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Gezi-Künstler fünf Jahre nach den Protesten
Solidarisch gegen die Zensur

Vor genau fünf Jahren brachen in Istanbul die Gezi-Proteste aus. Millionen von Türken gingen auf die Straße. Die Situation hat sich seitdem verschärft, die Zensur hat ein Rekordmaß erreicht. Die Künstler des Kunstzentrums Piramid Sanat schöpfen trotzdem noch Hoffnung - und setzen auf die Neuwahlen.

Von Kristina Karasu | 31.05.2018
    Gezi-Proteste in Istanbul
    Szene von 2013: Gezi-Proteste in Istanbul (dpa / picture alliance / Beurrier/Wostok Press)
    Als vor fünf Jahren auf Töpfen und Pfannen zu Protestliedern angestimmt wurde, waren sie in der ersten Reihe mit dabei: die Künstler von Piramid Sanat. Ihr Kunstzentrum liegt nur wenige Meter vom Gezi-Park entfernt. Sie öffneten ihre Türen für flüchtende Demonstranten, wuschen ihnen das Tränengas aus den Augen, brachten täglich Essen und Bücher in den Park.
    Heute sind die Wände von Piramid Sanat übersäht mit Fotocollagen aus tanzenden Hippies, daneben demonstrierende Gewerkschaftler in Ölfarbe. Die Werke gehören zu einer aktuellen Ausstellung über die 1968er-Bewegung - aber die Motive, die Stimmung erinnern an Gezi. "Das ist Absicht", erklärt der renommierte Konzeptkünstler Genco Gülan. Er erinnert sich mit Wehmut an den Frühsommer 2013:
    "Gezi sehe ich heute im Rückblick als ein großartiges Kunstfestival. Es war nicht nur eine Explosion der Meinungsfreiheit, sondern auch eine Explosion der Kunst. Das war ein Zeichen für die Gesundheit der Gesellschaft. Der heutige Mangel an Meinungsfreiheit hingegen zeigt, wie krank die Gesellschaft ist. Die Zensur ist seit Gezi sehr angestiegen. Der Druck ist so groß, dass sogar ich nervös bin, während ich zu Ihnen ins Mikrofon spreche."
    Andauernder Ausnahmezustand
    Seine Angst ist nicht unbegründet. Erst vor wenigen Tagen wurde der Rapper Ezhel in Istanbul verhaftet - weil er in seinen Liedern zu Drogenkonsum aufgerufen haben soll. Hunderte von türkischen Journalisten, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Studenten sitzen für ihre Werke und Worte im Gefängnis. Kritische Zeitungen und Sender wurden längst verboten, die Medien sind fast alle in der Hand regierungsnaher Konzerne. Seit fast zwei Jahren herrscht Ausnahmezustand, Demonstrationen sind kaum noch möglich – außer man geht für die Regierung auf die Straße. Man könnte meinen, Gezi wäre nie passiert. Doch unter der Oberfläche brodelt es, betont Künstler und Kurator Denizhan Özer:
    "Faschismus ist in die Türkei zurückgekehrt. Doch gleichzeitig wehren sich die Menschen dagegen, angespornt durch das Selbstbewusstsein, dass sie durch Gezi gewonnen haben. Ich beobachte das überall. Die Leute machen das vielleicht nicht öffentlich, im Internet etwa können sie das nicht mehr tun, aber untereinander sagen sie offen ihre Meinung und organisieren sich."
    Für türkische Künstler ist das eine prekäre Lage. Soviel gibt es anzuprangern, doch immer weniger Orte, um kritische Werke zu präsentieren. Galeristen scheuen sich Protestkunst auszustellen, Piramid Sanat gehört zu den wenigen Ausnahmen. Viele Künstler haben aus Geldnot und Zensurdruck ihre Kunst aufgegeben, viele sind ins Ausland gezogen. Künstler Özen hingegen ist vor einigen Jahren aus London nach Istanbul zurückgekehrt - weil er in seiner Heimat etwas bewegen will:
    "Der Staat und die Stadtverwaltungen geben uns kein Geld, sie unterstützen keine Kunst. Reiche Sammler sind ins Ausland geflüchtet. Werden wir daran sterben? Nein, werden wir nicht. Wir eröffnen gemeinsam Ausstellungen und teilen uns dafür die Kosten, bringen mit vereinter Kraft Theaterstücke auf die Bühne. Durch ihre Solidarität gelingt es den Künstlern, Widerstand zu formen."
    Hauch von Optimismus
    Nun stehen Neuwahlen an, am 24. Juni werden zum ersten Mal zugleich Präsident und Parlament gewählt. Charismatische, starke Kandidaten treten diesmal gegen Recep Tayyip Erdoğan an. Unter Regierungsgegnern weht seit langem wieder ein Hauch von Optimismus. Wird sich Gezi bei diesen Wahlen politisch widerspiegeln? Piramid-Gründer Bedri Baykam ist da vorsichtig:
    "Die Gezi-Bewegung hatte keinen Anführer, wollte auch keinen. Die Leute, insbesondere die Jugendlichen, hatten Führer so satt, dass sie nicht mal einem von aus ihren eigenen Reihen getraut hätten. Ebenso war Gezi ein Protest gegen alle bestehenden Parteien, daher konnte auch keine Partei von Gezi profitieren. Es hätte auch keine Partei aus der Bewegung entstehen können. Doch wird das allgemeine oppositionelle Klima, das Gezi schuf, die jetzigen Wahlen beeinflussen? Ja, das wird es. Denn die Bedingungen, die damals zu Gezi geführt haben - Korruption, Ungerechtigkeit und so weiter - sind ja noch immer gegeben. Aber die Leute wollen heute einen Regimewechsel mit demokratischen Mitteln, an den Urnen herbeiführen."
    Bedri Baykam ist selbst seit langem parteipolitisch aktiv, bei diesen Wahlen tun es ihn mehrere Prominente nach: Der Investigativjournalist Ahmet Şık, erst vor wenigen Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen, kandidiert für die kurdennahe HDP. Ebenso Schauspieler Barış Atay - der war im Mai wegen eines kritischen Tweets vorübergehend festgenommen worden. Als Künstler politisch zu sein, Partei einzunehmen - in der Türkei ist das seit Gezi zur Selbstverständlichkeit geworden.