Feurigen Geist für die, die gegen den Wind segeln. D.E. Sattler spricht Hölderlins Gesang aus dem Gedächtnis. Während seiner über 25-jährigen Beschäftigung hat der Herausgeber den Dichter verinnerlicht. Veröffentlicht hat er ihn wie niemand zuvor. Das Resultat dieser Mühe ist eine Ausgabe, die Hölderlin zum ersten Mal wirklich lesbar macht. Eine Ausgabe, die hungrige und mutige Leser fordert, die nicht nachbuchstabieren wollen, was ein allwissender Herausgeber ihnen zum andächtigen Konsum aufbereitet hat. Kurzum: die Gesänge der Frankfurter Ausgabe sind eine literarische Sensation. Nicht weniger erstaunlich ist allerdings, dass das Projekt überhaupt zu Stande kam. Aber gehen wir der Reihe nach. Anfang der sechziger Jahre liest der junge Werkkunstschüler Dietrich Eberhard Sattler in einer Bertelsmann Lesering Ausgabe erstmals Hölderlins Gedichte und fängt Feuer. Die Begeisterung führt ihn nicht etwa zum Studium der Literaturwissenschaft oder in einen anderen akademischen Beruf. Der junge Mann will Hölderlin ohne Umwege erobern und findet darin seine Berufung.
Hölderlin war in den Sechzigern schon längst nicht mehr der vergessene und verdrängte Dichter, der er noch am Anfang des Jahrhunderts gewesen war. Im Gegenteil: die philosophischen Antipoden Heidegger und Adorno, legten in diesen Jahren Interpretationen vor, die bis heute das Bild von Hölderlins später Lyrik prägen. Und vor allem war gerade eine Gesamtausgabe der Werke Hölderlins erschienen, die als das Nonplusultra der Editionswissenschaft galt: Friedrich Beißners nach ihrem Erscheinungsort benannte Stuttgarter Ausgabe. Die Textgrundlage schien damit ein für allemal gesichert, der dunkle Kontinent Hölderlin endgültig kolonisiert und zivilisiert.
Bei der Lektüre von Beißners Ausgabe stieß Sattler auf Reproduktionen ausgewählter Handschriften Hölderlins. Eine Stelle aus dem Gedicht Das Nächste Beste, die besonders schwierig zu entziffern war, ließ ihm keine Ruhe. Kurzerhand machte er sich auf den Weg nach Stuttgart, um die Manuskripte in der Württembergischen Landesbibliothek selbst in Augenschein zu nehmen:
Ich kam dann in die Bibliothek, ließ mir also diese Seite vorlegen, es gab damals Schwarz/Weiß Fotografien, und sah, dass ich das ja gar nicht lesen kann. Die Seite ist so übervoll beschrieben, und Deutsch, das ich nicht mehr gelernt habe in der Schule. So habe ich mir dann ein paar Handschriften bestellt, und habe dann zuhause versucht sie anhand der Stuttgarter Ausgabe, anhand des sogenannten Lesartenbandes zu entziffern und stellte dann fest, dass soundsoviel, ja 30% oder 40 dessen was auf dieser Seite stand, überhaupt nicht im Text stand. Sondern nur verstreut, oder lemmatisiert heißt es als Fachausdruck, zu Wörtern zerstückelt auf den schließlichen Text bezogen, der ja nur ein rudimentärer war, unlesbar für die Blüten von Deutschland, das ist auch ein Wort, was auf dieser Seite steht, die es angehen sollte, unlesbar dort nur lag. Und die Stelle, die ich reklamiert hatte, die mir aufgefallen war, da sah ich einen Satz am linken Rand, der sehr schwer zu lesen war, den ich damals entzifferte Der Rosse Leib war der Geist , das war falsch, gut, aber dieser Satz fehlte ganz in der Stuttgarter Ausgabe, und ich habe solange ich gearbeitet habe, nie wieder einen fehlenden Satz gefunden, denn die Beißnersche Ausgabe ist bei allen ihren Schwächen, denn sie ist ja der Wissenschaft, kann man schon sagen, ein zurückliegendes Stadium der Editorik und der Beschäftigung, ist sie unglaublich korrekt, also systemintern fast perfekt.
