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Geschnatter im Wattenmeer

Ringelgänse ziehen Jahr für Jahr viele Touristen auf die Nordseeinsel Neuwerk. Doch die Anwesenheit der Zugvögel wird nicht überall positiv gesehen: Anderen Weidetieren fressen sie in den Frühlingsmonaten nämlich das Gras weg.

Von Sibylle Hoffmann |
    Achtung! Die Ringelgänse sind da. Es ist Frühling, und in großen Trupps - zu Tausenden - fallen sie über die kleine Nordseeinsel Neuwerk her. Das Inselchen liegt unweit von Cuxhaven, mitten im Nationalpark Wattenmeer und ist gar nicht so klein - es ist viel größer als Helgoland! Nach einer Schätzung der Naturschützer, die hier hauptsächlich Vögel zählen, leben auf der Insel 33 Personen. Fast alle sind in der Gastronomie tätig. Es gibt keine Kirche, und der Gottesdienst wird nur einmal im Jahr abgehalten. Doch der Leuchtturm sendet sein Licht ins Dunkel. Seit fast 700 Jahren strahlt er nachts über's Meer.

    In den Frühlingsmonaten schnattert zu Füßen des Leuchtturms unentwegt: Sind es nicht die vielen Touristen am Kiosk und in den Gaststätten, sind es die Ringelgänse auf ihren Raststätten.

    "Die kommen aus ihren Winterquartieren, sind hier auf Zwischenstopp, futtern sich hier ein ordentliches Fettpolster an und sind dann auf dem Weiterflug in Richtung Sibirien."

    Im Frühjahr führt der Ranger Thorsten Köster die Inselgäste zu den grauschwarzen Gänseschwärmen auf dem Grünland. Das helle Halsband, das ihnen den Namen Ringelgans gibt, kann man mit bloßem Auge jedoch schlecht erkennen:
    "Ich kann die Gäste ranführen an so einen Schwarm, sag ich mal, teilweise bei guter Sicht und wenn die Tiere wirklich ausgeglichen sind, bis an 50, 100 Meter. Das ist schon sehr dicht. Da kann man schon sehr gut mit dem bloßen Auge gucken. Wenn natürlich die Tiere selber eine schlechte Sicht haben, wie zum Beispiel heute morgen durch den Nebel oder so, ist die Fluchtdistanz wesentlich größer. Das heißt, jeder Schatten, der im Nebel auftaucht, wird gleich als Feind wahrgenommen und dann sind die Tiere auch weg."

    Sie fliegen auf, und von unten können die Touristen rätseln, ob es hell- oder dunkelbäuchige Ringelgänse sind. Die dunkelbäuchigen sind auf Neuwerk häufiger.

    Bei Niedrigwasser lassen sie sich im Watt nieder, wo sie nach Algen und Seegras picken. Lieber mögen sie trockenen Fußes am Gras, und an Kräutern und Moosen rupfen. Das könnten sie am Festland auch, aber da fühlen sich die schreckhaften Tiere nicht so sicher wie im Nationalpark, in dem es keine Autos gibt und das Weideland für die rastenden Gänse reserviert ist.

    Die Insel Neuwerk liegt nahe der Elbmündung und gehört - amtlich gesehen - zum "Bezirk Mitte" von Hamburg. Aber diese Mitte liegt vier Fahrstunden von der Hafenstadt entfernt. Etwa drei Stunden fährt man mit Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln bis nach Cuxhaven-Sahlenburg, und dort besteigt man einen gelben Wattwagen. Der fährt allerdings nur bei Niedrigwasser und braucht eine Stunde bis zur Insel.

    Wattwagen sind gelbe, offene Kutschen, die von Pferden durch den Schlick, über Muschelbänke und durch Wasserläufe, die im Watt Priele heißen, bis ans Ziel gezogen werden.

    Thomas Fischer führt einen Wattwagenbetrieb auf Neuwerk. Achtzehn Pferden muss er Heu vorlegen, auf die Weide dürfen die Vierbeiner im Frühjahr nicht. Bis Mai ist es für die Vögel reserviert. Konkurrieren Pferd und Vogel ums Futter?

    "Och, kann man so nicht sagen. Die Gänse haben vorher schon alles aufgefressen, bevor die Pferde rauskommen. Das ist das Problem an der ganzen Sache, ne. Und dann wächst eben nicht genug nach, und wir haben nicht genug Futter für die Pferde. Die Deichmahd machen wir auch noch zu Silo, haben da ungefähr vierhundert - ne zweihundert - Großballen - und wenn wir die nicht hätten, hätten wir nicht annähernd genug Futter. Nee, das fressen die alles weg da."

