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Genuss und Askese in der Leistungsgesellschaft

Ist der Verzicht die moderne Form des Genießens? Sind Enthaltsamkeit und Sport sogar dabei, als Garant der Erfüllung den Sex zu ersetzen? Dass der Kapitalismus seine asketischen Wurzeln nicht verloren hat, analysiert Svenja Flaßpöhler in ihrem zweiteiligen Essay "Genuss und Askese in der Leistungsgesellschaft".

Von Svenja Flaßpöhler |
    Sie zeigt, wie sehr trotz des oft besinnungslos wirkenden Kaufrausches von Konsumenten unsere Überflussgesellschaft von Momenten der Askese geprägt ist. Dies lässt sich zum Beispiel am Trend zur Entsagung zeigen, wie er sich ausdrückt in Fitness-Studios, Wellness-Centern oder beim Endlos-Jogging.

    Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin. Als freie Autorin schreibt sie unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Berliner Zeitung und die Fachzeitschrift "Psychologie heute". 2008 erschien ihr Buch "Gutes Gift. Über Eifersucht und Liebe" im Verlag Artemis und Winkler.


    Den ersten Teil des Essays, Wettlauf um Erlösung, sendeten wir am 25.12.2008


    Odysseus, der Wellnesser, oder:
    Zur Problematik des rationalen Genießens
    Ein Mann auf hoher See, aufrecht steht er am Mast, starr, unbeweglich. Unter ihm sitzt, auf harten Bänken und mit verstopften Ohren, sein ruderndes Gefolge. Der Mann ist gefesselt. Auf sein Geheiß hin haben ihn die Ruderer mit starken Seilen an den Mast gebunden. Doch plötzlich windet er sich, schreit, bittet, man möge ihn befreien! Die tauben Gefährten sehen seinen weit aufgerissenen Mund, seine verzweifelten Augen, doch anstatt seinem Flehen nachzugeben schlingen sie die Seile nur noch fester um seinen Leib. Der Mann daraufhin reckt, so weit es ihm möglich ist, Kopf und Oberkörper nach vorne, er bemerkt die schneidenden Fesseln nicht, sondern hört nur den süßen Gesang zweier vogelähnlicher Frauen, die, umringt von Gebeinen und getrockneter Haut, auf einem begrünten Eiland sitzen:

    Komm, besungener Odysseus, du Großer Ruhm der Achaier!
    Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme.
    Denn hier steuerte noch keiner im Schwarzen Schiffe vorüber
    Eh' er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet ...


    Doch Odysseus, so also der Name des Mannes, lenkt sein Schiff nicht ans Land. Dank einer Warnung der Göttin Kirke wusste er rechtzeitig, dass die Sirenen ihn locken würden; auch wusste er, dass er, wenn er ihrem Lockruf nachgäbe, sterben würde wie all die anderen Seeleute, auf deren Knochen die todbringenden Wesen sitzen. Und so folgt er Kirkes klugem Rat, den Gefährten mit Wachs die Ohren zu verstopfen und sich anschließend von ihnen an den Mast binden zu lassen - zumal ihm auf diese Weise der Genuss des Gesangs durchaus nicht entgeht. Nur die Ruderer werden ihres Gehörs beraubt, damit sie taub sind für die Verführungskraft der Sirenen und ihren Herrn kühlen Kopfes vor sich selbst schützen können; Odysseus dagegen kann den Gesang genießen, ohne sich von ihm auf tödliche Weise hinreißen zu lassen.