Produktive Zufälle und Missverständnisse beflügeln mitunter die Forschung. Die Entzifferung eines bis dahin übersehenen Satzes war für D.E. Sattler die Initialzündung, auch wenn sich seine Lesart später als falsch herausstellen sollte. Sie brachte ihn zum ersten Mal in Konflikt mit den akademisch etablierten Kreisen der Hölderlin-Forschung. Der Versuch, seine im Selbststudium gemachten Entdeckungen im renommierten Hölderlin-Jahrbuch zu veröffentlichen, scheiterte Anfang der siebziger Jahre am germanistischen Establishment. Dem Autodidakt ohne Abitur und Studienabschluss wurde eine Publikation verwehrt mit dem lakonischen Hinweis auf formale Mängel seiner Arbeit. Die Fußnoten seien unordentlich sortiert, hieß es. Ein krasses Beispiel für den Muff unter den Talaren, den akademischen Klüngel jener Jahre, der sich im Namen eines Dichters gegen kritische Eindringlinge von Außen abriegelte.
Die Enttäuschung Sattlers und seine Widerständigkeit wären vielleicht irgendwann im Sande verlaufen, wenn nicht ein anderer Zufall helfend ins Spiel gekommen wäre.
Zunächst war ja das Projekt "Historisch-kritische- Ausgabe" noch gar nicht da. Es ging ja nur um die Methode, so eminent schwierige Texte darzustellen, und das bot ich damals praktisch den Hölderlin-Professoren an, mit dem neuen Satz, der nun unbekannt war, und mit möglichen Zusammenhängen, und da gelang eigentlich nichts, wenn nicht eines Tages ein Brief von K.D. Wolff vom Verlag Roter Stern gekommen wäre, die (...) zwei Plakate in Kassel abgerissen hatten, die ich gezeichnet habe Stil französischer Karikaturen des 19. Jahrhunderts, Hölderlin und Hegel, Hölderlin und Marx, und nun fragten, was ich da in diesem Volkshochschulkurs eigentlich machte. Da sagte ich, ironisch, dass ich einiges im Marschgepäck hätte, das die mit Textreue geharnischte Germanistik schamrot machen würde. Und dann waren sie nach wenigen Tagen da und dann haben wir dieses Projekt beschlossen, es ganz zu machen. Und das war der Furor. Es war kein Skandal beabsichtigt, der Skandal für die Außenstehenden war es eigentlich, dass es ein linksorientierter, zunächst mal durch Herausgabe von Kim Il Sung oder sonst was prädisponierter Verlag plötzlich Hölderlin machte, und dann hieß es natürlich, jetzt kommt der rote Hölderlin.
Hölderlin im Verlag mit dem roten Stern, der sich ab jetzt, nach einem apokryphen Fragment des Dichters den Beinamen Stroemfeld gab. Das war 1975. Heute ist der Frankfurter Verlag das mit Abstand innovativste Haus in Deutschland, wenn es um historisch-kritische Editionen geht. Gegenwärtig entstehen Ausgaben von Gottfried Keller, Georg Trakl, Heinrich von Kleist und Franz Kafka. Für sie alle war D.E. Sattlers Hölderlin-Ausgabe das Vorbild. Es sind vor allem die Außenseiter, die genialen Randexistenzen der Literatur, die bei Stroemfeld Unterschlupf finden; Hölderlin ist ihr Pate. Verlagsleiter K.D. Wolff erinnert sich.
Bewegungen, die sich selbst als revolutionäre Bewegungen verstehen, suchen ja auch ihre Genealogien. Und Hölderlin gehörte in unsere Ahnenreihe. Und dass wir auf diese Weise ein Stückchen dem bürgerlichen Kulturbetrieb entreißen konnten, das der zensuriert und verstümmelt hatte, wie Sattler gesagt hatte, das war eigentlich sozusagen ein Sieg im Klassenkampf.
Der Ruf der Protestausgabe haftet der Frankfurter Hölderlin-Edition bis heute an, er führt jedoch in die Irre. Was Sattlers und Wolffs Projekt so einzigartig macht, ist nicht die Verbindung von Klassischer Literatur mit linkem Bewusstsein. Die harte Arbeit der Entzifferung setzte sich in Wirklichkeit schnell an die Stelle kämpferischer Parolen. Der politische Aufbruch von 68 wurde literarisch transformiert. Es war die Faszination von Hölderlins Sprache, die Herausgeber und Verleger fesselte und sie auch manche Meinungsverschiedenheit überbrücken ließ:
Es reiche aber,/ Des dunkeln Lichtes voll,/ Mir einer den duftenden Becher,/ Damit ich ruhen möge; denn süß/ Wär' unter Schatten der Schlummer./ Nicht ist es gut,/ Seellos von sterblichen Gedanken/ zu seyn. Doch gut/ Ist ein Gespräch und zu sagen/ Des Herzens Meinung, zu hören viel/ Von Tagen der Lieb',/ Und Thaten, welche geschehen.
