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Genie der Zusammenschau

Fragt man heute einen jungen Menschen im Studium oder auch davor, was er denn einmal werden wolle, wird man oft die vage Antwort hören: "Irgendwas mit Medien." Vor hundert Jahren war das anders, wenigstens in Wien. Dort wollte jedermann zum Theater, auch wer schon anderswo angekommen war.

Von Martin Ebel | 02.03.2008
    In Wien und Österreich ist der Theaterirrsinn geradezu eine Volksepidemie. Wenn man hierzulande mit einer jungen Dame spricht, einerlei, ob sie Millionärstochter, Probiermamsell oder Doktorin der Philosophie ist: Immer wird zum Schluss herauskommen, dass sie 'eigentlich‘ zum Theater will. Denn sie hat eine so gute Aussprache. Aber auch im späteren Alter streben die Menschen immer noch nach dem Theater. Alle, die Aristokraten, die Beamten, die Gelehrten, die Politiker, die Industriellen wollen irgendeine Beziehung zum Theater. Sie suchen leidenschaftlich die Bekanntschaft mit irgendeinem Schauspieler oder einer Sängerin, sie arrangieren unter großen Geldopfern Wohltätigkeitsvorstellungen, weil das sie in Berührung mit den Bühnenleuten bringt, sie werden Theateraktionäre und verzichten gern auf ihre Dividende, wenn sie dafür unbeanstandet hinter die Kulissen gehen dürfen. Das Höchste aber für den Wiener sind Freikarten.

    Egon Friedell wusste, wovon er sprach, er war selbst beim Theater, und die "Psychopathologie des Schauspielers", den Aufsatz, aus dem unser Zitat stammt, konnte er vor allem deshalb schreiben, weil er selbst ein Schauspieler war. Und zwar ein ernsthafter, den kein geringerer als Max Reinhardt immer wieder engagierte. Dem Theater hat Friedell aber nicht nur als Darsteller, sondern auch als Regisseur, Kritiker und Autor gehuldigt.

    Sein Einakter "Goethe", 1908 zusammen mit Alfred Polgar geschrieben, ging mehrere Hundert Mal über die Bühne und wird noch heute gelegentlich von Gymnasiasten aufgeführt, die vielleicht von einem originellen Deutschlehrer mit dem Friedell-Virus infiziert wurden. In dieser herrlichen Satire vertritt Goethe einen armen Schüler in einer Deutschprüfung, Thema Goethe, und fällt mit Pauken und Trompeten durch. Friedell "konnte" auch Schiller. Er schrieb eine Variante des "Wilhelm Tell", in dem dieser darauf verzichtet, Gessler zu erschießen; sein Monolog in der Hohlen Gasse kreist um den Gedanken, dass Rache unedel ist und überhaupt den Taten die Ideen vorzuziehen sind; Tell als Hamlet gewissermaßen. Das tolldreiste Schiller-Pastiche endet mit diesen Versen:

    Plan und Tat! Welch eine dünne Scheide trennt Euch!
    Und dennoch: Zwischen Euch liegt alles, was dem schwachen Menschen Die Hölle, was ihm die höchste Himmelsseligkeit entbeut.
    Geplant führt jede Handlung jedes Erdenkindes Ein einmaliges eignes Sonderdasein, Trägt sie allein die Seelenfarbe dessen, Dem sie im Busen still herangereift.
    Getan zeigt sie die unverrückbar ew'ge Einform, Die sie zu Schwestern aller andern macht.
    Plan ist der weise Vater, Tat die feile Tochter, Die sich der Welt hingibt: ein fahler Bastard.
    Nur wenn Du denkst, schaffst Du Dein freies Reich, Im Handeln machst Du Dich der Menge gleich.


    Der Text ist übertitelt "Angsttraum eines Germanisten", ist erschienen im "Neuen Wiener Journal" am 10. Oktober 1921, und enthält neben den nachempfundenen Schiller-Jamben auch noch ein kleines Eckermann-Pastiche: Darin weist Goethe seinen treuen Adlatus in aller Bescheidenheit darauf hin, dass er selbst Schiller vom ursprünglichen, blutigen Ende abgebracht und so das Stück gerettet habe. Daniel Keel, Gründer und Leiter des Diogenes Verlages, und sein Mitarbeiter Daniel Kampa haben diese Perle und viele andere dem Staub der Archive entrissen; die allermeisten Stücke haben sie aber aus der "Kulturgeschichte der Neuzeit" heraus gebrochen, einer mit ihren 1600 Seiten Umfang fast unerschöpflichen Schatzkammer, deretwegen man Friedell heute noch kennt.

