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Geschwister oder Cousins?

Paläoanthropologie. – Moderner Mensch und Neandertaler sind nur die jüngsten einer ganzen Reihe von Mitgliedern der Gattung Homo, die sich seit etwa 800.000 Jahren entwickelt haben. Auf dem Internationalen Anthropologenkongress in Athen stritten die Wissenschaftler darüber, ob all diese Spielarten unterschiedliche Arten oder nur Varianten einer Art sind. Der Journalist Michael Stang im Gespräch mit Ralf Krauter.

    Krauter: Herr Stang, worüber genau haben die Forscher da gestritten?

    Stang: Ja, Herr Krauter, die zentrale Frage in Athen war, wie viele Arten der Gattung Homo, zu der wir ja auch gehören, wir sind ja Homo sapiens, gab es überhaupt in den letzten 800.000 Jahren. Also vor 800.000 Jahren gab es eine so genannte Speziation, also eine Artbildung vom Homo erectus zum Homo sapiens, und dann war die Frage, wie ging es dann weiter. Gab es einen solchen Artbildungsprozess überhaupt in dieser Zeit noch weiter. Und da gingen die Meinungen bislang in der Literatur ziemlich auseinander. Einige Autoren sehen bis zu sechs Arten, also zum Beispiel den Homo antecessor oder den Homo heidelbergensis oder ähnliche und der Hauptredner Günter Bräuer von der Universität Hamburg sagt aber eigentlich, das kann nicht unbedingt so sein. Obwohl die Gründe, die für viele Arten sprechen, auf den ersten Blick einleuchtend sind. Man hat einige wenige Fossilien, die sehen alle unterschiedlich aus, die stammen aus unterschiedlichen Zeiten, die stammen aus unterschiedlichen Gebieten, und deswegen wird dann halt oft gesagt, das Ding sieht so unterschiedlich aus, dabei muss es sich um eine neue Art handeln. Und Günter Bräuer meinte, und das war dann auch der Konsens in der späteren Diskussion, das kann eigentlich nicht so sein. Er geht eher von nur einer Art aus, das heißt in den letzten 800.000 oder 600.000 Jahren gab es nur noch eine Art Homo sapiens, und alle anderen Fossilien, die dann gefunden wurden, gehören alle zur gleichen Art.

    Krauter: Woran genau wird dieser Artbegriff normalerweise festgemacht? Ist das eine wacklige Definition?

    Stang: Ja, das ist eigentlich relativ schwierig bei den Fossilien, weil die Fossilien ja nicht vollständig vorhanden sind. Man hat kein Skelett, sondern sie immer nur in Fragmenten vorliegen. Selbst bei dem berühmten Neandertaler, von dem es ja mehrere hundert Fundstücke gibt, gibt es eigentlich kein komplettes Schädelskelett oder Skelett, an dem man alle Artmerkmale festmachen kann. Es gibt zum Beispiel das berühmte biologische Artkonzept, wo man sagen kann, alle Individuen einer Art bilden eine Fortpflanzungsgemeinschaft. Das heißt, einen genetischen und ökologischen Pool. Und sobald bestimmte Individuen nicht mehr fruchtbare Nachkommen zeugen können, gehören sie nicht mehr zur gleichen Art. Aber so etwas kann man bei den Fossilien überhaupt nicht nachweisen. Denn man kann zwar behaupten, Neandertaler und moderne Menschen konnten keine fruchtbaren Nachkommen zeugen oder konnten sie doch zeugen, aber beweisen kann das natürlich niemand. Deswegen ist der Artbegriff hier sehr schwierig.

    Krauter: Was bedeutet die wacklige Datenlage konkret für die Neandertaler, über die wir dieses Jahr so viel gelernt haben?

    Stang: Ja, das ist genau das konkrete Beispiel. Ist der Neandertaler eine eigene Art, also Homo neanderthalensis, oder wie jetzt Günter Bräuer favorisierte, ist er eine Unterart des Homo sapiens, Homo sapiens neanderthalensis. Der Neandertaler kann nur eine eigene Art sein, wenn schon dieses Artkonzept, die Artbildung, die Speziation schon einen Schritt vorher passiert wurde, wenn er aus der Form Homo heidelbergensis hervorgegangen sein muss. Das bedeutet aber, dass innerhalb von 600.000 oder 700.000 Jahren dieser Artentstehungsprozess zweimal vorgegangen sein muss. Und dafür ist die Zeit eigentlich relativ kurz und die Unterschiede sind, wenn man das von anderen Tieren vergleicht, Fossilien aus der Zoologie zum Beispiel, nicht wirklich so groß, als dass es für einige Autoren haltbar ist, da so viele verschiedene Arten zu bringen und den Neandertaler als eigene Art zu sehen.

    Krauter: Ist das denn eher der Beginn als das Ende einer Debatte unter den Anthropologen?

    Stang: Ja, das ist natürlich schwer zu sagen. Also einen breiten Konsens, vor allen Dingen zwischen den amerikanischen Anthropologen und ihren europäischen Kollegen zu finden, ist natürlich nicht immer ganz einfach, aber es ist zumindest der Versuch, ein Schritt in die richtige Richtung, die Evolution des Menschen einmal als Ganzes verstehen zu können, nicht immer nur viele kleine einzelne Sachen zu machen, sondern immer versuchen, das Ganze zu sehen. Und es ist halt wirklich schwer, weil das über 700.000 Jahre sind, und man muss versuchen, drei Kontinente, Europa, Asien und Afrika, miteinander zu verbinden. Und es ist zumindest einmal ein Schritt in die richtige Richtung.