Sigrid Fischer: Die Entlassungs- und Verhaftungswellen gehen weiter, Präsident Erdogan hat seine Macht durch die Verfassungsreform ausgebaut, möglicherweise steht ein Referendum über die Wiedereinführung der Todesstrafe bevor. Die politische Entwicklung in der Türkei muss also weiter sorgen. Mit seiner neuen Inszenierung am Schauspiel Köln setzt sich der deutsch-armenische Regisseur Nuran David Calis mit der Entwicklung im Land auseinander. Am Beispiel der Stadt Istanbul - so heißt nämlich sein Stück. Nach "Die Lücke" über das Nagelbombenattentat der NSU in der Kölner Keupstraße und nach "Glaubenskämpfer" - der Titel spricht für sich - ist "Istanbul" der dritte Teil seiner Trilogie. Premiere war am Samstag. Nuran David Calis, wir erwischen ihn gerade irgendwo unterwegs, daher etwas Hintergrundatmosphäre, guten Tag bei Corso.
Nuran David Calis: Guten Tag.
Fischer: Ja, "Istanbul, bis vor kurzem die vielleicht europäischste Stadt überhaupt" – das schreiben Sie in der Ankündigung zum dem Stück. Was kann man besonders an diesem Ort ablesen über diese jüngsten Entwicklungen in der Türkei?
Calis: Die Situation ist so, dass natürlich auch diese Stadt und auch dieses Land sich auf eine Eiszeit zubewegt. Und es ist fast mittlerweile unmöglich, sich dort frei zu äußern. Das merkt man in dem Umgang mit den Künstlern und den Journalisten und auch der Zivilbevölkerung fällt es immer schwerer, ihren Protest kundzutun in der Stadt – also dieser romantisch-verklärte Blick auf die Stadt Istanbul ist dem sozusagen gewichen. Eine Repression, eine Angstmache geht da in dieser Stadt um. Dass man sich an den Sehenswürdigkeiten auch nicht mehr erfreuen kann, auch für die Leute, die jetzt auch in die Türkei reisen. Das wird auch zum Beispiel an dem Abend deutlich, als der Doğan Akhanlı davon erzählt, dass er damals, 2010, in Istanbul verhaftet wurde. Und auf der Fahrt ist er über die Bosporus-Brücke geführt worden, mit der Anti-Terror-Einheit. Und die haben extra gesagt: Fahren Sie mal bitte langsamer, dann können sie sich nochmal die Schönheit unserer Stadt anschauen, bevor wir sie ins Gefängnis stecken.
Fischer: Wie zynisch!
Calis: Ja, und Doğan, der in dieser Stadt aufgewachsen ist und diese Stadt sehr geliebt hat, über alles, konnte sich bei dem Anblick der schönen Stadt nicht freuen. Er fand die Stadt fürchterlich, grauenhaft. Und das sagt eigentlich viel mehr über die Folterungen aus, oder die Repression aus, dass so ein Bild, was er da beschreibt, das ist eigentlich das Bild, was gerade die Menschen dort umtreibt.
"Wir dürfen diese Brücken nicht abbauen"
Fischer: Also ein Lebensgefühl, das Lebensgefühl der Stadt muss ein völlig anderes sein, ne?
Calis: Genau, ja.
Wir haben noch länger mit Nuran David Calis gesprochen -
Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
Fischer: Sie haben ja eine symbolische Baustelle auf Ihrer Bühne so aufgebaut. Kann man dann auch sagen: Ja, die Brücke nach Europa, die ist im Moment blockiert?
Calis: Es ist im Moment eher sogar der Fall, dass sie abgerissen wird, ist so meine Vermutung. Und dass auch mit einer unheimlichen Konsequenz gerade zustatten geht. Und dass auch die politische Ebene eigentlich kein Interesse mehr hat, an irgendwelchen Verbindungen zu Europa und sich sozusagen in eine andere Richtung bewegt. Das bedeutet aber nicht, dass wir als Zivilgesellschaft – und auch wir in der zweiten und dritten Einwanderergeneration – das zulassen dürfen. Also, ich glaube, dass wir auch den Menschen dort, die in dem Widerstand sind und auch für die Freiheit dort sich einsetzen… wir, als Zivilgesellschaft, dürfen diese Brücken nicht abbauen. Wir müssen da halt nicht zurückschrecken und uns nicht von der Angst besiegen lassen, den vielleicht ein Regime da jetzt zutage bringt, sondern wir müssen noch mutiger vorangehen und über Kunstwerke, über Musik, über Filme einen Weg finden, dass wir den Kontakt zu den Menschen, die sich nach Freiheit sehnen, nicht verlieren.
