Donnerstag, 02. Mai 2024

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Geteiltes Leid, geteilte Hoffnung

Stacheldraht und Uniformen gehören seit Jahrzehnten zum Straßenbild in Nikosia, der geteilten Hauptstadt Zyperns. Die Inseltürken nennen sie Lefkosa - nur ein weiteres Indiz, dass (fast) alles geteilt ist auf dieser Insel.

Mit Reportagen von Gunnar Köhne, Redakteur am Mikrofon: Thilo Kößler | 24.05.2008
    Über 30 Jahre ist es jetzt her, dass der Streit der Volksgruppen eskalierte: 1974 kam es zum Einmarsch der türkischen Truppen im Norden, 1983 wurde die Türkische Republik Nordzypern gegründet. Sie wird bis heute nur von Ankara anerkannt. 2004 trat völkerrechtlich gesehen zwar ganz Zypern der EU bei, doch de facto treten allein die Inselgriechen in Brüssel als Stimme Zyperns auf. Sie waren es auch, die den Plan der Vereinten Nationen zur Wiedervereinigung nur kurz vor dem EU-Beitritt ablehnten.

    Nach langem Stillstand ist nun neue Bewegung in den Zypernkonflikt gekommen: Der Hardliner Tassos Papadopoulos unterlag im Februar bei den Präsidentschaftswahlen gegen Dimitris Christofias. Der Neue setzt auf Dialog und Ausgleich. Doch im Norden wie im Süden Zypern herrscht große Skepsis, ob die Teilung überwunden werden kann.

    Gesichter Europas über alte Ressentiments und junge Hoffnungen.

    Zypern im Februar dieses Jahres - die Inselgriechen der Republik Zypern gehen wählen. Und plötzlich herrscht Aufbruchstimmung. Von einer neuen politischen Ära ist die Rede: Tassos Papadopoulos muss sich geschlagen geben - der Exponent der griechischen Verweigerungspolitik gesteht die Wahlniederlage ein und folgt seinem Gegenspieler auf der türkischen Seite, Rauf Denktasch, in den politischen Ruhestand: Der hatte schon drei Jahre zuvor abtreten müssen. Die Wahl vom Februar markiert den politischen Generationswechsel auf Zypern - jetzt stehen die Zeichen auf Entspannung: Vielleicht gibt es noch eine Chance auf Einigung - vielleicht kann die Teilung der Insel doch noch überwunden werden.

    Seit diesen Wahlen ist viel in Bewegung gekommen auf Zypern - mit Spannung verfolgen Inselgriechen und Inseltürken die Treffen zwischen ihren Spitzenpolitikern - Dimitris Christofias auf der griechischen, Mehmet Ali Talat auf der türkischen Seite. Es tagen Ausschüsse, Kommissionen und Lenkungsgruppen, die neue Verhandlungen vorbereiten sollen.

    Ein erstes und für alle sichtbares Signal der Hoffnung gab es schon: am 3. April wurde der Grenzübergang auf der Ledra-Straße in Nikosia geöffnet. Tausende machten sich auf den Weg, um von der einen auf die andere Seite zu kommen. Im milden Licht der Frühlingssonne gab es nur ein Thema: Das Ende des Kalten Krieges auf Zypern.


    Die Öffnung der Ledra-Straße in Nikosia und die Hoffnung
    Auf das Ende des Kalten Kriegs auf Zypern
    Es ist 8 Uhr in Nord-Nikosia. Da, wo noch vor zwei Monaten Mauer, Stacheldraht und Sandsäcke den Weg versperrten, stehen nun ein paar Kunststoffcontainer, die an Einlasskartenbuden erinnern. Doch die gelangweilt dreinschauenden Uniformierten hinter den Tresen sind türkisch-zyprische Grenzpolizisten, und sie kontrollieren keine Eintrittskarten, sondern Ausweise. Vor ein paar Wochen noch hätten so manche Zyprer noch bereitwillig Eintritt dafür bezahlt, einmal die Ledra-Straße fast ungehindert vom Norden in den Süden gehen zu können - oder umgekehrt. Die Ledra-Straße war einst die Flaniermeile der zyprischen Hauptstadt, so etwas wie der "Kurfürstendamm Nikosias". Und als hier die Barrikaden fielen, sprachen viele davon, das "Brandenburger Tor Nikosias" habe sich geöffnet.