Man muss sich heute wieder klar machen, dass Hölderlin seine Gedichte um 1800 so gut wie ohne Aussicht auf Veröffentlichung schrieb. Noch bevor der Dichter nach 1806 in Umnachtung versank und sich selbst im Tübinger Turm um mehr als 40 Jahre überlebte, war sein Werk das eines Isolierten, der vor allem für einen Leser schrieb: sich selbst. Diesen immer auch schmerzhaften Prozess der schreibenden Selbstvergewisserung zeigt die Frankfurter Ausgabe erstmals ungekürzt. Vor die Edition hat sie die Dokumentation gesetzt.
Von dem was er im Zeitraum zwischen 1802 und 1806 schrieb, hat der Autor keine Fassungen letzter Hand hinterlassen, wie man es etwa von Goethe kennt. Hölderlins Gesänge sind eine Sammlung von Fragmenten und Entwürfen. Selbst die wenigen mit Widmungen versehenen Reinschriften von Gedichten wie Der Rhein, Friedensfeier oder Patmos, hat er später immer wieder überarbeitet. Das Bahnbrechende der Frankfurter Ausgabe besteht nun darin, dass in ihr das herkömmliche editorische Verfahren konsequent umgekehrt wird.
Ich sage, bei einem so schwierigen Dichter, muss man den Text als Lesart bezeichnen, und das, was in den Lesarten steht, das Geschriebene, so wie es ist, ist die eigentliche Textgrundlage.
Hölderlins Handschriften sind der Ausgangspunkt, das Zentrum um das sich alles dreht. Die 215 erhaltenen Blätter der nach ihrem Aufbewahrungsort benannten Stuttgarter und Homburger Foliohefte samt einiger verstreuter Handschriften werden lückenlos als fotografische Reproduktionen zugänglich gemacht. Das allein ist als konservatorische Leistung nicht hoch genug einzuschätzen, denn auch an Hölderlins Handschriften nagt nach 200 Jahren der Zahn der Zeit. Aber was für eine großartige Gelegenheit bietet sich damit erst einem Leser, der nun dem Dichter bei der Arbeit über die Schultern schauen kann und einen Blick in Hölderlins Werkstatt werfen.
Auf die Präsentation folgt die Entzifferung: die Übertragung jeder Seite, jeder Zeile, jedes handschriftlichen Zeichens in Druckbuchstaben mit dem Anspruch auf größtmögliche Deckungsgleichheit. Sogar unterschiedliche Federstärken, die Hölderlin benutzt hat, werden im Druckbild sichtbar gemacht. Arbeit für einen im besten Sinne Besessenen - sie ist jedoch kein Selbstzweck. Hölderlins Gewohnheit, auf einem Blatt die Worte ineinander zu verschränken, zwischen die Zeilen zu schreiben oder in verschiedenen Spalten parallel einen Gesang zu entwickeln, verleiht seinen Handschriften mitunter Züge mittelalterlicher Palimpseste. Dem Leser begegnen sie wie die verwirrende Schönheit einer fremden Sprache. Hölderlin zeigt sich gerade dort, wo die Worte ihm nicht zu gehorchen scheinen, wo seine Hand ins Stocken und Stottern gerät, als Dichter der Moderne und als Zeitgenosse.
Damit stürzt die Frankfurter Ausgabe auch das Hölderlin-Bild der Väter endgültig vom Sockel. Denn die von Teilen der Nachkriegsgermanistik gepflegte Ikone des blinden Sehers, der von Apoll geschlagen im Wahnsinn endete, hatte eine politische Kehrseite. Friedrich Beißners noch während des 2. Weltkriegs vorgenommene Einordnung der späten Gesänge unter die Kategorie "vaterländisch" wirkte auch nach dem Krieg fort. Gedichte wie Germanien, Der Rhein oder Patmos schienen eine bruchlose Kontinuität der deutschen Kultur zu beschwören, die vom hässlichen Zwischenspiel der Nazizeit unberührt geblieben war.
Mit diesem Mythos räumt die Frankfurter Ausgabe auf. Das wahre Vaterland des Dichters wird sichtbar, es ist seine Muttersprache. Hölderlins Werk kam nicht als blitzhafte Eingebung über ihn sondern als Mühsal. Nicht einmal der oft zitierte Vers , dem folgt deutscher Gesang aus der Hymne Patmos, der wie in Stein gehauen dazustehen scheint, blieb in Wirklichkeit ohne Alternative. Wie fragwürdig hohles vaterländisches Pathos dem Dichter schon um 1800 war, zeigen die zahlreichen Versuche, ein anderes Ende für die Schlußstrophe zu finden. Monologische Gewissheit lässt die späte Lyrik Hölderlins nicht zu; Vielstimmigkeit tritt an ihre Stelle.