    Die Wiener Zeitgenossen aber, sogar die meisten seiner Freunde, hielten Friedell für einen bloßen Parodisten und Komödianten, einen Kaffeehaus-Literaten, der seine zweifellos vorhandenen Talente hemmungslos an den Augenblick verschwendete, wie das viele Kaffeehaushocker tatsächlich taten - schon weil ihr Talent nicht weiter reichte als bis zum inneren Ring und zum nächsten Kater. Friedell aber war nicht nur ein Original, sondern ein wirkliches Genie - ein Genie der Zusammenschau. Er war ungeheuer gebildet, belesen und gelehrt, tat aber - als wäre er ein "honnête homme" des 17. Jahrhunderts - alles, um seine Umgebung diese Belesenheit nicht spüren zu lassen. Aus seiner immensen Lektüre machte er fast eine Geheimsache. Gegenüber seinem Verleger, der ihn als Kabarettisten kannte und von einem gelehrten Wälzer keinen Verkaufserfolg erwartete, bestand er darauf, dieses Werk sei überhaupt nicht ernst zu nehmen.

    Nur selten gestattete er einem Freund Zutritt zu seiner Wohnung in der Gentzgasse 7, die er fast noch als Jüngling bezog und bis zu seinem Tod behielt. Besucher setzte er so, dass ihr Blick auf ein Plakat an der Wand mit folgenden Worten fallen musste:

    Selbst die Aufforderung noch zu bleiben darf man nicht immer ernst nehmen! Auch Sie sind keine Ausnahme!

    Die Wohnung lag im obersten Stockwerk, verfügte über Balkon und Dachgarten und bot außer ihm und seinen Büchern erst seiner früheren Kinderfrau Raum, die er als Haushälterin hielt (und die von vielen für seine Mutter gehalten wurde), dann nach deren Tod einer anderen Haushälterin, dann auch deren Kind und später auch dem Mann des Kindes. Geheiratet hat Friedell nie, seine Beziehungen zu Frauen beschränkten sich in der Regel auf Schwärmereien; dauerhaft befreundet war er nur mit Lina Loos, einer Schauspielerin, die ihn nicht allzu ernst nahm und gerade deshalb mochte. Und das wiederum mochte er an ihr. 1938 stürzte er sich, 60 Jahre alt, aus dieser Wohnung auf die Strasse und in den Tod, als SA-Männer Österreich war gerade "heim ins Reich" geholt worden an der Tür klingelten und nach dem "Jud Friedell" fragten.

    Jude war er, wollte er aber nicht sein, wie er alles, was sich auf seine Herkunft bezog, abgelegt hatte. Den Gott des Alten Testaments hielt er für einen rachsüchtigen Beduinenführer, Jesus Christus für die größte Gestalt der Kulturgeschichte, also der gesamten Geschichte. Auf den Geburtsnamen Friedmann legte er ab; nur das Erbe, das ihm ein materiell sorgenfreies Leben ermöglichte, nahm er gern. Mutter und Vater hatte er früh verloren, die Mutter war mit einem anderen davongelaufen, als Egon noch ein kleines Kind war; der Vater, Fabrikant, war einige Jahre darauf gestorben. Von Vormündern und wechselnden Erziehern abhängig, wurde er renitent - er flog von einer "Anstalt" nach der anderen, das Abitur schaffte er, schon deutlich über 20, erst im vierten Anlauf. Allerdings war er dann mit 26 schon Doktor, promoviert mit einer Arbeit über die Philosophie des Dichters Novalis.

    Sein Leben lang war Friedell von einer eng anliegenden Haut Einsamkeit umgeben. Der bestrickende Unterhalter, der überströmende Gesellschaftsmensch sah in der Einsamkeit die Grundbefindlichkeit des Menschen, "wir alle leben im Exil", so drückt er es aus. Und ohne die Künstler, die Maler, Musiker, Dichter, müssten wir einsam bleiben.

    Nun aber erscheinen von Zeit zu Zeit jene merkwürdigen Geschöpfe und zeigen die geheimen unsichtbaren Brücken, die dennoch die einzelnen Menschen untereinander verbinden, und sie errichten allgemeine geistige Verkehrstationen, wo die ganze Menschheit zwanglos zusammenkommen kann. Sie sehen feinere Abstufungen und Übergänge.