    Hinter dem Grenzposten führt der Weg durch die Pufferzone. Ein dunkelhäutiger UN-Polizist steht mit hinter dem Rücken verschränkten Armen verloren auf dem Fußgängerweg. Plastikplanen mit bunten Motiven versperren den Blick auf die einsturzgefährdeten, zerschossenen Gebäude in der so genannten "Greenline". Dort, wo der südliche Teil der Ledra-Straße beginnt, steht wieder ein Polizist, diesmal ein griechisch-zyprischer.

    Genau dort, wo noch vor ein paar Wochen eine Metallwand und eine Aussichtsplattform standen, mit Blick auf den türkisch besetzten Teil der Heimat, gleich gegenüber dem Schild auf dem mehrsprachig steht: "Die letzte geteilte Hauptstadt Europas" - betreibt Christo Krotoudis einen Souvenirladen. Seit vierzig Jahren. Mit breiten Hosenträgern über dem gemütlichen Bauch sitzt der 70jährige in der Küche über seinem Laden und erinnert sich an die Zeit vor der Teilung der Ledra-Straße:

    "Es war ein pulsierender Ort. Für uns Geschäftsleute war die Strasse eine Goldgrube, die Leute kamen von überall hierher und zu kaufen und zu verkaufen. Dann begannen die Spannungen zwischen den beiden Gemeinschaften in den 60er Jahren, und dann wurden hier die ersten Kontrollposten zwischen unserem und dem türkischen Teil eingerichtet. Die endgültige Teilung kam erst 1974, nach der türkischen Invasion, und dann begann eine harte Zeit. Das Geschäft brach zusammen und die Leute zogen weg aus der Ledra-Straße - selbst diejenigen, die hier ihre Häuser hatten."

    Der Enkelsohn von Herrn Krotudis kommt hinzu und setzt sich mit an den Tisch. Der Alte streichelt den Kopf des Kindes. In den Jahren der Teilung musste er seinen Laden zeitweise als Werkstatt vermieten. Nun, nach der Öffnung der Grenze vor seiner Ladentür sei es Zeit für eine Lösung, sagt Krotoudis:

    "Letzten Sonntag hatte ich 500 Kunden im Laden - davon rund 300 türkische Zyprer. Und ein paar Tage kam Herr Talat, der türkische Volksgruppenführer herein. Ich schenkte ihm ein Modellschiff verbunden mit dem Wunsch, dieses Schiff möge den Frieden bringen. Das hat er sehr gemocht. Es war für mich der Besuch eines Freundes."


    Die Ledra-Straße weiter Richtung Süden vorbei an amerikanischen Jeansläden und Juweliergeschäften. Die Sonne steht mittlerweile hoch über der Fußgängerzone. In den Cafes holen die ersten jungen Leute ihre Sonnenbrillen aus den Futteralen.


    Onni Siforou hängt einen dunklen Sakko mit goldener Knopfleiste zurück auf eine Stange. Siforous Herrenausstatter-Geschäft ist so lange in der Ledra-Straße wie Krotudis' Andenkenladen. Doch beim Stichwort Maueröffnung schaut der Inhaber irritiert über den Rand seiner Lesebrille, mit er eben noch die Konfektionsgrößen auf den Etiketten überprüft hatte:

    "Es hat sich doch nichts geändert - außer das die Mauer der Schande weg ist. Die türkischen Zyprer können jetzt einfacher zu uns rüber und sich in uns Krankenhäusern kostenlos behandeln lassen. Ich selbst bin noch nicht über den Übergang Ledra-Straße in den Norden gegangen. Aber ich war ein paar Mal drüben. Da ist ja nichts mehr wie es früher war. Und überall riecht es förmlich nach der Türkei. Wir haben es doch nicht mit einer zivilisierten Nation zu tun. Ich meine damit nicht die türkischen Zyprer, die hasse ich nicht. Ich meine die Türkei. Also, ich glaube nicht daran, dass es eine Lösung geben wird."