    Diese Episode aus Homers berühmtem antikem Epos, der "Odyssee", ist für das Thema Genuss und Askese höchst aussagekräftig, und das durchaus auch in einem gesellschaftspolitischen Sinne. Für die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno spiegelt etwa der Umstand, dass der Genuss zwar Odysseus, nicht aber seinen Gefährten vergönnt ist, sehr anschaulich das Verhältnis von Herr und Knecht, oder, modern ausgedrückt, von Arbeitgeber und Arbeitnehmer wider. So gibt es seit jeher in Gesellschaften jene, die den Genuss ermöglichen, ohne an ihm zu partizipieren, und jene, denen der Genuss zuteil wird: Während die Knechte, Homers gehörlosen Ruderern gleich, mehr oder weniger dumpfe, sinnabtötende Arbeit verrichten, können die Herren, ohne einen Finger zu krümmen, die Früchte dieser Arbeit genießen. In ihrer "Dialektik der Aufklärung" schreiben Horkheimer und Adorno:

    Odysseus wird in der Arbeit vertreten. Wie er der Lockung zur Selbstpreisgabe nicht nachgeben kann, so entbehrt er als Eigentümer zuletzt auch der Teilnahme an der Arbeit, [...], während freilich die Gefährten bei aller Nähe zu den Dingen die Arbeit nicht genießen können, weil sie sich unter Zwang, verzweifelt, bei gewaltsam verschlossenen Sinnen vollzieht.

    In der heutigen globalisierten Welt findet sich diese an Feudalismus und Sklaverei gemahnende Gesellschaftsstruktur einmal mehr bestätigt: Produktionsprozesse werden ausgelagert in Billiglohnländer, wo Chinesen, Inder oder Osteuropäer häufig unter schlechtesten Arbeitsbedingungen für einen Lebensstandard sorgen, der für uns so selbstverständlich ist wie für einen Herren die Dienste seines Knechts. Der Herr sieht nicht die Arbeit, die der Knecht leistet, er spürt nicht die Widerständigkeit des zu bearbeitenden Dinges, sondern er genießt ohne jede Anstrengung. Doch halt! Im Zentrum dieses Essays soll nicht der mitteleuropäische Scheuklappen-Odysseus stehen, der sich im Supermarkt über die billigen Pfifferlinge aus Polen freut, ohne an die dahinter stehenden Ausbeutungsverhältnisse zu denken. Der berühmte Held aus Homers Epos führt nämlich, wenn man genau hinsieht, noch eine andere Form des Genießens vor. Odysseus, wie er am Mast steht, gefesselt, entsagend und doch genießend - er ist Sinnbild für einen Genuss, der sich durch strengste Selbstkontrolle und rationalen Verzicht auszeichnet. Odysseus überlässt sich nicht kopflos dem tödlichen Zauber des Sirenengesangs, sondern er bewahrt gesunden Abstand zum Objekt des Begehrens und damit die absolute Herrschaft über sich selbst. "Der gefesselt Hörende", schreiben Horkheimer und Adorno, "will zu den Sirenen wie irgendein anderer. Nur eben hat er Veranstaltung getroffen, dass er als Verfallener ihnen nicht verfällt." Indem Odysseus seine Triebe im wahrsten Sinne des Wortes zügelt und sich damit als stabiles, über jede Verführbarkeit erhabenes Selbstbewusstsein behaupten kann, nimmt er vorweg, was wir im 21. Jahrhundert längst bis ins Letzte perfektioniert haben: nämlich einen vernünftigen, gesundheitsbewussten Genuss, der an die Stelle des genussvollen, ekstatischen Selbstverlusts umgekehrt die Erhaltung und Instandsetzung des Selbst setzt. Im Wohlfühlgenuss wollen wir uns nicht verlieren, sondern wir wollen uns wiederfinden, wir wollen unsere Grenzen nicht auflösen, sondern diese durch eine noch reinere Haut, einen noch strafferen Po und eine noch größere Zurückhaltung beim Trinken und Essen umso präziser markieren. "Das Buffet, das wir kaum noch anrühren, der verschmähte Rest auf dem Teller, das Rumoren eines nicht ganz gefüllten Magens - das sind zweifellos zivilisatorische Errungenschaften", schrieb der Publizist Tobias Kniebe im Frühjahr 2008 im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Eine zivilisatorische Errungenschaft sind diese Formen der Wohlstandsaskese insofern, als sie von einem hohen Maß an Kultiviertheit und Selbstbeherrschung zeugen. Der Wohlstandsasket schnallt den Gürtel nicht enger, weil er muss, sondern weil er sich gefällt in der freiwilligen Geste der Entsagung. Den eigenen Trieb unter Kontrolle zu haben bedeutet Autonomie nicht nur gegenüber den eigenen dunklen Mächten, sondern auch gegenüber der Überflussgesellschaft, die uns ein Gratishäppchen nach dem anderen feilbietet. Wer also einen letzten Rest auf dem Teller lässt, wer lieber weniger als mehr isst und sich auch ansonsten in vornehmer Entsagung übt, zeigt damit seine Souveränität, seine Selbstbestimmtheit, seine Diszipliniertheit an. Dass allerdings eine solche asketische Grundhaltung zugleich auch seelische Verarmung bedeutet oder zumindest bedeuten kann, daran lassen die Philosophen Horkheimer und Adorno keinen Zweifel. Odysseus, so schreiben sie, stellt ein Selbst vor, "das immerzu sich bezwingt und darüber sein Leben versäumt [...] Er [...] kann nie das Ganze haben, er muss immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion".