Wo aber sind die Freunde? Bellarmin/ Mit dem Gefährten? Mancher/ Trägt Scheue an die Quelle zu gehn;/ Es beginnet nemlich der Reichtum/ Im Meere. Sie/ Wie Mahler, bringen zusammen/ Das Schöne der Erd' und verschmähn/ Den geflügelten Krieg nicht, und/ Zu wohnen einsam , jahrlang, unter/ Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen/ Die Feiertage der Stadt,/ Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht./
Peter Michalzik hat unlängst in der Frankfurter Rundschau angemerkt, durch das Editionsprinzip der Frankfurter Ausgabe werde Hölderlin entmythologisiert und durch die Hintertür wiederum mythologisiert . Michalzik und andere Kritiker bemängeln im Grunde, dass es der Herausgeber nicht bei der Dokumentation und Umschrift der Manuskripte belassen hat. Daran ist etwas Wahres, aber die Kritik greift trotzdem zu kurz. Im zweiten Band der Gesänge macht sich D.E. Sattler in der Tat daran, auch verstreute Bruchstücke in den Kontext zusammenhängender Gedichte einzufügen. Es entstehen bisher unbekannte Gesänge wie Kolomb oder Die Entscheidung. Der Bezug auf Hölderlins Handschrift bleibt zwar stets nachvollziehbar und ein durchdachtes System von Verweisen führt auch hier durch das Dickicht der Segmente. Mitunter entsteht aber der Eindruck, als wolle Sattler eine Art Hypertext herausarbeiten, der allen bisherigen Herausgebern verborgen geblieben ist. Als sei das offenbare Chaos der Schrift nur die Verschwörung einer dahinterliegenden Ordnung:
Reinschriften sofern sie nicht Überarbeitungen zeigen, scheinen fertig zu sein. Nachher in dem Homburger Folioheft und den Handschriften, die darum herum liegen, also nach 1802 nach der Rückkehr aus Stuttgart bis hinein in den Tübinger Turm 1807, zeigen eine andere Form der Notation. (...) Diese Art vollendete Gedichte fragmentarisch zu schreiben, das heißt, sie vollendet zu denken, aber fragmentarisiert zu notieren, das ist der große Unterschied. Also nicht ein Fragment aus Not, oder weil er nicht fertig wurde, das ist wenn man so will ein künstlerisches Konzept, das wenn man so will in dieser Form singulär ist, einmalig, und vielleicht von modernen Künstlern irgendwo in der Musik in dieser Weise angewandt wird als kombinatorisches Mittel.
Hier glaube ich aber ist es etwas anderes. Dass der Dichter wie meinetwegen Beethoven oder Schubert einige Werke gar nicht mehr hören konnten, der eine, weil er taub war, der andere, weil sie nicht gespielt wurden, so hat dieser Dichter in einer Zeit, die seine Sachen nur mit Häme bedachte, in den zeitgenössischen Kritiken, sofern einmal eine Probe erschien, eine Form gewählt, die das Gedicht in der Verborgenheit in eine andere Zeit hinübertrug, ohne dass er in dieser Weise zum Bildungsgut werden konnte. Dieser Gedanke, dieser kühne Gedanke, dass etwas verstreut notiert wird, enthält ja ein Hoffnungspotential der Sammlung oder der Heilung.
Für einen Herausgeber, der sich ganz dem Dichter verschrieben hat, ist solcher Idealismus eine notwendige Arbeitshypothese; der Leser wird jedoch nicht gezwungen, ihn zu teilen. Darin besteht der Unterschied zum Mythos. Ob Hölderlins Fragmente einen verborgenen Zusammenhang stiften, oder ob man die Spannung des Unfertigen einfach aushalten muss, auf diese Frage gibt die Frankfurter Ausgabe aus gutem Grund keine endgültige Antwort. Der edierte Text macht auch dort noch, wo er sich weit vorwagt, ein demokratisches Leseangebot. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Darin ist D.E. Sattler dem Impuls von 68 treu geblieben.
