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Geschichte einer wunderbaren Rettung?

Vor einer Woche etwa hörte die Welt die grausige Meldung von den zu Indien gehörenden Andamanen-Inseln: Bis zu fünf Völkerstämme, die dort seit Urzeiten leben, seien vermutlich ausgelöscht. Jedenfalls habe das Wasser praktisch sämtliche Inseln vollständig überrollt; einige seien regelrecht verschluckt worden. Und nun gibt es diese wunderbar klingende Erzählung über einen Stamm von Ureinwohnern vor der Küste Thailands, die sich durch die Warnung ihres Ältesten vor der Katastrophe retten konnten, und das, obwohl diese Seenomaden weder einen Zeitbegriff haben noch jemals eine Tsunami erlebten.

Ulrich Delius, Gesellschaft für bedrohte Völker, im Gespräch |
    Karin Fischer: Frage an Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker, wie genau ging denn diese Geschichte?

    Ulrich Delius: Nun, die Seenomaden leben seit Jahrhunderten auf dem Meer, neben dem Meer, sie kennen das Meer wie ihre Westentasche und das hat ihnen, denke ich, das Leben gerettet, weil sie die Zeichen der Natur interpretiert haben. Sie haben gesehen, das Meer zieht sich zurück, die Vögel fangen an ganz laut zu schreien, der Wind ebbte plötzlich auch ab und das hatte ihnen einfach Angst gemacht. Ganz anders als die Thaifischer, die freudestrahlend auf den Strand liefen und die Fische einsammelten, sind die Ureinwohner dann ins Landesinnere geflohen und haben gesehen, dass sie sich auf einem Hügel in Sicherheit brachten.

    Fischer: Die Freude über solche Meldungen betrifft mindestens zum Teil ja auch die von Europäern sehr gern geglaubte Vermutung, dass sozusagen dieses ursprüngliche Leben mit der Natur im Fall einer Katastrophe unserem technisierten Wissen deutlich überlegen sei. Ist das denn wirklich so oder geht es hier nicht auch, um ein sozusagen volkskundlich bemäntelten Exotismus?

    Delius: Ich denke, in diesem Fall ist es kein Exotismus. Es ist sehr spannend, dass gerade in so Gesellschaften wie Thailand und Indien, die bislang Ureinwohner sehr gering schätzen, ihre Rechte letztendlich mit Füßen treten, dass da jetzt plötzlich kritische Fragen kommen: Haben wir diese Menschen nicht vielleicht zu lange als Wilde angesehen, die uns gar nichts auch selber an Wissen vermitteln können? Weil wir auf den Andamanen jetzt auch eine ähnliche Entwicklung gesehen haben, dass da auch fünf besonders zurückgezogen lebende Völker sich retten konnten, weil sie eben die Zeichen des Meeres interpretieren konnten. Daraufhin sagen jetzt Ethnologen in Indien, das sollten wir studieren und vielleicht können wir es auch nutzen für ein großes Frühwarnsystem, was sehr viel preisgünstiger ist als das, was die Industrie entwickeln will.

    Fischer: Gibt es denn irgendwelche Vorstellungen, wie solches indigenes Wissen etwa für ein Frühwarnsystem zu nutzen wäre?

    Delius: Nun, erstmal will man dies dokumentieren und sagt, dass das natürlich vollkommenes Neuland ist, so orales Wissen jetzt eben von indigenen Völkern festzuhalten in Schrift und Bild und zu schauen, inwieweit kann man das jetzt mit moderner Technologie kombinieren. Das ist sozusagen Neuland, aber es ist eben ein ermutigender Schritt, dass man überhaupt mal dazukommt, einzugestehen, dass wir vielleicht von Indigenen auch lernen können.

    Fischer: Was die Andamanen- und Nikobareninseln betrifft, gibt es ja nach wie vor keine definitiven Zahlen über Opfer unter den Ureinwohnern. Heute war in den Agenturen zu lesen, dass die meisten überlebt haben, weil sie sowieso fern der Strände im Dschungel leben. Das würde dann die Rhetorik der indischen Regierung unterstützen, die die Opferzahlen in den letzten Tagen, sagen wir mal, ein bisschen heruntergeredet hat.

    Delius: Es gibt aber nach wie vor sehr, sehr beunruhigende Meldungen gerade von den Nikobaren. Diese Inselgruppe ist sehr stark betroffen worden von dem Seebeben und der Flutwelle und dort ist noch immer das Schicksal von nahezu 10.000 Menschen ungeklärt. Man weiß inzwischen, dass viele Siedlungen zerstört worden sind, auch Militärstützpunkte sind zerstört worden und wir fürchten, dass da die Opferzahlen noch in die Höhe gehen könnten und davon natürlich auch Ureinwohner betroffen wären.

    Fischer: Was für eine Status haben diese Urvölker denn überhaupt innerhalb der indischen Politik?

    Delius: Indien missachtet die Rechte seiner Ureinwohner eigentlich sehr massiv, obwohl es kein Land gibt, in dem mehr Ureinwohner leben als in Indien erstaunlicherweise. Für diese Andamanen und Nikobaren hat man eine Sonderregelung quasi getroffen: Dort dürfen Ausländer nicht hinreisen. Das wird einerseits mit dem Schutz dieser Ureinwohner begründet, gleichzeitig muss man aber auch klar sagen: Indien hat militärstrategische Interessen, möchte gerne diese Region möglichst von Ausländern freihalten, weil sich dort Militärstützpunkte befinden, von denen man aus die Seestraße von Malakka beobachtet.

    Fischer: Wenn Sie nun diese Abschottungspolitik kritisieren, dann ist auf der anderen Seite ja auch zu fragen, was man eigentlich mit diesen Völkern tut, wenn sie im Prinzip nur Holz und Bambus im Moment benötigen, jetzt aber Kleidung, Schokolade oder Eis bekommen?

    Delius: Das ist eben das ganz große Problem, wenn diese Völker auf unsere Zivilisation stoßen. Wir sind auch nicht Fürsprecher so einer absoluten Abgrenzungspolitik. Wir sagen, es soll den Völkern überlassen bleiben, welche Art von Entwicklung, welche Form von Entwicklung sie sich vorstellen können. Da gibt es eben auch ganz unterschiedliche Stimmen, auch von den Andamanen und Nikobaren. Einige leben ganz abgeschieden von unserer Zivilisation, andere wollen sie auch durchaus haben. Nur wir sagen, was wichtig ist, ist, dass diese Völker vorher wissen, was das für Folgen hat, wenn sie sich entscheiden, zum Beispiel unsere Werte zu akzeptieren, so zu leben wie wir. Dass es eben für sie auch mit sich bringt, dass sie weitestgehend ihre Kultur und ihre Identität verlieren werden.


    Fischer: Heikle Einflussnahme also auch durch Helfer. Ulrich Delius war das von der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen.