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Geniale Gehirne

Im Zeichen von Pisa kommt das "Einstein-Jahr" 2005 wie gerufen. Seit Politiker aller Couleur die Heranzucht junger Eliten als Allheilmittel gegen den blamablen Bildungsnotstand der Deutschen beschwören, hat der Geniekult Konjunktur. Eliteschulen und -Hochschulen sollen her, Deutschland wieder zum attraktiven Forschungsstandort werden. Schöner und billiger wäre es jedoch, so fabuliert eine Avantgarde der Hirnforscher, wenn man rekonstruieren könnte, wie das geniale Gehirn geschaltet ist. Dann könnte man solche Kreise in den Hirnen der Heranwachsenden nachbauen, und vorbei wäre es mit Bildungsnotstand und Forschungskrise. In dem Band "Geniale Gehirne - Zur Geschichte der Elitegehirnforschung" zeigt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, dass solche neurologischen Allmachtsphantasien eine lange Tradition haben. Elke Suhr hat das Buch gelesen.

Von Elke Suhr |
    Michael Hagner erinnert daran, dass Einsteins Hirn bereits zu dessen Lebzeiten zum "mythischen Objekt" wissenschaftsgläubiger Nachkriegsakademiker gemacht wurde. Auf dem Höhepunkt der Kybernetik ging ein Photo des an Elektroden angeschlossenen Genies um die Welt. Es suggerierte, dass mit den Gehirnströmen auch das Geheimnis des Genius decodiert werden könne und wurde zum neuen Emblem des alten Traumes von der totalen Herrschaft des Menschen über die Natur und sich selbst.

    Nach den Nekrologen verklang 1955 auch der Presserummel um das Denkorgan Einsteins, der im Princeton Hospital verstorben war. Seine Erben überließen es dem zuständigen Pathologen Thomas Harvey, der vergeblich das Interesse namhafter Experten an dem aus der Mode geratenden Kultobjekt zu wecken suchte. Schließlich zerteilte er es eigenhändig in 240 Würfel und ließ 2000 mikroskopische Schnitte daraus anfertigen. Nach und nach verschenkte er einzelne Blöckchen und Scheibchen an Wissenschaftler, die nichts Nennenswertes darüber herausbrachten. Harvey reiste mit den in Formalin konservierten Hirnresten quer durch die USA und verwahrte sie schließlich in seinem Regal.

    Zur Jahrtausendwende nahm sich die kanadische Neurowissenschaftlerin Sandra Witelson des Trümmerhaufens an und rekonstruierte Einsteins Zerebrum per Computersimulation. Sie trat mit der These an die Öffentlichkeit, dass sie den Sitz des Genius mittels neuester Visualisierungstechniken in den "einzigartig" ausgeprägten Parietallappen am Ende der Sylvischen Furche geortet habe.

    Hagner disqualifiziert den sensationsheischenden Befund als Rückfall in den törichten Augenscheinempirismus von Schädelkundlern und Hirnvermessern, die im neunzehnten Jahrhundert "auf den Olymp der geistigen Definitionshoheit" strebten. Sein fachkundiger Rückblick steckt voller Anekdoten über die Hybris einer aufkommenden Zunft. So mancher mehr oder weniger begrenzte empirische Befund, der einmal als weltverändernde Neuentdeckung dahergekommen ist, entpuppt sich in seiner Studie als Lachnummer.

    Das Gedenkjahr 2005 im Visier, richtet Hagner den Focus auch auf den wundersamen Weg von Friedrich Schillers Schädel durch die Welt der Wissenschaften. Man ließ ihn 1826 - auf dem Höhepunkt des Weimarer Geniekults - exhumieren, um ihn in der Amalienbibliothek auszustellen. Die beauftragten Ärzte wählten zielsicher den größten der 23 Totenköpfe aus, die sie im Grabgewölbe vorfanden. Goethe barg das zum Schauobjekt entwürdigte Haupt in seinem Haus und bettete es auf einem blauen Samtkissen. Der "Schiller-Kopf" habe "etwas Größeres, Umfassenderes" als die vergleichend hinzugezogene Kopie des Raffael-Schädels, überliefert Alexander von Humboldt nach einer konspirativen Erkundung des Objektes. Es inspirierte Goethe zu seinem berühmten Altersgedicht "Im ernsten Beinhaus war’s", in dem er die Reliquie als "Geheim Gefäß" des Genius verklärt, das - "aus Moder fromm entwendet" - das unsterbliche "Geisterzeugte" ans Tageslicht befördert: "Die gottgedachte Spur, die sich erhalten." Jahrzehntelang diente der "Schiller-Kopf" als mustergültiger Schädel, an dessen Idealkonturen die Minderwertigkeit von "Negersklaven", "Geisteskranken", sozial Deklassierten und Prostituierten vermessen wurde. 1883 sollte der Anatom Hermann Welcker indes Zweifel an der Identität des Jahrhundertcambriums anmelden. Es war größer als die Gipsbüste von Schillers Haupt, die man am Totenbett abgenommen hatte.

    Hagner würzt seine faktenschwere Geschichte der Genieforschung mit vielen Fragezeichen und reichlich Ironie. Seine Studie hebt wohltuend von populärwissenschaftlichen Schnellschüssen und bedeutungsschwangeren Warnrufen zum Trendthema des Jahres 2004 ab, in dem der "Spiegel" mit einem "spezial" die "Entschlüsselung des Gehirns" verkündete und Jürgen Habermas die Hyperthropie der Hirnforschung beklagte.

    Dass Wortführer der mediengewandten Zunft sich mal wieder weit aus dem Laborfenster hängen und das Menschenbild auf den Kopf stellen wollen, beunruhigt vor allem "reine" Geisteswissenschaftler. Deren Furcht um die gesellschaftliche Definitionshoheit fasste Trendsetter Peter Sloterdijk im "Philosophischen Quartett" in denkwürdige Worte. Er nannte das Zerebrum einen "unheimlichen Gast", der heuer an Europas Türe klopfe wie weiland der "Wilde".

    Mitte des 19. Jahrhundert sei die berühmte "Hottentotten-Venus" von Paris zu "emblemhafter Bedeutung" für die aufstrebenden Vertreter der anthropologischen Hirnforschung gelangt, schreibt Hagner. Südafrikanische Kolonisten hatten Sartije Baartman, eine zwanzigjährige "Negersklavin" mit überdimensionalen Schamlippen und einem ausladenden Gesäß, 1810 nach Europa verschleppt, sie nackt auf Jahrmärkten ausgestellt und zur Prostitution gezwungen. Als Sinnbild tierischer Triebhaftigkeit schwarzer Menschen war sie in die kollektiven Männerphantasien und in die pornographische Literatur eines überaus prüden Zeitalters eingegangen.

    Das Pariser Völkerkundemuseum hatte sich das Gehirn der 1816 an Unterkühlung gestorbenen jungen Frau einverleibt und es neben ihren als "Hottentotten-Schürze" bezeichneten Genitalien im Saal für vergleichende Anatomie ausgestellt. Aus seiner "Windungsarmut" las der führende französische Physiologe Pierre Gratiolet die "infériorité des nègres" heraus und machte den Befund zur Grundlage seines Axioms, dass es sich bei schwarzen Menschen um eine niedere, triebgeleitete "espèce" handle. Seine Lehre diente jahrzehntelang zur Legitimation von Kolonialismus und Sklaverei jenseits bürgerlicher Revolutionen und Menschenrechtsdeklarationen. Hagners Studie liest sich streckenweise wie ein Gruselroman über den Missbrauch von Menschen als Beweismaterial für pseudowissenschaftliche Ressentiments und Ideologien. So war es in der Hochzeit des Materialismus en vogue, galvanische Experimente unter der Guillotine zu exerzieren an den zuckenden Nervenenden "frisch" abgeschlagener Häupter.

    Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kam es in Mode, postum "große Köpfe" der eigenen Zunft zu wiegen und zu vermessen. Doch so manches Kollegenzerebrum wurde als zu klein und windungsarm befunden. Wortführer der empirischen Hirnforschung setzten sich indes als Vertreter der kommenden Leitwissenschaft in Szene und boten der "Décadence" reinen Denkens im Fin de siècle Paroli. Der psychisch erkrankte Friedrich Nietzsche diente ihnen als "materialistischer" Beweis für die vielzitierte "Gleichung von Genie und Wahnsinn".

    Die Forderung nach einer "Verwissenschaftlichung" der Politik brachte zwangsläufig eine Politisierung der Wissenschaftler mit sich. "Nicht die Republik, sondern die Monarchie ist in der Organisation des Seelenorgans verwirklicht", behauptete der führende Gehirnforscher Paul Flechsig 1896. Dieser These setzte sein Schüler Oskar Vogt ein Bild vom Zerebrum als einer nach dem Vernunftprinzip funktionierenden Idealrepublik entgegen und bekannte sich zur Sozialdemokratie. Hagner würdigt Vogt als Begründer der funktionsbezogenen architektonischen Hirnforschung und der Neurobiologie. Der wissenschaftliche Abstieg des international bedeutendsten Vertreters seines Fachgebietes habe begonnen, als er 1927 mit seiner denkwürdigen Definition des Diktators Lenin als "Assoziationsathlet" an die Öffentlichkeit trat. Damit lieferte er den Bolschewiki das pseudowissenschaftliche Fundament ihres parareligiösen Führerkults, der auf weite Kreise demokratiemüder deutscher Intellektueller übergreifen sollte.