Der frühe Verlust des Vaters, eine hochproblematische Mutterbindung, das schwärmerisch-entsagende Verhältnis mit einer Frankfurter Bankiersgattin, das mit dem Tod der Geliebten tragisch endet, schließlich die Angst, wegen Hochverrats verhaftet zu werden. Das alles ist aus dem Leben Hölderlins bekannt und war Anlass für allerlei Spekulationen um die Entstehungsgeschichte der späten Lyrik. Die Frankfurter Ausgabe lenkt demgegenüber den Blick wieder auf das, was vom Dichter aus den Jahren um 1800 wirklich bleibt - und es erscheint wie neu: Das Abenteuer der Gesänge beginnt nämlich dort, wo Hölderlins Sprache sich lösen will von den Zufällen der Biographie und das flüchtige Wort eines endlichen Wesens Dauer beansprucht. Dass das einmal Gesagte immer noch gilt: davon sprechen die schönsten Verse deutscher Dichtung:
Nun aber sind zu Indiern Die Männer gegangen,/ Dort an der luftigen Spitz'/ An Traubenbergen, wo herab/ Die Dordogne kommt,/ Und zusammen mit der prächt'gen/ Garonne meerbreit/ Ausgehet der Strom. Es nehmet aber/ Und giebt Gedächtniß die See,/ Und die Lieb' auch heftet fleißige Augen,/ Was bleibet aber, stiften die Dichter./
Hölderlin war in den Sechzigern schon längst nicht mehr der vergessene und verdrängte Dichter, der er noch am Anfang des Jahrhunderts gewesen war. Im Gegenteil: die philosophischen Antipoden Heidegger und Adorno, legten in diesen Jahren Interpretationen vor, die bis heute das Bild von Hölderlins später Lyrik prägen. Und vor allem war gerade eine Gesamtausgabe der Werke Hölderlins erschienen, die als das Nonplusultra der Editionswissenschaft galt: Friedrich Beißners nach ihrem Erscheinungsort benannte Stuttgarter Ausgabe. Die Textgrundlage schien damit ein für allemal gesichert, der dunkle Kontinent Hölderlin endgültig kolonisiert und zivilisiert.
Bei der Lektüre von Beißners Ausgabe stieß Sattler auf Reproduktionen ausgewählter Handschriften Hölderlins. Eine Stelle aus dem Gedicht Das Nächste Beste, die besonders schwierig zu entziffern war, ließ ihm keine Ruhe. Kurzerhand machte er sich auf den Weg nach Stuttgart, um die Manuskripte in der Württembergischen Landesbibliothek selbst in Augenschein zu nehmen:
Ich kam dann in die Bibliothek, ließ mir also diese Seite vorlegen, es gab damals Schwarz/Weiß Fotografien, und sah, dass ich das ja gar nicht lesen kann. Die Seite ist so übervoll beschrieben, und Deutsch, das ich nicht mehr gelernt habe in der Schule. So habe ich mir dann ein paar Handschriften bestellt, und habe dann zuhause versucht sie anhand der Stuttgarter Ausgabe, anhand des sogenannten Lesartenbandes zu entziffern und stellte dann fest, dass soundsoviel, ja 30% oder 40 dessen was auf dieser Seite stand, überhaupt nicht im Text stand. Sondern nur verstreut, oder lemmatisiert heißt es als Fachausdruck, zu Wörtern zerstückelt auf den schließlichen Text bezogen, der ja nur ein rudimentärer war, unlesbar für die Blüten von Deutschland, das ist auch ein Wort, was auf dieser Seite steht, die es angehen sollte, unlesbar dort nur lag. Und die Stelle, die ich reklamiert hatte, die mir aufgefallen war, da sah ich einen Satz am linken Rand, der sehr schwer zu lesen war, den ich damals entzifferte Der Rosse Leib war der Geist , das war falsch, gut, aber dieser Satz fehlte ganz in der Stuttgarter Ausgabe, und ich habe solange ich gearbeitet habe, nie wieder einen fehlenden Satz gefunden, denn die Beißnersche Ausgabe ist bei allen ihren Schwächen, denn sie ist ja der Wissenschaft, kann man schon sagen, ein zurückliegendes Stadium der Editorik und der Beschäftigung, ist sie unglaublich korrekt, also systemintern fast perfekt.
Produktive Zufälle und Missverständnisse beflügeln mitunter die Forschung. Die Entzifferung eines bis dahin übersehenen Satzes war für D.E. Sattler die Initialzündung, auch wenn sich seine Lesart später als falsch herausstellen sollte. Sie brachte ihn zum ersten Mal in Konflikt mit den akademisch etablierten Kreisen der Hölderlin-Forschung. Der Versuch, seine im Selbststudium gemachten Entdeckungen im renommierten Hölderlin-Jahrbuch zu veröffentlichen, scheiterte Anfang der siebziger Jahre am germanistischen Establishment. Dem Autodidakt ohne Abitur und Studienabschluss wurde eine Publikation verwehrt mit dem lakonischen Hinweis auf formale Mängel seiner Arbeit. Die Fußnoten seien unordentlich sortiert, hieß es. Ein krasses Beispiel für den Muff unter den Talaren, den akademischen Klüngel jener Jahre, der sich im Namen eines Dichters gegen kritische Eindringlinge von Außen abriegelte.