    Doch greifen wir nicht vor. Denn zunächst einmal ist nicht von der Hand zu weisen, dass Genuss in gewisser Hinsicht durchaus die Fähigkeit zur Entsagung und Selbstkontrolle voraussetzt. Hätte Odysseus sich nicht an den Mast binden lassen, er wäre verloren gewesen, der lebensgefährlichen Versuchung standhalten konnte er nur, indem er seinen Leib bezähmte. In der Tat ist unkontrollierter Genuss gefährlich nah an der Sucht, weshalb es unter Umständen sogar lebensnotwendig ist, dass wir auf so manche Annehmlichkeit verzichten - so verlockend sie auch erscheinen mag. Wir entscheiden uns, das wusste bereits der antike Philosoph Epikur, "nicht schlichtweg für jede Lust, sondern es gibt Fälle, wo wir auf viele Annehmlichkeiten verzichten, sofern sich weiterhin aus ihnen ein Übermaß von Unannehmlichkeiten ergibt." Wer zuviel isst und trinkt, wer seine Lust nicht zu zügeln weiß, schadet nun aber nicht nur sich selbst, sondern ist darüber hinaus unfähig, das Objekt seines Begehrens in seiner ganzen Schönheit zu erkennen. Nur indem der Genießer seine Triebhaftigkeit überwindet und das Objekt ein Stück weit von sich wegrückt, verwandelt sich dieses Objekt von einem natürlichen Ding, das lediglich Bedürfnisse befriedigt, zu einem bewunderungswürdigen Kunstwerk. Der Genießer hat es sorgsam arrangiert und zunächst in all seinen feinen Einzelheiten betrachtet, bevor er es sich langsam, nach Manier eines Connaisseurs, einverleibt. Wer genießen will, muss sich Zeit nehmen, um eine gewisse Atmosphäre zu schaffen, er muss eine Situation zu inszenieren wissen, in der das begehrte Objekt - sei es ein Teller Pasta oder ein anderer Körper - seinen ganzen Reiz entfalten kann. In seinem Buch "Die Kunst des Begehrens" schreibt der Literaturwissenschaftler Nikolaus Largier entsprechend:

    "Die Verwandlung in ein Artefakt, die Metamorphose in ein Kunstwerk, ist es, was ... eine Intensität entstehen lässt, die sich nicht der Natur, sondern allein kunstvoller Inszenierung und Dramatisierung verdankt."