    Käme Siforou einmal über den offenen Grenzübergang seiner Strasse in den Norden, dann träfe er gleich hinter dem von ihm so verhassten türkischen Grenzposten auf die Imbissbude seiner Landsmännin Malan Özcelik. Sie trägt den schönen Namen "Café Midpoint", Café Mittelpunkt. Er sähe eine Frau, die mit roten Flecken im runden Gesicht neben einer laut röhrenden Kühltruhe und einem aufgeregt zwitschernden Zebrafinken sitzt und auf die ersten Kunden für Kebab und Sandwich wartet. Für Özcelik hat sich mit der Öffnung der Ledra-Straße ein Herzenswunsch erfüllt:

    "Das war vorher eine tote Ecke hier. Nur ab und zu kam mal einer vorbei, der sich die Mauer betrachten wollte. Wir hatten vor einem Jahr dicht gemacht, weil wir keine Hoffnung mehr hatten. Nach der Öffnung der Grenze haben wir gleich wieder geöffnet. Jetzt ist es Zeit, dass sich das ganze Land wiedervereint!"



    Im Laufe seiner Geschichte hat sich der Zypern-Konflikt zu einem gordischen Knoten entwickelt, der immer größer und komplexer wurde und am Ende niemandem mehr lösbar schien.

    Seine Anfänge liegen in der britischen Kolonialzeit und in den ersten, unruhigen Jahren der Unabhängigkeit: von Enosis, der Union mit Griechenland, träumte die griechischsprachige Mehrheit, von Taksim, der Teilung der Insel und vom Schutz durch das türkische Mutterland, die türkischsprachige Minderheit. Der Konflikt eskalierte, als die griechische Militärjunta 1974 versuchte, sich die Mittelmeerinsel in einem Putsch einzuverleiben - die Türkei antwortete mit einer militärischen Intervention: Seither ist die Insel geteilt, seither halten türkische Truppen über ein Drittel der Insel besetzt. Was folgte, waren Flucht und Vertreibung, die Teilung. Das Trauma sitzt tief - auf beiden Seiten.

    Nase Yasin ( Neshé Yasin ) ist ungefähr so alt wie der Konflikt in ihrer Heimat. Sie ist türkisch-zyprische Schriftstellerin und musste vor zehn Jahren noch 3000 Kilometer zurücklegen, um vom Norden in den Süden der Insel, auf die andere Seite der Stacheldrähte und Grenzanlagen zu gelangen, sie musste damals noch den Umweg über Istanbul und Athen nehmen: Heute ist das zwar nicht mehr nötig - aber von unbeschwertem Reisen kann auf Zypern noch immer keine Rede sein.

    Seit 1974, seit dem Einmarsch der türkischen Armee im Norden Zyperns, hat es ungezählte Versuche gegeben, den Konflikt zu lösen. Zuletzt scheiterte UNO-Generalsekretär Kofi Annan mit seinem 9000 Seiten umfassenden Friedensplan - er wollte eine gleichberechtigte, bizonale Föderation zwischen den beiden Landesteilen schaffen, die türkische Besatzung und die Teilung der Insel beenden, die Flüchtlinge von einst entschädigen.

    Doch das Referendum geriet im April 2004 zum politischen Fiasko.
    Zwar stimmte der türkische Teil im Norden für die Annahme des Annan-Plans. Doch die Inselgriechen votierten dagegen. Und stießen damit nicht nur die Inseltürken vor den Kopf, sondern auch die griechische Regierung in Athen, die türkische Regierung in Ankara, die EU und die UNO: Sie alle hatten auf ein Ende dieses jahrzehntelangen Konflikts gehofft - und auf einen unbeschwerten Beitritt Zyperns zur Europäischen Union. Doch es kam anders - Zypern trat zwar der EU bei. Aber die Insel blieb geteilt. Und die Inseltürken reagierten enttäuscht und frustriert: Die Hoffnung auf ein Ende ihrer politischen Isolation hat sich nicht erfüllt - als türkisch besetztes Territorium ist der Norden bis heute völkerrechtlich nicht anerkannt. Und weil das EU-Recht nur im Süden Zyperns gilt, haben die Bewohner im Norden gar nichts von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

    Eine vertrackte Situation - mit politisch weitreichenden Folgen. Schon sahen viele jegliche Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts schwinden. Und nur wenige Zyprer sorgten auf beiden Seiten noch dafür, dass sie sich nicht ganz aus den Augen verloren.