Die Enttäuschung Sattlers und seine Widerständigkeit wären vielleicht irgendwann im Sande verlaufen, wenn nicht ein anderer Zufall helfend ins Spiel gekommen wäre.
Zunächst war ja das Projekt "Historisch-kritische- Ausgabe" noch gar nicht da. Es ging ja nur um die Methode, so eminent schwierige Texte darzustellen, und das bot ich damals praktisch den Hölderlin-Professoren an, mit dem neuen Satz, der nun unbekannt war, und mit möglichen Zusammenhängen, und da gelang eigentlich nichts, wenn nicht eines Tages ein Brief von K.D. Wolff vom Verlag Roter Stern gekommen wäre, die (...) zwei Plakate in Kassel abgerissen hatten, die ich gezeichnet habe Stil französischer Karikaturen des 19. Jahrhunderts, Hölderlin und Hegel, Hölderlin und Marx, und nun fragten, was ich da in diesem Volkshochschulkurs eigentlich machte. Da sagte ich, ironisch, dass ich einiges im Marschgepäck hätte, das die mit Textreue geharnischte Germanistik schamrot machen würde. Und dann waren sie nach wenigen Tagen da und dann haben wir dieses Projekt beschlossen, es ganz zu machen. Und das war der Furor. Es war kein Skandal beabsichtigt, der Skandal für die Außenstehenden war es eigentlich, dass es ein linksorientierter, zunächst mal durch Herausgabe von Kim Il Sung oder sonst was prädisponierter Verlag plötzlich Hölderlin machte, und dann hieß es natürlich, jetzt kommt der rote Hölderlin.
Hölderlin im Verlag mit dem roten Stern, der sich ab jetzt, nach einem apokryphen Fragment des Dichters den Beinamen Stroemfeld gab. Das war 1975. Heute ist der Frankfurter Verlag das mit Abstand innovativste Haus in Deutschland, wenn es um historisch-kritische Editionen geht. Gegenwärtig entstehen Ausgaben von Gottfried Keller, Georg Trakl, Heinrich von Kleist und Franz Kafka. Für sie alle war D.E. Sattlers Hölderlin-Ausgabe das Vorbild. Es sind vor allem die Außenseiter, die genialen Randexistenzen der Literatur, die bei Stroemfeld Unterschlupf finden; Hölderlin ist ihr Pate. Verlagsleiter K.D. Wolff erinnert sich.
Bewegungen, die sich selbst als revolutionäre Bewegungen verstehen, suchen ja auch ihre Genealogien. Und Hölderlin gehörte in unsere Ahnenreihe. Und dass wir auf diese Weise ein Stückchen dem bürgerlichen Kulturbetrieb entreißen konnten, das der zensuriert und verstümmelt hatte, wie Sattler gesagt hatte, das war eigentlich sozusagen ein Sieg im Klassenkampf.
Der Ruf der Protestausgabe haftet der Frankfurter Hölderlin-Edition bis heute an, er führt jedoch in die Irre. Was Sattlers und Wolffs Projekt so einzigartig macht, ist nicht die Verbindung von Klassischer Literatur mit linkem Bewusstsein. Die harte Arbeit der Entzifferung setzte sich in Wirklichkeit schnell an die Stelle kämpferischer Parolen. Der politische Aufbruch von 68 wurde literarisch transformiert. Es war die Faszination von Hölderlins Sprache, die Herausgeber und Verleger fesselte und sie auch manche Meinungsverschiedenheit überbrücken ließ:
Es reiche aber,/ Des dunkeln Lichtes voll,/ Mir einer den duftenden Becher,/ Damit ich ruhen möge; denn süß/ Wär' unter Schatten der Schlummer./ Nicht ist es gut,/ Seellos von sterblichen Gedanken/ zu seyn. Doch gut/ Ist ein Gespräch und zu sagen/ Des Herzens Meinung, zu hören viel/ Von Tagen der Lieb',/ Und Thaten, welche geschehen.
Man muss sich heute wieder klar machen, dass Hölderlin seine Gedichte um 1800 so gut wie ohne Aussicht auf Veröffentlichung schrieb. Noch bevor der Dichter nach 1806 in Umnachtung versank und sich selbst im Tübinger Turm um mehr als 40 Jahre überlebte, war sein Werk das eines Isolierten, der vor allem für einen Leser schrieb: sich selbst. Diesen immer auch schmerzhaften Prozess der schreibenden Selbstvergewisserung zeigt die Frankfurter Ausgabe erstmals ungekürzt. Vor die Edition hat sie die Dokumentation gesetzt.