    Homers Odysseus verhält sich in dieser Hinsicht geradezu vorbildlich. Anstatt sich den Sirenen einfach hinzugeben dramatisiert er die Begegnung mit ihnen und hält, damit einhergehend, einen ehrerbietenden Abstand ein. Insofern ist Odysseus tatsächlich der kultivierte Genießer par excellence, ja, der gefesselte Held gemahnt gar an einen begeisterten Konzertbesucher, der den Sopranistinnen auf der Bühne gern nah sein würde, aber, da er die Grenze nicht überschreiten darf, wie gebannt auf seinem Platz verbleibt und genau dadurch Intensität, Spannung entstehen lässt. "Der Gefesselte", schreiben Max Horkheimer und Theodor Adorno, "wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus."
    Genuss setzt also die Inszenierung, die Dramatisierung, und damit einhergehend, einen gewissen Abstand zum begehrten Objekt voraus, was wiederum bedeutet, dass der Genießer zu Triebaufschub, Selbstkontrolle und Enthaltsamkeit fähig sein muss. So weit so gut. Doch es besteht die Gefahr, dass der Genießer die Inszenierung und Dramatisierung überkultiviert und auf diese Weise, so paradox es klingen mag, pervertiert. Der Genießer will genießen, aber ist doch nur damit beschäftigt, die perfekten Voraussetzungen dafür zu schaffen! Geradezu zwanghaft hält er sich mit bestimmten Ritualen auf, die immer gleich zu sein haben und höchsten Standards genügen müssen. Gerade im Urlaub, der schwer verdienten Auszeit, reicht nicht ausnahmsweise mal ein Eintopf oder eine Wurst mit Pommes im Stehen, unermüdlich sucht er das perfekte Restaurant, um dann spätnachts übelgelaunt und hungrig ins Hotel zurückzukehren, von dem er sich auch mehr versprochen hatte. Ja, selbst wenn ihn die Wurst mit Pommes im Grunde sogar reizt und er, nach einem Tag am Meer, Heißhunger auf Salziges verspürt, kann er sich nicht zum Verzehr entschließen. Stattdessen umkreist er die verheißungsvolle Imbissbude wie ein Zwangsneurotiker das verbotene Objekt und verliert sich, wenn man so will, in Ersatzhandlungen.

    Der kultivierte Genießer ist insofern immer in Gefahr, den Genuss im wahrsten Sinne zum Kult zu erheben. Diesem Kult wird alles geopfert, die Spontaneität, die Gier, die Lust, und manchmal sogar der Genuss selbst - nämlich dann, wenn im Vordergrund nicht mehr das Genießen, sondern das Ritual und vor allem das rigide Maßhalten steht. Kein Schluck Wein, der vom asketischen Kult-Genießer nicht auf seine Spätwirkungen hin bedacht würde, und bei der Frage, ob er noch einmal nachnehme vom Hirschragout, hebt er die Hand, als habe man ihn mit dieser Frage regelrecht bedroht. Gewiss, der Körper dankt es uns, nicht spätabends oder gar nachts noch schweres Ragout zu essen, womöglich heruntergespült mit einer ganzen Flasche Rotwein. Doch, so wusste Walter Benjamin: Wer immer nur Maß hält mit allem, kommt nie zu wahrer Welterfahrung - denn ein tiefes Eintauchen in das Wesen der Dinge ist allein, schreibt der Philosoph, dem Gierigen vorbehalten:

    Der hat noch niemals eine Speise erfahren, nie eine Speise durchgemacht, der immer Maß mit ihr hielt. So lernt man allenfalls den Genuss an ihr, nie aber die Gier nach ihr kennen, den Abweg von der ebenen Straße des Appetits, der in den Urwald des Fraßes führt. Im Fraße nämlich kommen die beiden zusammen: die Maßlosigkeit des Verlangens und die Gleichförmigkeit dessen, woran es sich stillt. Fressen, das meint vor allem: Eines, mit Stumpf und Stil. Kein Zweifel, dass es tiefer ins Vertilgte hineingelangt als der Genus. So wenn man in die Mortadella hineinbeißt wie in ein Brot, in die Melone sich hineinwühlt wie in ein Kissen, Kaviar aus knisterndem Papier schleckt und über einer Kugel von Edamer Käse alles, was sonst auf Erden essbar ist, einfach vergisst.