    Begegnungen im Zeichen der Sprachlosigkeit:
    Die Frauen zwischen den Fronten
    Im Niemandsland zwischen Nord- und Süd-Nikosia. Hier ist Fatma Azgan zuhause. Fast täglich wechselt sie von ihrer Seite, dem türkischen Norden, hinüber in den griechisch-zyprischen Süden. Zum Einkaufen oder - so wie heute: um Freunde zu treffen. Die 60jährige Apothekerin geht mit resoluten Schritten auf einen Container zu, in dem ein türkischer Grenzoffizier wortlos Azgans Personalausweis kontrolliert. Hinter der Halbmondflagge der türkischen Republik Nord-Zypern taucht der massige Bau des Ledra-Palace auf. Auf den Balkonen trocknen Herrenshorts und Sportsocken im warmen Wind. Einst war das Ledra-Palace die vornehmste Herberge des Landes, heute liegt das ehemaligen Luxushotel in der Pufferzone zwischen den verfeindeten Volksgruppen und dient UN-Soldaten als Quartier. Gegenüber eine von Mörsern zerlegte Villa, im überwucherten Garten liegen Sandsäcke. Fatma Azgan zeigt auf den rückseitig gelegenen Hotelgarten:

    "Gleich dahinter liegt mein Grundstück. Das türkische Militär hatte einen Teil unseres Gartens mit einer hohen Befestigung abgetrennt und zum Sperrgebiet erklärt. Nach der Öffnung der Grenzen vor drei Jahren, haben sie die Befestigungen erst durch einen einfachen Zaun ersetzt und am Ende uns den verlorenen Teil unseres Grundstücks ganz zurück gegeben. Jetzt ist unser Garten plötzlich so groß, wir wissen gar nicht, was wir damit anfangen sollen!"

    Der Übergang am Ledra Palace Hotel ist Fußgängern vorbehalten. Tagsüber sieht man türkische Arbeiter von Baustellen im Süden zurück kehren, abends aber wechseln nur wenige Zyprer die Seiten. Azgan greift wieder in ihre Handtasche und zieht routiniert ihren Ausweis hervor. Der griechische Checkpoint naht....


    Fatma Azgan gehört zu jenen Zyprern, die sich nie mit der Teilung abgefunden haben - und die nun wieder Hoffnung schöpfen. Gemeinsam mit Griechinnen hat sie vor Jahren eine bikommunale Frauengruppe ins Leben gerufen. Den Männern waren sie damit voraus. Doch lange Zeit konnten sich die Aktivistinnen nur im Ausland oder im UN-kontrollierten Niemandsland treffen. Die Erleichterungen kamen nur scheibchenweise:

    "Es gab auch nach der Grenzöffnung weiter Restriktionen, vor allem auf unserer Seite. Wir sollten immer bis Mitternacht zurück sein. Daraufhin haben wir Frauen eine Cinderella-Demo organisiert - sie wissen ja, das ist die Märchenfigur, die immer um Mitternacht zuhause sein muss, weil sie sonst in einen Kürbis verwandelt wird. Dann durften wir zwei Tage lang im Süden bleiben, und inzwischen ist es ganz frei."


    Wenige hundert Meter hinter der so genannten Greenline taucht das schmuck beleuchtete Opernhaus Nikosias auf. Azgan strebt auf ein Cafe zu, dessen Garten abseitig der breiten Strasse liegt. Im Sommer ein kühles Plätzchen, sagt sie, lächelt und setzt sich auf einen freien Stuhl. Um gleich wieder aufzustehen, denn mit wehendem Blazer und einem Autoschlüssel in der Hand kommt ihre griechische Freundin Magda Xenon angerauscht:


    Azgan bestellt sich einen Fruchtsaft, Xenon einen Hamburger. Laut und fröhlich erinnert die Angestellte und allein erziehende Mutter an die Anfänge der Versöhnung unter den Frauen - dabei waren diese keineswegs einfach. Die Frauen mussten auf einer dritten Sprache - englisch - miteinander streiten und sie waren ständig den Anfeindungen der Nationalisten auf beiden Seiten ausgesetzt.