Von dem was er im Zeitraum zwischen 1802 und 1806 schrieb, hat der Autor keine Fassungen letzter Hand hinterlassen, wie man es etwa von Goethe kennt. Hölderlins Gesänge sind eine Sammlung von Fragmenten und Entwürfen. Selbst die wenigen mit Widmungen versehenen Reinschriften von Gedichten wie Der Rhein, Friedensfeier oder Patmos, hat er später immer wieder überarbeitet. Das Bahnbrechende der Frankfurter Ausgabe besteht nun darin, dass in ihr das herkömmliche editorische Verfahren konsequent umgekehrt wird.
Ich sage, bei einem so schwierigen Dichter, muss man den Text als Lesart bezeichnen, und das, was in den Lesarten steht, das Geschriebene, so wie es ist, ist die eigentliche Textgrundlage.
Hölderlins Handschriften sind der Ausgangspunkt, das Zentrum um das sich alles dreht. Die 215 erhaltenen Blätter der nach ihrem Aufbewahrungsort benannten Stuttgarter und Homburger Foliohefte samt einiger verstreuter Handschriften werden lückenlos als fotografische Reproduktionen zugänglich gemacht. Das allein ist als konservatorische Leistung nicht hoch genug einzuschätzen, denn auch an Hölderlins Handschriften nagt nach 200 Jahren der Zahn der Zeit. Aber was für eine großartige Gelegenheit bietet sich damit erst einem Leser, der nun dem Dichter bei der Arbeit über die Schultern schauen kann und einen Blick in Hölderlins Werkstatt werfen.
Auf die Präsentation folgt die Entzifferung: die Übertragung jeder Seite, jeder Zeile, jedes handschriftlichen Zeichens in Druckbuchstaben mit dem Anspruch auf größtmögliche Deckungsgleichheit. Sogar unterschiedliche Federstärken, die Hölderlin benutzt hat, werden im Druckbild sichtbar gemacht. Arbeit für einen im besten Sinne Besessenen - sie ist jedoch kein Selbstzweck. Hölderlins Gewohnheit, auf einem Blatt die Worte ineinander zu verschränken, zwischen die Zeilen zu schreiben oder in verschiedenen Spalten parallel einen Gesang zu entwickeln, verleiht seinen Handschriften mitunter Züge mittelalterlicher Palimpseste. Dem Leser begegnen sie wie die verwirrende Schönheit einer fremden Sprache. Hölderlin zeigt sich gerade dort, wo die Worte ihm nicht zu gehorchen scheinen, wo seine Hand ins Stocken und Stottern gerät, als Dichter der Moderne und als Zeitgenosse.
Damit stürzt die Frankfurter Ausgabe auch das Hölderlin-Bild der Väter endgültig vom Sockel. Denn die von Teilen der Nachkriegsgermanistik gepflegte Ikone des blinden Sehers, der von Apoll geschlagen im Wahnsinn endete, hatte eine politische Kehrseite. Friedrich Beißners noch während des 2. Weltkriegs vorgenommene Einordnung der späten Gesänge unter die Kategorie "vaterländisch" wirkte auch nach dem Krieg fort. Gedichte wie Germanien, Der Rhein oder Patmos schienen eine bruchlose Kontinuität der deutschen Kultur zu beschwören, die vom hässlichen Zwischenspiel der Nazizeit unberührt geblieben war.
Mit diesem Mythos räumt die Frankfurter Ausgabe auf. Das wahre Vaterland des Dichters wird sichtbar, es ist seine Muttersprache. Hölderlins Werk kam nicht als blitzhafte Eingebung über ihn sondern als Mühsal. Nicht einmal der oft zitierte Vers , dem folgt deutscher Gesang aus der Hymne Patmos, der wie in Stein gehauen dazustehen scheint, blieb in Wirklichkeit ohne Alternative. Wie fragwürdig hohles vaterländisches Pathos dem Dichter schon um 1800 war, zeigen die zahlreichen Versuche, ein anderes Ende für die Schlußstrophe zu finden. Monologische Gewissheit lässt die späte Lyrik Hölderlins nicht zu; Vielstimmigkeit tritt an ihre Stelle.
