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Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop

Er gilt als Formulierer der Unmächtigen. Weshalb er nicht verächtlich von Ratten und Schmeißfliegen sprach, wenn er das Verhalten seiner Mitmenschen charakterisierte, sondern von Maus und Frosch, Esel und Hund oder Adler und Taube. Ihnen gab er Sprache und ließ sie in oft lustigen, mal grotesken, mal satirischen Geschichten reden und handeln und sein wie Menschen: geizig, neidisch, eitel und gierig, hochmütig und vor allem dumm. Beispielgebend und durchaus mit moralisierender und erzieherischer Absicht erfand er so den Menschen einen Spiegel, in dem sie sich erkennen sollten..

Heinz-Ludwig Arnold |
    Die Rede ist vom Fabel-Erzähler Äsop, mit dem wir die meisten Fabeln, die seit Jahrtausenden auf uns gekommen sind, verbinden. Äsop soll zwar im 6. Jahrhundert vor Christus auf der ionischen Insel Samos gelebt haben, ist aber selbst zur legendenhaften, ja zur Fabel-Figur geworden. Überliefert wird seine Geschichte im sogenannten "Äsop-Roman". Dessen Kern ist sicherlich die Lebensgeschichte Äsops, wie sie von Erzählern der Fabeln einst nebenher auch mitgeteilt worden ist. Doch im Laufe der Jahrhunderte müssen diese Erzähler diese Geschichte Äsops selbst fabulös ausgeschmückt und ihren Helden ausgestattet haben mit den mustergültigen Verhaltensweisen eines underdog, der den Mächtigen mit Klugheit und eulenspiegelhaftem Witz zu begegnen wußte. So beglaubigten sie Klugheit und Witz der Fabeln mit Klugheit und Witz ihres Erfinders, und indem sie ihn als häßlichen und mißgestalteten Sklaven darstellten, der, anfangs stumm, erst von einer Göttin zur Sprache gebracht wurde, vergrößerten sie die Fallhöhe zwischen den Mächtigen und jenen Unmächtigen, als deren Fürsprecher der Äsop des "Äsop-Romans" über zweieinhalb Jahrtausende hinweg entwickelt und tradiert wurde.

    Der knapp hundertseitige Text des "Äsop-Romans" war bislang Objekt eher literaturwissenschaftlichen als literarischen Interesses, wurde häufig wörtlich und meist schlecht ins Deutsche gebracht.

    Nun hat sich seiner ein Schriftsteller angenommen und daraus ein wunderbares Buch gemacht, das sich, weil seinem Autor dieser Stoff auf den Leib gewebt ist, als Lehen sogar ins eigene Werk einreihen läßt: Denn Hans Joachim Schädlich hat "Leben und Tod des Dichters Äsop" unter dem programmatischen Titel "Gib ihm Sprache" nacherzählt als Geschichte eines Unmächtigen, der, begabt mit genauem Denken und Sprechen, das immer ungenaue, weil falsche Bewußtsein der Mächtigen entlarvt und sich schließlich von ihnen befreit. Darin ist Äsop verwandt mit Eulenspiegel, aber auch mit Schädlichs Romanfigur Schott, die, weil sie sich befreit von der Geschichte, um zur Freiheit der Geschichten zu gelangen, auf dem Fundament seiner Poetologie steht.

    Schädlich führt Äsop so ein: "Äsop war zahnlos, seine Rede kaum zu verstehen. Äsop schielte. Er reckte den Kopf vor. Seine Nase war platt, seine Haut schmutzfarben. Äsops Bauch quoll über den Gürtel. Äsop war krummbeinig. Sein linker Arm war kürzer als der rechte. Manche sagen: Sein rechter Arm war kürzer als der linke. – Äsop war ein Sklave. Für eine Arbeit in der Stadt war er unbrauchbar. Sein Herr bestimmte ihn für eine Arbeit auf dem Land."

    Aber dieser stumme Äsop ist klug. Als nämlich zwei Diener seines Herrn, die sich dessen Feigen einverleibt haben, ihn dieser Tat bezichtigen, trinkt er lauwarmes Wasser und erbricht nur Wasser. Als der Herr die Diener auffordert, es ihm nachzutun, erbrechen sie die Feigen und sind überführt. Fakten widerlegen die Lüge.

    Bald danach begegnet Äsop auf dem Land einer Priesterin der ägyptischen Göttin Isis, und weil er ihr selbstlos hilft, bittet sie ihre Göttin, dem Äsop die Sprache zu schenken. Von nun an kann Äsop seine angeborene logische und praktische Klugheit auch artikulieren und mit sprachlicher Kraft und List das Recht der Unmächtigen gegen die Willkür der Mächtigen verteidigen.

    Äsop überführt seine Verhaltens-Geschichten in Dialoge und unterläuft die ideologischen Muster in den Köpfen derer, die ihn kujonieren. Unentwegt irritiert er ihre Klischees. Und sie begreifen mit der Zeit das erkenntniskritische Verfahren, dem Äsop sie aussetzt. Äsop öffnet sie für subjektive Wahrnehmungen von Welt und plädiert für ein Verhalten, in dem Welt nicht als verfestigtes Ensemble von Klischees reproduziert, das also nicht von Vorurteilen beherrscht wird, sondern das alternative Erscheinungsweisen von Welt und Verhaltensmöglichkeiten in ihr erprobt und Perspektiven ihrer Betrachtung durchspielt.

    Der "Roman" erzählt das Leben Äsops als musterhafte Karrieregeschichte des Intellekts: Nichts anderes zählt da als die Kraft des Verstandes, und die kann sich umso eher durchsetzen, als sie weder von Eitelkeit noch von Macht korrumpiert wird: denn Äsop ist häßlich und ein Sklave. Als Sklave dient er dem Philosophen Xanthos auf Samos, der Äsops Widerspruch mit der Zeit erkennen und schätzen lernt, ihn aber dennoch als Sklaven hält – die Dialoge mit Xanthos und dessen Frau nehmen den größten Teil des "Romans" ein. Aber schließlich muß Xanthos den Äsop, weil der ihn gerettet hat, doch noch freigeben. Äsop wird nun Ratgeber aller Samier und bringt es dank seiner Klugheit bis zum Wesir von Babylon.

    Gestorben ist Äsop in Delphi, wo er, von den Delphern zum Tode verurteilt, sich von einem Felsen stürzte. Angeblich hatte er aus dem Tempel von Delphi eine goldene Schale gestohlen. Ich vermute, die Delpher wollten den Äsop loswerden, weil sein erkenntniskritischer Witz ihre wolkigen Orakel störte.