    "Wir hatten eine schwierige Zeit, weil wir uns in vielem uneinig waren. Aber dann haben wir in unseren Workshops beschlossen, eine gemeinsame Vision zu formulieren, das war der Beitritt zur EU. Wir waren gemeinsam der Überzeugung, dass alle unsere Probleme mit der EU-Mitgliedschaft gelöst werden. In der EU wird garantiert sein, dass Minderheiten nicht unterdrückt werden, Gleichheit der Geschlechter und Ethnien vor dem Gesetz...."


    "Darf ich Dich mal unterbrechen? .... Nein, lass mich das bitte mal sagen! ... Den griechischen Zyprern war zu dem Zeitpunkt ja längst klar, dass sie der EU beitreten werden - auch ohne den Norden! Darum verstanden viele gar nicht, warum man darüber überhaupt reden sollte!"

    Die griechische Seite konnte tatsächlich 2004 der Europäischen Union beitreten, obwohl sie den UN-Wiedervereinigungsplan mit 70prozentiger Mehrheit abgelehnt hatten. Die türkischen Zyprer, die mehrheitlich dafür gestimmt hatten, fühlten sich zurück gestoßen. Fatma Azgan nippt an ihrem Saft, Magda Xenon schiebt den leer gegessenen Hamburger-Teller zur Seite. Es begann eine neue Eiszeit zwischen beiden Seiten, die Friedensaktivistinnen standen allein. Vier Jahre später hat der Süden einen neuen Präsidenten und plötzlich ist wieder alles anders. Xenon zündet sich eine Zigarette an:
    "Die Zeit unter dem Präsidenten Papadopoulos war frustrierend. Er war es, der den Rassismus geschürt und uns Friedenskämpfer zu Aussätzigen erklärt hat. Die Erleichterung, die in unserer Bewegung herrscht, seit Papadopoulos abgewählt ist, ist unbeschreiblich. Schon am nächsten Tag herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Es gibt immer noch viele unter uns, die daran zweifeln, ob es jemals eine Wiedervereinigung geben wird - aber jetzt gibt es wenigstens wieder ein wenig Hoffnung!"


    Nach zwei Stunden verabschieden sich die beiden Frauen voneinander und Fatma Azgan macht sich wieder auf Richtung Grenzübergang.

    "Wir haben viele Freunde auf dieser Seite. Wir vertrauen uns, wir sind wie Brüdern und Schwestern. Sie kommen uns besuchen, wir besuchen sie. Und wir machen oft gemeinsame Ausflüge."


    Vor dem südlichen Eingang zum Checkpoint Ledra Palace geht Azgan an einer Kriegsruine vorbei. Davor stehen ein paar Taxis, die einen mit südlichen, die anderen mit nördlichen Kennzeichen. Unter einer Platane sitzen die Fahrer an zwei Tischen. Die Griechen an einem, die Türken an dem anderen.



    Mit der Aufnahme Zyperns in die Europäische Union ist das Zypern-Problem zu einem Problem der Europäischen Union geworden - denn seit 2004 ist die EU beteiligte Partei und wird, ob sie will oder nicht, immer wieder in die Auseinandersetzung um die Insel hineingezogen. So tut das EU-Mitglied Zypern alles, um die Hoffnungen der Türkei auf eine EU-Mitgliedschaft zu durchkreuzen und direkte Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem türkischen Norden Zyperns zu torpedieren. Umgekehrt blockiert das NATO-Mitglied Türkei immer wieder europäische Initiativen im transatlantischen Bündnis.

    Dabei ist Zypern auch für die Türkei längst zum Problem geworden - und zum größten Stolperstein auf dem Weg in die EU. Es ist immer schwerer vermittelbar, dass der Beitrittskandidat Türkei dem EU-Mitglied Zypern die diplomatische Anerkennung versagt, mehr noch: das Territorium eines Mitgliedstaates militärisch besetzt hält.

