesetzt werden, die riesigen Vögel sind - neben dem Wolf - seine Lieblingstiere. Aber er hatte noch etwas versprochen. Ach ja, sagt Gerard Millischer, holt tief Luft und legt den Kopf in den Nacken.