Wo aber sind die Freunde? Bellarmin/ Mit dem Gefährten? Mancher/ Trägt Scheue an die Quelle zu gehn;/ Es beginnet nemlich der Reichtum/ Im Meere. Sie/ Wie Mahler, bringen zusammen/ Das Schöne der Erd' und verschmähn/ Den geflügelten Krieg nicht, und/ Zu wohnen einsam , jahrlang, unter/ Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen/ Die Feiertage der Stadt,/ Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht./
Peter Michalzik hat unlängst in der Frankfurter Rundschau angemerkt, durch das Editionsprinzip der Frankfurter Ausgabe werde Hölderlin entmythologisiert und durch die Hintertür wiederum mythologisiert . Michalzik und andere Kritiker bemängeln im Grunde, dass es der Herausgeber nicht bei der Dokumentation und Umschrift der Manuskripte belassen hat. Daran ist etwas Wahres, aber die Kritik greift trotzdem zu kurz. Im zweiten Band der Gesänge macht sich D.E. Sattler in der Tat daran, auch verstreute Bruchstücke in den Kontext zusammenhängender Gedichte einzufügen. Es entstehen bisher unbekannte Gesänge wie Kolomb oder Die Entscheidung. Der Bezug auf Hölderlins Handschrift bleibt zwar stets nachvollziehbar und ein durchdachtes System von Verweisen führt auch hier durch das Dickicht der Segmente. Mitunter entsteht aber der Eindruck, als wolle Sattler eine Art Hypertext herausarbeiten, der allen bisherigen Herausgebern verborgen geblieben ist. Als sei das offenbare Chaos der Schrift nur die Verschwörung einer dahinterliegenden Ordnung:
Reinschriften sofern sie nicht Überarbeitungen zeigen, scheinen fertig zu sein. Nachher in dem Homburger Folioheft und den Handschriften, die darum herum liegen, also nach 1802 nach der Rückkehr aus Stuttgart bis hinein in den Tübinger Turm 1807, zeigen eine andere Form der Notation. (...) Diese Art vollendete Gedichte fragmentarisch zu schreiben, das heißt, sie vollendet zu denken, aber fragmentarisiert zu notieren, das ist der große Unterschied. Also nicht ein Fragment aus Not, oder weil er nicht fertig wurde, das ist wenn man so will ein künstlerisches Konzept, das wenn man so will in dieser Form singulär ist, einmalig, und vielleicht von modernen Künstlern irgendwo in der Musik in dieser Weise angewandt wird als kombinatorisches Mittel.
Hier glaube ich aber ist es etwas anderes. Dass der Dichter wie meinetwegen Beethoven oder Schubert einige Werke gar nicht mehr hören konnten, der eine, weil er taub war, der andere, weil sie nicht gespielt wurden, so hat dieser Dichter in einer Zeit, die seine Sachen nur mit Häme bedachte, in den zeitgenössischen Kritiken, sofern einmal eine Probe erschien, eine Form gewählt, die das Gedicht in der Verborgenheit in eine andere Zeit hinübertrug, ohne dass er in dieser Weise zum Bildungsgut werden konnte. Dieser Gedanke, dieser kühne Gedanke, dass etwas verstreut notiert wird, enthält ja ein Hoffnungspotential der Sammlung oder der Heilung.
Für einen Herausgeber, der sich ganz dem Dichter verschrieben hat, ist solcher Idealismus eine notwendige Arbeitshypothese; der Leser wird jedoch nicht gezwungen, ihn zu teilen. Darin besteht der Unterschied zum Mythos. Ob Hölderlins Fragmente einen verborgenen Zusammenhang stiften, oder ob man die Spannung des Unfertigen einfach aushalten muss, auf diese Frage gibt die Frankfurter Ausgabe aus gutem Grund keine endgültige Antwort. Der edierte Text macht auch dort noch, wo er sich weit vorwagt, ein demokratisches Leseangebot. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Darin ist D.E. Sattler dem Impuls von 68 treu geblieben.
Der frühe Verlust des Vaters, eine hochproblematische Mutterbindung, das schwärmerisch-entsagende Verhältnis mit einer Frankfurter Bankiersgattin, das mit dem Tod der Geliebten tragisch endet, schließlich die Angst, wegen Hochverrats verhaftet zu werden. Das alles ist aus dem Leben Hölderlins bekannt und war Anlass für allerlei Spekulationen um die Entstehungsgeschichte der späten Lyrik. Die Frankfurter Ausgabe lenkt demgegenüber den Blick wieder auf das, was vom Dichter aus den Jahren um 1800 wirklich bleibt - und es erscheint wie neu: Das Abenteuer der Gesänge beginnt nämlich dort, wo Hölderlins Sprache sich lösen will von den Zufällen der Biographie und das flüchtige Wort eines endlichen Wesens Dauer beansprucht. Dass das einmal Gesagte immer noch gilt: davon sprechen die schönsten Verse deutscher Dichtung:
Nun aber sind zu Indiern Die Männer gegangen,/ Dort an der luftigen Spitz'/ An Traubenbergen, wo herab/ Die Dordogne kommt,/ Und zusammen mit der prächt'gen/ Garonne meerbreit/ Ausgehet der Strom. Es nehmet aber/ Und giebt Gedächtniß die See,/ Und die Lieb' auch heftet fleißige Augen,/ Was bleibet aber, stiften die Dichter./