    Vor dem Hintergrund der europäischen Einigung wirkt dieser Konflikt immer anachronistischer. Doch die Vergangenheit lässt auch die unmittelbar Beteiligten nicht los. Jede Seite hat ihre eigene Lesart der Geschichte, jede Seite beklagt ihre Opfer und wirft der anderen die Verbrechen von einst vor: 2000 Menschen werden bis heute vermisst - 1500 aus dem griechischen, 500 aus dem türkischen Teil. Die Wunden, die dieser Konflikt geschlagen hat, sind noch nicht vernarbt - davon zeugt auch ein Gedicht des griechisch-zyprischen Dichters Kyriakos Charalambidis.

    Bereits seit 1981 gibt es ein gemeinsames Komitee, das das Schicksal der Vermissten aufklären will: die Toten sollen gefunden, geborgen und identifiziert werden, damit die Angehörigen sie bestatten können. Bis vor kurzem war dieses Komitee das einzige offizielle Gremium auf der Insel, in dem beide Volksgruppen miteinander kooperierten. Sie suchen nach Wahrheit - sind der Versöhnung aber noch nicht nähergekommen.


    Die langen Schatten der Vergangenheit
    Die schwierige Suche nach den Vermissten
    Christalla Jakumi hat für die Gäste noch schnell die bunten Läufer von der Leine genommen, die quer über den Hof gespannt war und dann süßes Gebäck und Limonade aus der Küche geholt. Gastfreundlich und hilfsbereit - so sei auch ihr Vater Kyriakes Koppides gewesen. Das ganze Dorf, versichert Christalla, habe ihn geschätzt, auch die dort lebenden türkisch-zyprischen Nachbarn. Doch eines Tages im Spätsommer 1974 verschwand der Schmied Kyriakes Koppides spurlos. Es herrschte Krieg auf Zypern, es waren die ersten Tage der türkischen Militärinvasion. Ihr Dorf Livadia liegt im Norden der Insel, von dort mussten die griechischen Einwohner in den Süden fliehen - Christalla und ihre Schwester waren gezwungen, die Suche nach ihrem Vater einzustellen.

    "Das einzige, was wir gehört hatten, war, dass man ihn zusammen mit anderen in einem Kaffeehaus festhielt. Das müssen aber türkische Soldaten vom Festland gewesen sein, weil er zu allen zyprischen Türken in der Umgebung ein gutes Verhältnis hatte. Darum haben wir auch immer gehofft, dass er wieder gesund zu uns zurückkehrt, auch nachdem wir ihn als vermisst gemeldet hatten."

    Doch Vater Kyriakos kam nicht wieder zurück. Auf einer Anrichte im Eingang ihres kleinen Hauses am Stadtrand von Nikosia hat die 72jährige Christalla ein Din-A-4-großes, gerahmtes Portrait ihres Vaters gestellt: Es zeigt ein freundliches Gesicht mit dünnem Oberlippenbart, das etwas überrascht in die Kamera zu blicken scheint. 20 Jahre lang lagen die Angaben über Kyriakos Koppides Verschwinden bei der "Kommission für vermisste Personen" der Vereinten Nationen. Dann, im März dieses Jahres erhielt Christalla von dort einen Brief. Die Rentnerin legt das Schreiben wortlos neben den Keksteller. Man habe die Gebeine ihres Vaters gefunden, heißt es in dem Schreiben, einen Meter unter der Erdoberfläche in einem offenen Feld mit wilder Vegetation unweit seines Heimatdorfes. Die sterblichen Überreste habe man vorsichtig exhumiert, steht dort weiter, und der DNA-Test habe bestätigt, dass es sich um ihren Vater handele. Christalla Jakumi legt zitternd ihre Lesebrille zur Seite:

    "Wir konnten es immer noch nicht glauben. Er hatte doch niemanden etwas getan. Aber nach einer Weile war ich dann doch erleichtert, denn wenigstens hatte die quälende Ungewissheit endlich ein Ende. Aber nachdem ich das Einschussloch in seinem Schädel gesehen hatte, saß ich stundenlang da und stellte mir vor, wie ihm vor der Hinrichtung die Augen verbunden worden waren und wie er sich vielleicht noch gewehrt hatte. Wie in einem Film."