    Es soll Tiere geben, die noch jenseits des Spektrums Farben wahrzunehmen vermögen; ebenso sehen auch diese sonderbaren Menschen ein Ultrarot und ein Ultraviolett, das andere Augen nicht sehen können, und sie haben noch dazu die Kraft, andern diese Farben zu beschreiben. Ihr Auge ist ein kompliziertes physikalisches Laboratorium. Es ist Teleskop, Mikroskop und Röntgenapparat. Vor allem aber verrichtet es die Funktionen eines Stereoskops. Der Mensch, dieser berufsmäßige Missversteher, sieht jedes Ding nur von einer Seite. Er weiß nicht, dass es ein Vorn und Hinten, ein Rechts und Links, ein Oben und Unten gibt. Manche sind so begabt, dass sei einmal diese und ein andres Mal jene Seite desselben Dinges wahrnehmen können. Aber jene seltenen Geschöpfe, von denen wir sprechen, haben die Gnade, gleichzeitig alle Seiten zu sehen. Sie wissen, dass auf dieser Kugel alles rund ist und unendlich viele Seiten und Ecken hat. Sie sehen Körper, wo andre nur Linien und Flächen sehen. Gleich den Engeln der Kabbala sind sie ganz mit Augen bedeckt.


    Das ist Egon Friedells Ästhetik, seine Kunstphilosophie, und für ihn ist jeder Künstler ohnehin ein Philosoph. In seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" (zu der dann noch eine "Kulturgeschichte der alten Welt" kam, die er nicht mehr vollenden konnte) tritt Friedell gewissermaßen selbst als Optiker auf, vielmehr als wunderbarer Augenarzt: Es setzt uns die Augen der verschiedenen Künstler ein und lehrt uns damit immer wieder neu und anders zu sehen, vor allem aber schärfer, farbiger, mehrdimensionaler. Wir sehen die Welt dann mit den Augen des Euripides und denen Voltaires, Shakespeares und Rembrandts, Newtons und Balzacs. Es ist ein einzigartiges Werk: Niemals vorher oder nachher ist die Kultur des Abendlandes so umfassend dargestellt, intelligent begriffen und amüsant präsentiert worden. Friedells Kulturgeschichte, von Anfang an ein Erfolgsbuch und beim Beck-Verlag, wo es zuerst erschien und immer noch erscheint, mittlerweile im 158. Tausend, ein wahrer Longseller, ist dennoch bis heute zugleich ein Geheimtipp: Trifft der begeisterte Leser und Proselytenmacher, zu denen sich der Rezensent zählt, doch immer wieder auf Menschen von großer Bildung und ausgeprägtem kulturellen Interesse, die dieses Werk nicht kennen, ja sogar den Namen Friedell noch nie gehört haben.

    Das liegt zum einen am Kulturbruch der Nazis, der auch in diesem Fall die Rezeption brutal unterbrach; es liegt aber auch an etwas Grundsätzlichem. Einer, der etwa Descartes und Pascal, die Infinitesimalrechnung und den französischen Gartenbau, Molière und die Ankleideriten am Hof Ludwigs XIV, technische und wissenschaftliche Neuerungen der Zeit in geistreichem Plauderton darbot, der neben Staatsverträgen und Schlachten auch die Verrichtungen des Alltags betrachtete und all das auch noch unter den Hut eines Begriffs brachte, der war den Fachleuten aller Fächer verdächtig. War da nicht ein Dilettant am Werk? Allerdings, hätte Friedell geantwortet, der nichts mehr verabscheute als steriles Experten- und Spezialistentum. Natürlich enthält das Kompendium von Keel und Kampa auch den schönen Essay, der den Dilettanten als den wahren Kulturbringer preist. Friedells Lieblingsfeind war stets der "Philister", den er besonders oft im Talar des Universitätsprofessors erblickte. Natürlich, frohlockte er, waren es Fachleute, die Genies wie Wagner und Nietzsche nicht erkannten und sie mit Argumenten abzutun meinten wie, Wagner habe keine anständige Fuge schreiben können und Nietzsche könne nicht systematisch denken.

    Gerade Nietzsche gilt einer der hinreißendsten Abschnitte in der "Kulturgeschichte der Neuzeit", und er findet sich auch im Diogenes- dem Kompendium "Vom Schaltwerk der Gedanken".

    Nietzsche ist an seiner Philosophie zugrunde gegangen; aber dies ist kein Einwand gegen sie, sondern im Gegenteil ihr höchster Beweis.
    So heißt es am Anfang, es klingt wie ein Trompetenstoß, und dann eilt Friedell durch Leben und Denken des Philosophen, in einem Tempo und mit einem beherzten Zugriff, dass einem schwindlig werden will. Nietzsche sei eine Art dynamische Synthese der deutschen Geistesgeschichte vom Mittelalter bis zu seiner Gegenwart.