    Was tun Babys, sobald sie greifen, sobald sie begreifen können? Sie stecken sich alles, was in ihre Reichweite kommt, in den Mund und lutschen, schmecken, schlecken, um die Welt zu erkunden. Auch der so genannte ‚Wissensdurstige' und ‚Erkenntnishungrige' hält nicht Maß, sondern er verschlingt Bücher und stürzt sich hinein in das Meer des Ungewissen wie Benjamins Vielfraß in die Melone. Doch je besser erzogen wir sind und je gediegener das Ambiente ist, desto weniger ist das Verschlingen erlaubt - ja, man wird im schlimmsten Fall noch nicht einmal satt. So scheint es in so manchem Restaurant gar nicht darum zu gehen, seinen Hunger zu stillen, sondern sich an dem kunstvollen Arrangement winziger Essenspartikel auf einem viel zu großen Teller zu ergötzen. Das Essen, scheint es, dient nicht mehr primär der Nahrungsaufnahme, sondern vielmehr der Schaulust, ja, der Genuss des Essens degeneriert gewissermaßen zum pornographischen Akt. Wie beim Konsum eines Pornos hält der Genießer das Objekt des Begehrens so sehr auf Abstand, dass er nicht mehr es selbst, sondern nur noch sein Abbild genießt. Es handelt sich um eine Entfremdung, ja beinahe um eine Abscheu vor dem, um das es doch eigentlich geht, nämlich um das Essen selbst. So wie Sigmund Freud zufolge der Fetischist sich vor dem weiblichen Geschlecht ängstigt und daher mit seinem Begehren am Strumpfband hängen bleibt, scheint sich auch der Nouvelle-Cuisine-Genießer vor der Taktilität, dem Geruch, der verführerischen Macht des Essens zurückzuschrecken, und deshalb lässt er sein Verlangen erst gar nicht so weit kommen. Ähnliches gilt auch für die mittlerweile vielfach adaptierte, längst zur Mode gewordene Molekularküche des katalanischen Starkochs Ferran Adrià. In höchst aufwändigen Verfahren verändert Adrià die Struktur des Essens und vergrößert durch die Technik des Aufschäumens dessen Oberfläche, wodurch sich der Geschmack intensiviert. Der Berliner Kunstkoch Jochen Fey sagt über Adriàs Schaumküche:

    Bei Ferran Adrià handelt es sich wie damals bei der "Nouvelle Cuisine" um eine Küche für Menschen, die satt sind und das Essen wird im besten Falle zu einem Geschmackserlebnis ohne Ernährung und Sättigung. Darüber hinaus wird die Taktilität der Speisen und Substanzen vernichtet und/oder verändert, dadurch entfällt ihre Lesbarkeit, die Erinnerung und auch die Assoziationsbildung. [...] Das schon heute weiter verbreitete [...] Aufschäumen von z.B. Gemüsen verschafft den unterschiedlichsten Ingredienzien eine gleiche Taktilität im Mund. Ja, die Vergrößerung der Oberfläche durch das Aufschäumen ermöglicht eine Geschmacksintensivierung. Dieser Vorteil wird aber durch den Verlust der ureigenen Taktilität der Substanz wieder zunichte gemacht.