    Der Ranger kennt den Futterstreit zwischen Vogel und Pferd. Wie wird er ausgetragen?

    "Jedenfalls nicht mit Waffen! Es gibt die Möglichkeit, Entschädigungszahlungen zu bekommen, das ist hier aber meistens nicht erforderlich, da die Vegetation relativ schnell wieder in Gang kommt. Irgendwann Ende Mai sind die Gänse wieder weg, und dann kann die Vegetation wieder voll loslegen, und dann ist auch immer genug Futter für Pferde und Rinder da."

    Auch Rinder sind Sommergäste auf der Insel. Sie werden übers Watt gebracht und dürfen hier weiden. Nur Schafe sind von dem guten Inselgras ausgeschlossen. In Norddeutschland sieht man sie überall auf den Deichen weiden, nur auf Neuwerk nicht. Das ist schon seit gut zwei Jahrzehnten so, und das erbost Thomas Fischer noch heute. Und dann lenkt er ein:

    "Na ja gut. Nachher wurde das ja auch in der Gastronomie nicht so gern gesehen, auf gut Deutsch die Schafscheiße, wenn die hier aufm Teppich und da aufm Tisch liegt, und dann 1990 gab's ja auch kein Geld mehr für die Schafe, bei der Wiedervereinigung, da gab's so viele Schafe, die wurden nicht mal gewogen, und das lohnte sich nicht mehr, ne."

    Gänsedreck mögen die Gastwirte allerdings auch nicht:

    "Sie müssen eine Masse an Fett aufbauen. Pro Tag 15 Gramm Fett, das ist ganz schön was, und bei den Ringelgänsen ist es so, sie können, müssen viel fressen, weil sie nur ein Drittel von dem Gefressenen verdauen können..."


    ... das heißt, zwei Drittel werden wieder ausgeschieden.

    Thorsten Köster ist mit einer Gruppe zum Gänsegucken ausgezogen.
    Der Ranger hat sein Stativ aufgebaut, das Spektiv justiert und schaut auf den Groden, das eingedeichte Marschland: "Gans viel Trubel", heißt die Veranstaltung, bei der der Wind manch eine Erklärung einfach verweht.

    Eine Herde Gänse in Sicht! Ringelgänse! Aber in der Mittagswärme flimmert es, und die Gruppe hat Mühe, die eine Gans von der anderen zu unterscheiden. Graugänse, Ringelgänse, Nonnengänse und Brandgänse ... Das Hitzeflimmern macht auch bei der Vogelzählung Schwierigkeiten:

    "Zum einen kann man sich sehr leicht verzählen, wenn dieses Flimmern da ist, zum andern ist es auch sehr schwer zu erkennen. Jetzt geht's noch, es ist nur ein leichtes Flimmern, aber wenn Sie so richtige Temperaturen kriegen, dann wird es unangenehm."

    Die Zahl der Ringelgänse auf der Insel gestern: 4500. Weitere Tausende werden in den nächsten Tagen noch aus Südengland und Nordfrankreich einfliegen.

    Jenseits des Groden, im Deichvorland, sind die Austernfischer zu Gange. Höchst besorgt schreien sie, offenbar passt den schwarz-weißen Vögeln mit den roten Beinen und dem roten Schnabel weder der ungefiederte noch der gefiederte Insel-Besuch. Sie sind schon in der Brutzeit. Sie werden ihre Futterstellen im Watt und an Land aber demnächst mit weiteren Artgenossen teilen müssen. Noch mehr Zugvögel und Brüter werden neben ihnen Platz nehmen.

    In seinem Neuwerker Hotelzimmer sitzt Wolfgang Merker aus Dabrun bei Wittenberg. Er liebt die Ruhe auf Neuwerk. Das ist etwas verwunderlich, denn Ruhe gibt's hier jetzt nicht. Mit der Tide strömen Tagesgäste auf die Insel, belegen die Sitzplätze in den Restaurants, essen Bratfisch, Krabben und Kuchen und geben wenig Ruhe. Dann, so erklärt er lachend, sei er aber meistens im Watt, um Bernstein zu suchen. Dort hört er das Kreischen der Austernfischer, der Möwen und des Brachvogels - und das ist offenbar Musik in seinen Ohren.

    "Das geht ja von Austernfischer bis Küstenseeschwalben, Brandseeschwalbe, Brandgänse. Dieses Wilde ist schön. Ist auch beruhigend. Die Vögel leben uns vor, wie frei man sein kann. Das ist das Schöne."