    Er hat alle Phasen der Neuzeit von Wittenberg bis zum Weltkrieg durchlaufen. Er war Lutheraner, Cartesianer, Wagnerianer, Comtist, Darwinist, Pragmatist, vorübergehend sogar Nietzscheaner.

    Ohne eine Pointe kommen wir bei Friedell fast nie davon. Dann analysiert er die Bedeutung Nietzsches für die Entwicklung der deutschen Prosa:

    Seither besitzt die deutsche Sprache ein neues Tempo, ja mehrere neue Tempi und zahllose neue Valeurs. Wie sich das Meer am Schiffskiel unaufhörlich anders koloriert, bald orange oder fleischrosa, bald purpurrot oder glasblau und dann wieder milchweiss, giftgrün, schwefelgelb oder lackschwarz: So wechselt diese Prosa ruhelos unheimlich ihre Farbe; aber stets glaubt man, sie könne in diesem Augenblick, dieser Situation, diesem Konnex unmöglich anders getönt sein.

    Egon Friedell wieder als Optiker; diesmal setzt er uns farbig schillernde und in den Farben changierende Linsen ein, um Nietzsches unerhörte Prosa wenigstens metaphorisch nachempfindbar zu machen. Es folgt die Bedeutung als Erneuerer der Psychologie, der Gedanke des Willens zur Macht und schließlich die finale Deutung: Nietzsche als "gewendeter Christus", als Antichrist und Christ wider Willen, die, wie er formuliert, "letzte und seiner Zeit einzig mögliche Form des Christentums." Nach diesem enthusiastischen Finale folgt unvermeidlich die ironische Coda:

    Aber in seinen letzten Schriften verwirrte sich dieser edle und kräftige Geist. Er wurde, so kann man wenigstens allenthalben vernehmen, von Größenwahn erfasst. Er hielt sich nämlich für Friedrich Nietzsche.

    Dass diese Kulturgeschichte so dahergeplaudert wirkt, dass Friedell selbst ein äußerst virtuoser Manager der Erzähl- und Lesetempi ist, liegt zweifellos daran, dass sie aus wirklichen Gesprächen entstanden ist, die ja ebenfalls den langen erklärenden Monolog und das rasche Hin- und Her der Argumente kennen. Viele Gedanken, vor allem viele Gedankenverbindungen (und eine der Stärken seiner Bücher ist die Assoziation, die Brücke, die Entlegenstes verbindet) hat Friedell tatsächlich im Kaffeehaus und in der Beiz entwickelt, im Gespräch mit seinen Freunden, zu denen eminente Geister wie Alfred Polgar, Karl Kraus, Peter Altenberg oder der Architekt Adolf Loos gehörten. Mit ihnen entwickelte er seine Argumente - oder unterzog sie, wenn sie umgekehrt in der Stille des Lesekabinetts entstanden waren, der Bewährungsprobe des Gesprächs. Im übertragenen Sinne befand sich Friedell selbst in einem ständigen Gespräch: mit den Grossen der Weltgeschichte und der Weltkunst. Ihre Gesellschaft war ihm ohnehin die liebste. Dass er an die großen Männer glaubte, nicht an Strukturen; dass er mit dem Wort "Seele" hantierte wie heutige Historiker mit "Strukturen", dass er darauf beharrte, das Bewusstsein bestimme das Sein und nicht umgekehrt: Das muss niemanden stören, der glaubt, es besser zu wissen, oder anderes durch den wissenschaftlichen Fortschritt für erwiesen hält. Schaut man nur darauf, was man im Gespräch mit diesen großen, den klugen, den genialen Männern (und Frauen) gewinnt, wird man sein Besserwissen als Reservatio mentalis beruhigt beiseite schieben können.

    Besonders provozierend für jeden Spezialisten, aber auch für den durch sie verbildeten Leser ist Friedells Hang, vom Einzelnen zum Allgemeinen zu kommen, überhaupt sein Mut zum großen Bogen und zur großen Geste. Wie gewagt - und, wenigstens für die Zeit der Lektüre, wie überzeugend - klingen etwa seine Ausführungen über Henrik Ibsen.

    Obwohl es nicht zwei menschliche Seelen gibt, die einander völlig gleichen, so kehren doch in dem ungeheuern und vielfach gestuften Geisterreich dieselben Typen immer wieder. Es gibt im Grunde nur drei: den Idealisten, den Realisten und den Skeptiker.

