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Geisterhafte Elementarteilchen

A Astrophysik. - Eigentlich müsste beim Urknall vor 14 Milliarden Jahren gleichviel Materie wie Antimaterie entstanden sein – eigentlich. Warum wir aber in einem Weltall voller Materie und ohne Antimaterie leben, haben US-Pysiker in einem extravaganten Experiment untersucht.

Von Frank Grotelüschen |
    Die alte Eisenmine liegt in Soudan, einem Dörfchen in der Provinz von Minnesota. Polternd fährt der Lastenfahrstuhl Baujahr 1922 untertage.

    "Das ist kein normaler Aufzug. Er fährt auf Schienen schräg nach unten, in einem Winkel von zwölf Grad. Es dauert knapp drei Minuten, um bis nach unten zu kommen, 714 Meter tief."

    Unten angekommen geht der Physiker Bill Miller durch einen Gang in eine Halle, fast so groß wie eine Kathedrale. Darin steht ein riesiger Klotz aus Metall – ein Teilchendetektor. Er ist hinter einem geisterhaften Teilchen her, dem Neutrino, sagt Millers Kollege Juan Pedro Ochoa.

    "Das Neutrino macht Sachen, die kein anderes Teilchen kann: Es fliegt durch Materie als wäre es nichts. Außerdem kann es sich im Fluge in andere Neutrinosorten verwandeln. Also, Neutrinos sind sehr rätselhaft. Dennoch sind sie nach den Photonen, den Lichteilchen, die zweithäufigsten Teilchen im All."

    Um die sonderbaren Winzlinge besser kennen zu lernen, haben Ochoa und seine Kollegen ein aufwändiges Experiment in die amerikanische Landschaft gestellt. Minos, so heißt es, ist Hunderte von Kilometern lang und beginnt in Chicago. Dort erzeugt ein Teilchenbeschleuniger einen gebündelten Strahl aus sogenannten Myon-Neutrinos.

    "Wir schicken diesen Strahl von Illinois 735 Kilometer weit nach Minnesota. Dort, in der ehemaligen Eisenmine, steht unser Detektor. Er misst, ob in dem ankommenden Strahl einige der Neutrinos fehlen, weil sie sich unterwegs in eine andere Sorte verwandelt haben."

    2004 begannen die Experimente. Und vor kurzem ist Ochoas Team auf Indizien gestoßen, die es in sich haben.

    "Wir wollten herausfinden, ob sich die Myon-Neutrinos umwandeln in eine andere Sorte, in Elektron-Neutrinos. Eine äußerst schwierige Messung. Aber wir haben tatsächlich Hinweise, dass Elektron-Neutrinos auftauchen – auch wenn die Datenlage noch viel zu dünn ist, um sicher zu sein."

    Sollten die Forscher tatsächlich auf Elektron-Neutrinos gestoßen sein, wäre eine grundlegende Symmetrie im Reich der Elementarteilchen verletzt. Fachleute wie Patricia Vahle sprechen von der "CP-Verletzung" –eine Art Webfehler der Natur. Sollte sie bei den Neutrinos existieren, hätte das kosmische Konsequenzen.

    "Dann könnten wir in der Lage sein, eine der fundamentalen Fragen der Physik zu beantworten: Warum gibt es im Universum lauter Materie, aber so gut wie keine Antimaterie?"

    Die Forscher liebäugeln mit folgender Idee: Mit dem Urknall könnten exotische Neutrinosorten entstanden sein, die viel schwerer waren als normale Neutrinos. Diese schweren Neutrinos waren nicht stabil, sondern zerplatzten in Bruchstücke. Doch wegen der CP-Verletzung, also des kleinen Webfehlers, war unter diesen Bruchstücken ein wenig mehr Materie als Antimaterie. Und aus diesem kleinen Materieüberschuss bestehen heute sämtliche Sterne, Planeten – und auch wir Menschen.

    Nur, ob Minos die CP-Verletzung tatsächlich dingfest machen kann, ist ungewiss. Denn dafür wurde das Nachweisgerät eigentlich gar nicht gebaut. Deshalb hat ein Team um Patricia Vahle nun den Grundstein gelegt für einen weiteren Neutrino-Detektor. Nova heißt er, steht ebenfalls in Minnesota – und ist auf die Suche nach Elektron-Neutrinos spezialisiert.

    "Nova ist ein gigantischer Quader gefüllt mit Mineralöl, versetzt mit chemischen Zusätzen. Manchmal erzeugt ein Neutrino, das durch den Tank fliegt, ein Leuchtsignal, das wir mit Sensoren auffangen. Nova soll nachschauen, ob sich in dem Strahl aus Chicago einige der Myon-Neutrinos in Elektron-Neutrinos umgewandelt haben."

    2013 soll Nova fertig sein. Mit etwas Glück werden wir dann herausfinden, warum es uns überhaupt gibt – und wir mit rumpelnden Fahrstühlen untertage fahren können, um die letzten Geheimnisse der Physik zu lüften.