    Um des Geschmacks willen löffelt der Genießer das Gänsebein wie einen Brei, der die Ursprungsgestalt des Zugerichteten nicht mehr erahnen lässt. Wo aber, fragt Fey, bleibt da die Erinnerung? Um jene vielzitierte Passage aus Prousts berühmtem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" einmal mehr zu bemühen: Wäre Prousts Hauptfigur Marcel im Strudel seiner Erinnerungen verschwunden, wenn er statt des Madeleine-Gebäcks einen Löffel Schaum gegessen hätte? Wohl kaum, denn er hätte die Madeleine noch nicht einmal in den Tee tunken können! Als Schaum verliert das Ding seine Geschichte, seinen Körper und seine Bedrohlichkeit. Nichts bleibt im Halse stecken, der Schaum birgt keine von außen unsichtbaren Knochen, Knorpel, Sehnen in sich, sondern stellt vielmehr eine transparente, ungefährliche Oberfläche dar. Auf diese Weise bekommt der Genuss etwas Unwirkliches, ja beinahe Virtuelles, scheint er doch mit dem ursprünglichen Ding nicht mehr viel zu tun zu haben.

    Doch wagen wir uns nicht zu weit vor. Denn immerhin ist auch ein aufgeschäumter Pilz insofern immer noch ein Pilz, als er nicht in dem Sinn künstlich hergestellt wird wie etwa ein Gen-Pilz. Aber wenn wir schon einmal bei der Simulation sind: Was wäre, wenn man den Geschmack eines formschönen Gen-Pilzes durch aromatische Zusätze genauso intensiv hinbekäme wie den Geschmack eines Schaumpilzes? Hätte ein solcher Pilz gegenüber einem Schaumpilz nicht den Vorteil, dass er nicht nur perfekt schmeckt, sondern auch noch perfekt aussieht? Wäre also der Genuss eines solchen Super-Pilzes, Künstlichkeit hin oder her, nicht schlichtweg unübertrefflich? Warum schimpfen wir immer so auf das Virtuelle, das Künstliche, die Simulation? Ist die Simulation im Hinblick auf den Genuss nicht letzten Endes mindestens ebenso gut wie die Wirklichkeit, ja im Grunde sogar besser? Was empfinden wir intensiver: Den Anblick eines küssenden Paares auf der Straße oder den Anblick eines küssenden Paares im Kino? Und, um noch eine Lanze für den simulierten Genuss zu brechen: Der simulierte Genuss ermöglicht nicht nur höchsten Genuss, sondern höchsten Genuss ganz ohne Gefahr! Wäre es für Odysseus nicht das Lustvollste gewesen, wenn er den Sirenen, anstatt auf dem Meer, im Kinosessel mit Dolby-Surround-System gelauscht hätte, ohne störendes Rauschen und so dicht dran am Geschehen, als wäre er doch an Land gegangen? Höchster Genuss, ja, sogar Ekstase ohne Risiko, das ist es, was simulierter Genuss im Gegensatz zu echtem leistet - und natürlich bietet der Markt längst die entsprechenden Produkte an. Der Philosoph Slavoj Žižek schreibt:

    Auf dem heutigen Markt finden wir eine ganze Reihe von Produkten, die ihrer schädlichen Eigenschaften beraubt sind: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol und so weiter. Und was ist mit virtuellem Sex ohne Sex als Sex ohne Sex? [...] Die virtuelle Realität verallgemeinert einfach dieses Verfahren, ein Produkt anzubieten, das seiner Substanz beraubt ist: Sie stellt die Realität selbst ohne ihre Substanz zur Verfügung, ohne ihren harten Kern des Realen - so wie entkoffeinierter Kaffee wie echter Kaffee duftet und schmeckt, ohne das echte Ding zu sein, wird die virtuelle Realität als Realität erfahren, ohne wie sie zu sein. Alles ist erlaubt, man kann alles genießen - unter der Bedingung, dass es seiner Substanz beraubt ist, die es gefährlich macht.

