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Gesellschaftsdroge Alkohol

Der riskante Alkoholismus unter Jugendlichen ist nicht nur in Deutschland ein Thema, das die Öffentlichkeit und Experten beschäftigt. Besonders in Großbritannien ist das Saufen bis zum völligen Absturz weit verbreitet. Alkoholmissbrauch ist gesellschaftlich nicht geächtet, sondern an der Tagesordnung. Mit welchen Folgen, schildert Ruth Rach aus London.

    Dröhnende Musik, kaum Sitzgelegenheit, hochprozentige Drinks und Mengenrabatt zur Happy Hour. Eine der modernen Trinkhallen, die traditionelle englische Pubs verdrängen. Hier kann man viel mehr Leute reinquetschen. Für Familien ist kein Platz, für Kinder erst recht nicht. Sich unterhalten? Zu laut. Im Stehen essen? Zu ungemütlich. Eigentlich geht nur eines: Vertical drinking. Trinken. Bis zum Umfallen.

    Ich würde weitermachen, wenn diese Verlierer nicht heimgingen, sagt Brian Norton nach dem siebten Pint Bier. In seinem Kreis gilt das Gesetz der Runde: ist ein Glas halb leer, steht die nächste Runde an. Und so geht das weiter -schön fair reihum, bis alle voll sind.

    Brian Norton arbeitet im Londoner Finanzviertel. Ein stressiger Job. Sein Motto: work hard - play hard. Arbeite hart - spiele hart. Ein Sinnspruch, den sich auch zunehmend Karrierefrauen zu Herzen nehmen.

    Wir werden ohnehin alle sterben, lasst uns zumindest Spaß dabei haben.

    Weniger Spaß für Krankenhäuser und Polizei. Vor allem am Wochenende.

    Da werden britische Innenstädte zu Kampfzonen: zu viele Bars, zu viele betrunkene Leute - zumeist Teenager, sagt dieser Polizist.

    Sie beißen dich, sie spucken dich an, sie tun alles, um dich zu verletzen.

    Unfallstationen sind zunehmend überfordert. Bei den meisten Notfällen ist Alkohol mit im Spiel. Besonders besorgniserregend: Patienten werden immer jünger. Fast dreitausend Kinder wurden letztes Jahr mit Alkoholvergiftung eingeliefert. Oft schicken sie einen Volljährigen in den Supermarkt, der besorgt sich billige Sechserpackungen. Wenn das so weiter geht, werden Kinder vor ihren Eltern sterben, warnt Peter Mc Guire vom britischen Ärzteverband.

    "Wer als erwachsen gelten will, muss sich mit viel Alkohol, Tabak und Drogen sehen lassen. Das führt zu enormen Gesundheitsproblemen. Eine absolute Zeitbombe. "

    In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl junger Briten, die an Leberkrankheiten starben, verdoppelt. Die Fälle von Leberzirrhose haben sprunghaft zugenommen. Das Phänomen zieht sich durch alle Schichten - Mädchen haben längst aufgeholt. Lehrer klagen, dass schon elf, zwölfjährige Schüler mit einem Kater zum Unterricht kommen.

    "Wenn ich ausgehe, trinke ich immer. Das tun wir alle das gehört dazu. Warum soll ich da nicht mitmachen."

    Und so sind eigentlich die Eltern? fragen Beobachter. Vielleicht gelte ja auch für sie insgeheim die Regel: der Beweis für ein erfolgreiches Wochenende ist ein kräftiger Kater, meint dieser Wirt.

    "Es ist gesellschaftlich akzeptabel geworden, auszugehen um sich zu betrinken. Das gilt als genauso legitim, wie ein Kinobesuch."

    Vor eineinhalb Jahren schaffte Labour die Sperrstunde ab: dann stünden Kneipenbesucher unter weniger Zeitdruck, ihre Drinks möglichst schnell hinunterzuschütten und würden sich vielleicht zivilisiertere Trinksitten angewöhnen, so das Argument. Eine umstrittene Entscheidung mit zweifelhaftem Ergebnis. Kritiker meinen, die Regierung habe über dem Kampf gegen Tabak und Rauschgift die Droge Alkohol vergessen. Erwachsene gälten als scheinheilig, weil sie womöglich selbst becherten. Und Stars und Celebrities gingen ihren jungen Fans mit falschem Beispiel voran: inzwischen gelte es geradezu als cool, spektakulär auszurasten und anschließend in einer glamourösen Entzugsanstalt zu verschwinden.