Vom politischen Frühling zur totalen Paralyse
Fischer: Offenbar passiert das ja aber auch im Land. Sie haben letztes Jahr im Rahmen eines Stipendiums des Auswärtigen Amtes mehrere Monate in Istanbul gelebt – vor dem Putsch allerdings, muss man sagen. Sie haben da viel mit Jugendlichen, mit Studenten gesprochen und einen Bericht darüber geschrieben. Und der klingt eigentlich so hoffnungsvoll, denn da sagen diese jungen Leute: "Ja, wir werden das Land sozusagen,von innen heraus verändern – ohne dass Ihr das überhaupt mitkriegt, da in Deutschland und in Europa! Also machen Sie sich mal keine Sorgen." So ungefähr. Können wir daran glauben?
Calis: Also das war eine Jugend, die politisiert war durch die Gezi-Proteste 2013. Und da hab ich halt gespürt, dass diese Proteste irgendwie hinübergehen in eine Zivilgesellschaft, in der die Jugendlichen – oder die jungen Menschen – sich so wahnsinnig nach Freiheit und so bekennen. Das war diese Zeit, wo ich gemerkt habe, dass wir eigentlich keine Ratschläge dieser Jugend geben müssen, weil die haben uns dann ja auch gesehen, bei den Parlamentswahlen. Vor einem Jahr des Militärputsches 2015 ist ja auch die kurdische Partei demokratisch in das Parlament gewählt worden, die HDP. Und es ging, wie so eine Art politischer Frühling dort los, in dem auch ich dachte: Ach, toll, jetzt kommen die Minderheiten auch ins Parlament hinein und können ihre Rechte vielleicht hier und da auch zutage bringen. Aber dass das dann innerhalb eines Jahres so gekippt ist und dann gemündet hat in diesen Militärputsch, das hat uns, auch die Freiheitsliebenden, extrem überrascht. Und es hat uns auch eine Zeit lang total paralysiert.
"Künstler und Journalisten müssen alles tun, damit die Freiheit sich ihren Weg bahnen kann"
Fischer: Also Sie würden sagen, jetzt ist es schon wieder eine andere Situation? Sie schreiben nämlich noch in dem Bericht: "Kunst und Leben suchen sich Wege an die Öffentlichkeit." Ja? Und da gab es eben illegale Lesungen, Aufführungen und so.
Calis: Genau.
Fischer: Sie glauben, das ist jetzt schon wieder anders?
Calis: Nee, das ist vielleicht noch viel verstärkter, dass sich das im Untergrund zutage tut. Ich habe natürlich Kontakt zu verschiedenen Künstlern und Institutionen und merke, dass auch das Goethe-Institut und alle anderen natürlich ein großes Interesse haben, die Freiheit, die Kunst, das Zusammensein, die Zivilgesellschaft weiterhin zu fördern. Dass das jetzt sich andere Kanäle und Wege suchen muss, auf friedlichem Wege, und dass Menschen sich ausdrücken müssen und dürfen und… da müssen wir natürlich, jetzt unabhängig, was die Regierungen miteinander verhandeln, sind wir natürlich gefragt. Die Zivilgesellschaft. Wir Künstler sind gefragt, wir Journalisten sind gefragt, dass wir einfach alles das tun, damit sich die Freiheit auch ihren Weg bahnen kann.
Fischer: Nuran David Calis, wir haben zuletzt vor einem Jahr mit Ihnen hier bei Corso gesprochen, aus Anlass der bevorstehenden Resolution zum Völkermord an den Armeniern. Sie hatten ja auch damals ein Stück inszeniert. Und Sie haben damals gesagt: "Ich glaube, eine Beziehung wächst dadurch, dass man sich auch offen die Meinung sagt und Konflikte miteinander austrägt." Glauben Sie, dass das noch möglich ist, zwischen der Türkei und Europa? Zwischen der Türkei und Deutschland?
Calis: Also, es muss möglich sein. Und es muss auch der Wille von beiden Seiten zur Veränderung gegeben sein. Und auch, dass man am Ende wirklich auch zusammen kommen will. Aber, wenn es so weiterhin ist, dass man nach außen hin einen Willen zeigt, aber nach innen hin sich anders verhält, dann wird sich die Türkei auch und Europa voneinander verabschieden müssen, auf lange Sicht. Davon bin ich fest überzeugt.
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