    Der Genuss ohne Sünde hat keine Kalorien, er ist ungezuckert, beinhaltet kein Fett, keinen Alkohol, kein Koffein und verursacht außerdem keinen Tripper und keine Verlassensängste. Gut, man kann von Zuckerersatzstoffen und auch virtuellem Sex abhängig werden - aber ist das nicht immer noch besser als Verfettung, Liebeskummer oder gar eine Geschlechtskrankheit? Der Genießer, der nicht sündigt, macht sich nicht schuldig, er ist immer auf der richtigen Seite, auf der Seite seines Körpers, auf der Seite der Gesellschaft und, vor allem, auf der Seite der Vernunft. Doch handelt es sich überhaupt noch um Genuss, wenn er gesund, gesellschaftskonform und vernünftig ist? Horkheimer und Adorno schreiben:

    Denken entstand im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur, die am Schluss ganz unterjocht wird. Der Genuss ist gleichsam ihre Rache. In ihm entledigen die Menschen sich des Denkens, entrinnen der Zivilisation. In den ältesten Gesellschaften war solche Rückkehr als gemeinsame in den Festen vorgesehen. Die primitiven Orgien sind der kollektive Ursprung des Genusses. [...] Man gibt sich den verklärten Mächten des Ursprungs hin [...]. Erst mit zunehmender Zivilisation und Aufklärung macht das erstarkte Selbst und die gesicherte Herrschaft das Fest zur bloßen Farce. Die Herrschenden führen den Genus als rationalen ein, als Zoll an die nicht ganz gebändigte Natur, sie suchen ihn für sich selbst zu entgiften zugleich und zu erhalten in der höheren Kultur; den Beherrschten gegenüber zu dosieren, wo er nicht ganz entzogen werden kann. Der Genus wird zum Gegenstand der Manipulation, solange bis er endlich ganz in den primitiven Veranstaltungen untergeht. Die Entwicklung verläuft vom primitiven Fest bis zu den Ferien.

    Den Inbegriff jenes erstarkten Selbst, das den rauschhaften Genuss entzaubert und als rationalen einführt, stellt Horkheimer und Adorno zufolge Homers Odysseus dar. Der Genuss des Sirenengesangs bedroht den Seefahrer und seine Weiterfahrt so wenig wie eine Cola-Light den Cholesterinspiegel, zwei Wochen Sommerurlaub das Bruttosozialprodukt oder in Maßen genossener Wein die Leber. Wer rational genießt, schadet sich nicht, sondern er hält sich fit im Dienste einer Gesellschaft, deren oberste Maxime die Leistung ist und die den Genuss, sofern er sich nicht rational vollzieht, seit je her mit einem Entzug von Anerkennung bestraft. So schrieb bereits der Moralphilosoph Immanuel Kant, dass ein Mensch, der genießt, immer in Gefahr ist, seinen gesellschaftlichen Wert zu verspielen.

    Dass aber eines Menschen Existenz an sich einen Werth habe, welcher blos lebt [...] um zu genießen [...]: das wird sich die Vernunft nie überreden lassen. Nur durch das, was er thut ohne Rücksicht auf Genus, in voller Freiheit und unabhängig von dem, was ihm die Natur auch leidend verschaffen könnte, giebt er seinem Dasein als der Existenz einer Person einen absoluten Werth.