    Unter dem Titel "Vom ‚Schaltwerk der Gedanken" suggerierte Vogt, er habe den Schlüssel zum idealtypischen Zukunftszerebrum in Lenins dritter Rindenschicht gefunden, deren überdimensionale Pyramidenzellen einen "progressiven Charakter" aufwiesen. Den demonstrierte er mittels einer schematischen "Wiedergabe" besagter Hirnregion, die er nach traditioneller Manier an Abbildungen der gleichen Organzonen bei einem "normalen" und bei einem "anomalen" Menschen maß. Das in mehr als dreißigtausend hauchdünne Scheibchen zerschnittene Denkorgan des Diktators spiegle bereits Perspektiven kommender Elitegehirne, behauptete Vogt. Er hatte den Mythos von Lenins Genie zum Axiom seiner Forschung gemacht und die Spuren einer langjährigen Hirnsklerose ignoriert, deren Symptome - cholerische Anfälle, paranoide Zustände und Größenwahn - von kritischen Zeitgenossen wie Bertrand Russel oder Maxim Gorki beschrieben worden waren.

    Vogt untermauerte die Legende der Bolschewisten von ihrem Führer als Prototypus des kommenden Übermenschen, der sein geniales Gehirn für die Menschheit zermartert habe. Ihre eugenischen Phantasien entsprachen seinem Credo "für ein künftiges Züchten sozial wertvoller Gehirne und ihrer geeigneten Pflege". 1931 wurde Vogt zum Direktor des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Berlin ernannt, das in der Presse als eine Art Wiege des neuen Menschen vorgestellt wurde.

    Er habe Lenins Zerebrum als mythisches Objekt benutzt, um sein eugenisches Konzept einer gesamtgesellschaftlichen "Hirnhygiene" Popularität zu verschaffen, mutmaßt Hagner. Die Schließung des von Vogt eingerichteten "Pantheons der Gehirne" in Moskau Anfang der dreißiger Jahre deutet er als Zeichen, dass Stalin "biologische" Programme zur Konstruktion einer idealtypischen sozialistischen Persönlichkeit zugunsten eines "sozialen" Menschenbildungsprogramms fallen ließ. Tatsächlich ging es dem Diktator wohl eher darum, die als Kultstätte für Lenin und seine alte Garde gedachte Halle aus dem Rampenlicht verschwinden zu lassen.

    Die "Gehirnpolitik" spielte in der Stalinära eine wichtigere Rolle denn je, wie Torsten Rüting in seiner 2002 erschienenen preisgekrönten Studie "Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland" dokumentiert. In der Ära des Fünfjahresplans und der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft hielt die Pavlovsche Reflexologie Einzug in alle Lebensbereiche. Sie zielte auf die massenhafte Konditionierung "neuer Menschen" in Gestalt perfekter Proletarier und gleichgeschalteter "Ingenieure". Es wurden "Helden der Arbeit" für Extremsituationen in der aufkommenden Raumfahrt oder Darsteller für die Schauprozesse dressiert. Die Grenze zwischen sozialen und biologischen Formen der Gehirnmanipulation war fließend, wie Ivan Pavlov in seiner Rede "The Functions of the Brain" 1932 vor dem internationalen Physiologenkongress in Rom verdeutlichte. Er bekannte sich nach Jahren des Widerstandes offen zum Bolschewismus als großem sozialen Experiment, bei dem der von ihm als Universalschlüssel zum Gehirn definierte "bedingte Reflex" gleichsam vergesellschaftet und planmäßig eingesetzt wurde.

    Hagners Reflexionen über die Gehirnforschung in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lassen Seitenblicke auf Einflüsse der russischen Reflexologie und des amerikanischen Behaviourismus vermissen. Er fokussiert allzu sehr den Weg Oskar Vogts, den die Nazis seines Postens enthoben und der im inneren Exil krampfhaft an der fixen Idee vom Sitz des Genius in der dritten Rindenschicht festhielt.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg trat der greise Forscher mit dem Vorschlag auf den Plan, die Gehirne hingerichteter NS-Führer im Hinblick auf die zerebralen Gründe ihres Verbrechertums zu untersuchen. Gleichzeitig arbeitete er an einem Buch, das den Titel "Der Nazismus auf dem Richterstuhl der Biologie" tragen sollte. Es stellte dem Vorwurf der Kollektivschuld das anachronistische Axiom einer nationalen, auf spezifische Gehirnfigurationen beruhenden "unpolitischen" Charakterologie der Deutschen entgegen. Hagner zieht eine Linie von dieser These zum derzeitigen Trend, Menschen im Namen eines neuronalen Determinismus ihre Selbstverantwortung abzusprechen. Dagegen setzt er ein Bild vom Gehirn als lernfähigem Organ, das über seine genetisch bedingte "Grundverschaltung" hinauswachsen, mit sozialen und politischen Umfeldern korrespondieren oder - ihnen trotzen könne. Mit seiner "Geschichte der Elitehirnforschung" diskreditiert Michael Hagner die bahnbrechenden Fortschritte des Faches nicht, in dem er selbst jahrelang tätig war. Vielmehr entmystifiziert der Professor für Wissenschaftsgeschichte an der ETH Zürich das digitalisierte Gehirn, das erneut zur Ikone modischer Paradigmen und Medientrends zu werden droht.

    Michael Hagners: "Geniale Gehirne, Zur Geschichte der Elitegehirnforschung"
    Wallstein Verlag (Göttingen)
    367 Seiten, 34 Euro