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Germanwings-Unglück
Erschüttertes Systemvertrauen

Fliegen ist für Menschen ein unnatürlicher Zustand. Was früher militärische Schlachten bewirkten, das entsteht heute durch Unglücke der Technik und des Verkehrs. Ein Name wird zum Symbol einer Katastrophe. Lengede, Eschede, Barcelonette. Gedanken zum Flugzeugunglück jenseits der Faktenlage.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Ein Airbus A319 von Germanwings
    "Fliegen ist für Menschen ein unnatürlicher Zustand", sagte Lufthansa-Chef Spohr. (picture alliance/dpa/Rolf Vennenbernd)
    Die Landkarte hat Blutflecken bekommen, in einer äußerst idyllischen Gegend. Die provenzalischen Alpen sind ein Wander- und Skifahr-Paradies, hier mischt sich der Hochgebirgscharakter schon mit dem Fluidum des Mittelmeeres, hier treffen eine weitgehend unberührte, fast menschenleere Natur und jahrtausendlange Kulturanstrengungen zusammen. In jedem noch so kleinen Dorf zeugt mindestens eine Kirche aus Kalk- und Tuffstein von der frühen Christianisierung, manche sind nur noch Ruinen.
    Hier also hat das Schicksal eingeschlagen und dem Ort eine Bedeutung aufgezwungen, die ihm fremd ist und die er doch so schnell nicht wieder los wird. Aber war es nicht immer so, dass die Weltgeschichte nach den unschuldigsten Winkeln der Erde greift und ihnen mit grausiger Gewalt die Erinnerung an massenhaften Tod aufprägt? Wer kannte das damals niederländische Dorf Waterloo vor dem 18. Juni 1815? Was waren die sumpfigen Felder und Äcker von Austerlitz, bevor 16.000 tote Soldaten dort lagen?
    Was früher militärische Schlachten bewirkten, das entsteht heute durch Unglücke der Technik und des Verkehrs: Ein Name wird zum Symbol einer Katastrophe. Lengede, Eschede, und jetzt – als unfassbar bitteres Namensspiel – Barcelonette, wo der Flug von Barcelona endete. Tatsächlich hieß das französische Städtchen bis zum 18. Jahrhundert Barcelone, weil es auf eine mittelalterliche Festung des Grafen von Barcelona und der Provence zurückgeht.
    Irrationales Tier
    Es sind solche Zufälle, die unser Systemvertrauen in der wissenschaftlich-technischen Welt erschüttern. Sie wecken das irrationale Tier in uns, das Tier, das Flugangst hat und sich den Ergebnissen der Wahrscheinlichkeitsrechnung verweigert. Natürlich wissen wir, dass unser Risiko, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, vielfach höher liegt als ein Flugzeugabsturz. Aber Fliegen ist, wie Lufthansa-Chef Carsten Spohr in einem Interview zu seinem Amtsantritt so treffend sagte, "Fliegen ist für Menschen ein unnatürlicher Zustand."
    Deshalb ist Fliegen mit allerlei Ritualen verbunden. Wir müssen das abergläubische Tier in uns ruhig halten, das irrationale Bauchgefühl besänftigen. Und genau darin liegt der Grund für die überdimensionale öffentliche Aufmerksamkeit, die ein Luftfahrtunglück im Vergleich zu anderen Katastrophen findet. Unsere Psyche tickt eben nicht mathematisch, und offenbar gilt das sogar für Profis wie jene Besatzungen anderer Germanwings-Maschinen, die sich gestern geweigert haben zu starten.
    Letztlich zielt auch ein Staatsakt wie der von heute nachmittag auf diese Gefühlsebene. Weder Angela Merkel noch François Hollande können am Unglücksort irgendetwas ausrichten. Ihre Präsenz ist theatralischer Natur, eine Symbolhandlung, wie sie in der symbolarmen Bundesrepublik kaum noch verstanden wird. Doch zu den Formen staatlicher Repräsentation gehören Rituale, insbesondere im Fall der Trauer.