    Weil er sein Tun nicht auf eine Pflicht, sondern auf seine Neigung gründet, verspielt der Genießende für Kant seinen "Werth": Er ist abhängig von seiner Natur und daher kein vollwertiges, verlässliches Mitglied der Gesellschaft. Der Genießer, ein wertloser Zeitgenosse also. Schon wieder zu spät, zu viel und zu fett gegessen, und, zu allem Überfluss, auch noch drei Bier nach Mitternacht getrunken, so grämen wir uns nach einem ausgiebigen Kneipenabend: Wir fühlen uns wertlos, was uns den Genuss sofort wieder vergällt. Deshalb haben wir uns angewöhnt, nach getaner Arbeit lieber noch eine Runde joggen zu gehen, zum Zwecke körperlicher Ertüchtigung und seelischen Ausgleichs, was gut tut nach einem harten Bürotag. Und wenn wir dann müde, verschwitzt und erschöpft nach Hause kommen, essen wir, um uns zu sättigen, Blattsalat und knabbern vorsichtig an einem Stück Käse, um die abgearbeiteten Kalorien nicht nutzlos wieder zuzulegen und den Organismus vor dem Schlaf nicht unnötig zu belasten. Mit einem Genuss im ursprünglichen Sinne, das heißt mit Rausch, Selbstverlust, Grenzauflösung und damit einhergehend, gemeinschaftlicher Vereinigung, hat ein solcher Wohlfühlgenuss ganz offensichtlich nichts mehr zu tun. Wohlfühlgenuss bedeutet vielmehr das gerade Gegenteil, nämlich Selbstkontrolle, Abgrenzung, Individuation und, damit einhergehend, Vereinsamung. Schweigend dreht der rationale Genießer im Park seine Runden, stumm schwitzt er in der Sauna, und Feste verlässt er natürlich immer viel zu früh. Ja, es besteht sogar die Gefahr, dass er aus der selbstkontrollierenden Beschäftigung mit sich selbst überhaupt nicht mehr herauskommt und sich auf nachgerade tödliche Weise um sich selbst dreht. Was Letzteres genau heißt, lässt sich am eindrücklichsten wiederum an Odysseus zeigen, den wir am Ende dieses Essays zur Abwechslung einmal in die Gegenwart holen wollen. Würde Homers Held heute leben, er ginge vermutlich ins Wellness-Center, wo das rationale Genießen vorerst seinen Höhe- oder auch Tiefpunkt erreicht hat. Der Wellness-Genuss ist per definitionem Erholungsgenuss, ein Genesungs-Genuss, der den Produktionsapparat nicht nur unbeschädigt lässt wie ein alkoholfreies Bier oder aus der Distanz genossener Sirenengesang, nein, der Genesungs-Genuss - im übrigen zwei Begriffe, die tatsächlich begriffsgeschichtlich in einem Zusammenhang stehen - der Genesungs-Genuss also stützt den Produktionsapparat sogar, indem er Gesundheitsvorsorge betreibt und selbst Einläufe und Fastenkuren als Vergnügen deklariert. Im Wellness-Center also setzt sich Odysseus gemeinsam mit anderen von der Arbeit Geplagten auf die harten Holzbänke einer finnischen Sauna, danach lässt er sich massieren und, abseits des Trubels, den durch schwer verdauliche Kantinenkost arg strapazierten Darm durchspülen. Anschließend legt er sich in heißes Totes-Meer-Salzwasser, was ihn als Seefahrer zwar ein wenig langweilt, aber gut für die Haut sein soll. Dass er den Genuss auf diese Weise selbst zur Arbeit, ja zu einer Form der Selbstkasteiung werden lässt, merkt Odysseus nicht - denn er ist, im heißen Salzwasser liegend, gerade mit etwas anderem beschäftigt. Er horcht. Horcht angestrengt in sich hinein. Horcht, ob sich seine Gedärme regen, ob sich irgendeine Auffälligkeit vernehmen lässt, die auf eine Krankheit hindeuten könnte. Eine Krankheit, die womöglich so gefährlich ist wie der Gesang todeslüsterner Vogelfrauen, die nur auf den Kontrollverlust ihrer Zuhörer warten ... Und da, tatsächlich, ein seltsames Pfeifen, kommt es aus seinen Lungen? Hören Sie das nicht, sagt Odysseus zur Angestellten, die ihm gerade aus dem Wasser helfen will, dieses helle Pfeifen! Ganz nah tritt die Angestellte an ihn heran, doch anstatt ihren Kopf auf seine Brust zu legen, wickelt sie Odysseus fest in ein angewärmtes Handtuch. Verzweifelt blickt Odysseus in ihr Gesicht, sagt noch einmal: Hören Sie es denn nicht?, doch die Angestellte lächelt nur freundlich, und als sie sich, ihn noch fester ins Tuch schlingend, kurz zur Seite dreht, sieht er in ihrem Ohr einen kleinen Pfropfen aus Bienenwachs.