    Das Kondelenzschreiben an Christalla Jakumi hatte Christophe Girod unterschrieben. Der Schweizer Girod ist neben jeweils einem Türken und einem Griechen das dritte Mitglied der zyprischen Vermisstenkommission. Sein Büro ist im ehemaligen Hotel Ledra Palace untergebracht, im UN-kontrollierten Niemandsland der zyprischen Hauptstadt. Doch einmal am Tag lenkt der drahtige Mittvierziger seinen weißen UN-Toyota durch den Verkehr von Nikosia hinaus zum ehemaligen Flughafen der heute geteilten Stadt - dort liegt das Hauptquartier der UN-Friedenstruppen auf Zypern. Gegründet wurde die Vermissten-Kommission schon 1981, doch erst nach Aufnahme von Wiedervereinigungsgesprächen 20 Jahre später konnte die Kommission auf beiden Seiten ungehindert recherchieren und nach Gräbern suchen.

    "Wir haben bislang die Gebeine von 400 Personen exhumiert, von diesen konnten wir 90 identifizieren und ihren Angehörigen übergeben. Und unser Ziel ist es in diesem Jahr noch mindestens 200 Leichname zu identifizieren. Ich denke, dass unser Vorhaben bislang erfolgreich war."


    Christophe Girod steuert langsam auf einen UN-Polizeiposten zu; ein kurzer Wink, dann geht der Schlagbaum nach oben. Dahinter Ödland, Baracken der UN-Friedenstruppen, ein Fußballplatz und schließlich die Ruine des einstigen Flughafenterminals. Davor parkt ein verrostetes und zerschossenes Flugzeugwrack. Der Urlaubsflieger hatte es im Juli 74 nicht mehr geschafft, rechtzeitig abzuheben.

    Girod parkt seinen Wagen neben einer kleinen Ansammlung von weiß getünchten Hütten. Hinter der Eingangstür der größten stehen lange Reihen von weiß gedeckten Tischen, übersät mit menschlichen Knochen. Schädel starren in das Neonlicht an der Decke, Unter- und Oberschenkelknochen liegen verrenkt zueinander.

    "Wir sind hier im anthropologischen Labor der Vermisstenkommission. Hierher werden alle exhumierten sterblichen Überreste überführt, analysiert und anschließend in ein DNA-Labor zur Identifizierung gebracht. Wenn die gefundenen Leichname zugeordnet werden können, informieren wir die Angehörigen und geben ihnen die Möglichkeit, die Überreste im Leichenschauhaus entgegenzunehmen und eine ordentliche Bestattung durchzuführen."

    Eine junge Gutachterin beugt sich über ein fast vollständig zusammengesetztes Skelett und macht sich Notizen. Sie ist griechische, ihre Kollegin am Nebentisch türkische Zyprerin.

    "Über diese Person kann ich bislang nur sagen, dass es sich um einen Mann handelt, Alter zwischen 30 und 40. Ich suche nach pathologischen Merkmalen. Ich weiß, dass er schwere körperliche Arbeit verrichtet haben muss, und er war recht groß, das zeigen seine Knochen. Oft finden wir Hinweise auf die Todesursache, zum Beispiel Einschusslöcher am Schädel. Aber wenn ich anfange über die Todesursache nachzudenken, dann kann ich meine Arbeit nicht ordentlich machen. Wir haben uns alle hier darauf verständigt, nicht darüber zu sprechen."


    Leichen ausgraben und identifizieren - vielen Zyprern in Nord- und Süd reicht das nicht aus. Sie fordern, auch die Todesumstände aufzuklären und die Schuldigen, wenn möglich, zur Verantwortung zu ziehen. Dafür ist auch Halil Depreli. Aber ob man den Tod seines Vaters Ömer Hasan nach 45 Jahren jemals wird aufklären können? Depreli verzieht die Mundwinkel verächtlich, sein Blick schweift über die ausgestellten dunklen Sofagarnituren seines Möbelladens im Norden Nikosias. Sein Vater verschwand schon 1963, während der ersten Unruhen auf der Insel - erschossen vermutlich von griechisch-zyprischen Freischärlern. Vor vier Wochen kam das Kondolenzschreiben der Vermisstenkommission und Halil Depreli konnte die sterblichen Überreste seines Vaters nach fast einem halben Jahrhundert beerdigen. Depreli hat lange geschimpft über die Langsamkeit der Vermisstenkommission, über die griechischen Zyprer, denen man nicht trauen sollte und über das Desinteresse des Auslandes am Schicksal der türkischen Zyprer. Dann stockt sein Redefluss:

    "Als die Bestätigung der Vermisstenkommission kam ... Nun, ich kann nicht behaupten, dass das leicht war. Alles lief in meinem Kopf noch einmal wie ein Film ab. Als ich meinen Vater gebraucht habe, war er nicht da. Ich habe nie Vaterliebe erfahren. Immer wieder habe ich mich in den letzten Wochen gefragt: Konntest du deinen eigenen Kindern wenigstens genug Liebe geben?"

    Der 52jährige starrt wortlos in die Tasse vor ihm auf dem Schreibtisch. Der türkische Mokka ist längst kalt.


    Wann immer die Verhandlungen auch beginnen werden - sie werden schwierig. Noch ist offen, ob dem griechischen Postkommunisten Dimitris Christofias und dem türkischen Sozialdemokraten Mehmet Ali Talat - den beiden politischen Repräsentanten der geteilten Insel - der Durchbruch gelingen wird.

    Dafür spricht, dass sie sich gut kennen und gegenseitig schätzen. Dafür spricht auch, dass alle Seiten eigentlich ein Interesse an einer Lösung haben müssten: Die griechischen Zyprer, weil sie sich ein Ende der türkischen Besatzung wünschen. Die türkischen Zyprer, weil sie sich dieselben Rechte wie alle EU-Mitglieder erhoffen. Die Türkei, weil ein Stolperstein in Richtung EU aus dem Weg geräumt wäre. Und die Europäische Union, weil es ohne diesen Konflikt weniger Streit in den eigenen Reihen und weniger Anlass für politische Blockaden gäbe.

    Über das Ziel herrscht Einigkeit: ein gemeinsamer zyprischer Bundesstaat. Doch der Teufel steckt im Detail. Die griechische Seite fordert, dass nicht nur die türkischen Truppen die Insel verlassen, sondern auch jene 100.000 Festlandstürken, die sich im Laufe der Jahrzehnte auf der Insel niedergelassen haben. Darüber hinaus kündigt sich ein Streit über die Besitzrechte der 160.000 griechischen Zyprer an, die nach der türkischen Invasion fliehen mussten und jetzt ihr Eigentum zurückfordern - obwohl auf ihrem alten Grund und Boden längst türkische Wohnungen, Häuser und Ferienanlagen stehen. Wenn über die gemeinsame Zukunft gesprochen wird, sitzt die Vergangenheit stets mit am Tisch. Und sie könnte sich noch als das größte Hindernis erweisen.

    Vielleicht ist es wirklich die letzte Chance auf Wiedervereinigung - vielleicht droht andernfalls wirklich die dauerhafte Teilung der Insel, eine Taiwanisierung Nord-Zyperns, wie viele sagen. Die Entfremdung zwischen beiden Teilen der Insel hat in all den Jahren zugenommen - die persönlichen Kontakte hinüber und herüber sind seltener geworden. Wenn die Verhandlungspartner also um die Einheit Zyperns ringen wollen, dann werden sie immer wieder ihren politischen Willen unter Beweis stellen müssen. Und die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen und die Interessen der Gegenseite wahrzunehmen. Es muss ja nicht gleich ein Seitenwechsel sein.


    Literatur
    - Neshe, Yashin: "Die Flüchtlingskinder". Aus: Hans und Niki Eideneier (Hrsg.): Zyprische Miniaturen, Köln, Romiosini-Verlag, 1987

    - Kyriakos Charalampidis: "Junge mit Foto". Aus: Hier, wo
    das Wunder noch wirkt. Stationen der zyprischen Dichtung. Gedichte
    griechisch/deutsch. Übersetzung und Nachwort Hans Eideneier. Köln, Romiosini - Verlag, 2000.

    - Fikret Demirag: Lass uns das Korn des Friedens säen. Übersetzung: Niki Eideneier. Unveröffentlicht.