    Das ist schon mal harte Kost für Psychologen - und sind wir das nicht alle? Dann wird's noch toller:

    Die drei größten Dichter der germanischen Rasse haben diese drei Kristallisationsformen der menschlichen Seele in drei leuchtenden Gestalten verkörpert. Shakespeare schuf die Figur des Skeptikers in Hamlet, Goethe die Figur des Idealisten in Faust und Ibsen die Figur des Realisten in Hjalmar.

    Eine gewagte Typenreihe, die Friedell dann jedoch äusserst anschaulich ausführt. Dann geht es wieder zurück zum Menschen an sich:

    Dies sind die drei Typen der Menschheit. Oder vielmehr: Essind die drei Seelen, die in jedem Menschen wohnen, ihn aufbauen und sich in ewigem Kampf und Gleichgewicht befinden. Wer hätte nicht schon gesagt: "Aber wozu eigentlich? Wir sind ein Narrenhaus. Warum sich hineinmischen? Alles das hat ja gar keinen Sinn. In diesem Augenblick war er Hamlet. Wer hätte nicht schon gesagt: "Alles ganz schön. Aber jetzt möchte ich ein Butterbrot und eine Flasche Bier." In diesem Augenblick war er Hjalmar. Und wer hätte nicht trotzdem immer wieder empfunden: "Einerlei. Wir müssen weiter, hinauf! Dazu sind wir auf der Welt." In diesem Augenblick war er Faust. Was ist nun der wahre Sinn des Lebens: die reife Skepsis, das ewige Streben oder das Butterbrot? Der Dichter antwortet: "Wir sind Menschen. Wir müssen zweifeln. Wir müssen streben. Wir müssen Bier trinken."

    Auch in Friedells Brust wohnten diese drei Seelen. Er liebte Speis und Trank, was ihn, ursprünglich ein schöner Mann mit griechischem Profil, der den Goethe in seinem Sketch stets selbst spielte, in fortgeschrittenen Jahren etwas aufgedunsen werden liess. Er war ein Skeptiker, der seine Zweifel am Sinn allen Tuns nie los wurde, und er war ein Idealist. Letzteres auch und vor allem in philosophischer Hinsicht. Was dem modernen Menschen (also dem seiner eigenen Zeit) fehle, sei der Glaube. Je gläubiger ein Zeitalter, desto höher stehe es.

    Wir kommen uns ungeheuer human und gescheit vor, wenn wir unsere Zuständge mit denen des Mittelalters vergleichen. Es erscheint uns düster, beschränkt, leichtgläubig. Und in der Tat: Damals glaubte man wirklich alles. Man glaubte jede Erzählung, jeden Traum, jedes Gerücht, jedes Gedicht, man glaubte an Wahres und Falsches, Weises und Wahnsinniges, an Heilige und Hexen, an Gott und den Teufel. Aber man glaubte auch an sich. Überall sah man Realitäten, selbst dort, wo sie nicht waren: Alles war wirklich. Und überall sah man die höchste aller Realitäten: Gott. Alles war göttlich. Daher trotz aller Jenseitigkeit, Dürftigkeit und Enge der prachtvolle Optimismus jener Zeiten: Wer an die Dinge glaubt, ist immer voll Zuversicht und Freude. Das Mittelalter war nicht finster, das Mittelalter war hell.

    Hell ist auch die "Kulturgeschichte der Neuzeit", trotz der zeitkritischen Töne, die eine Erlösung von der Geistlosigkeit der Gegenwart von einer idealistischen Renaissance erhoffte, von einem "Licht von der anderen Seite". Dahin muss man Friedell nicht folgen. Die "Kulturgeschichte der Neuzeit" ist, auch wenn sich darin gelegentlich Kurioses, Irriges, Verstiegenes findet, ein auf jeder Seite anregendes, verblüffendes, begeisterndes Buch. Und es ist ein Buch für jeden. In diesem unendlichen Gebäude, das die großen Gedanken und Kunstwerke des Abendlandes auf verständlichste Weise vorstellt, verliert sich der Leser nie, noch fühlt er sich je allein hat er doch den kundigsten, geschicktesten und freundlichsten Cicerone dabei, der sich vorstellen lässt. Und wer sich nicht gleich ans Hauptwerk traut: Im Diogenes-Kompendium sind die Gehstrecken etwas überschaubarer.


    Egon Friedell: Vom Schaltwerk der Gedanken. Ausgewählte Essays.
    Hg. von Daniel Keel u. Daniel Kampa. Diogenes, Zürich 2007. 696 S., 28.40 Euro

    Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der Europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. Sonderausgabe in einem Band. C.H. Beck, München 2007. 1580 S., 24.90 Euro.