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"Giulietta e Romeo" in Schwetzingen
Verschollenes Meisterwerk

Neapel galt ab Mitte des 18. Jahrhunderts als eines der innovativsten Opernzentren Europas. Seit sechs Jahren gräbt das Heidelberger Theater wichtige Werke der "Scuola napoletana" wieder aus. Niccolò Antonio Zingarellis "Giulietta e Romeo" ist seit 1829 erstmals wieder auf einer deutschen Opernbühne zu sehen – im Rokokotheater Schwetzingen.

Von Ursula Böhmer | 28.11.2016
    Der Dirigent Felice Venanzoni
    Leitet Zingarellis vergessene Oper: der Dirigent Felice Venanzoni (Deutschlandradio / Ursula Böhmer)
    Neapel galt ab Mitte des 18. Jahrhunderts als eines der innovativsten Opernzentren Europas. Seit sechs Jahren gräbt das Heidelberger Theater wichtige Werke dieser "Scuola napoletana" wieder aus. Die vorletzte Produktion des Zyklus, Niccolò Antonio Zingarellis "Giulietta e Romeo", ist seit 1829 erstmals wieder auf einer deutschen Opernbühne zu sehen – im Rokokotheater Schwetzingen.
    Musik: Niccolò Antionio Zingarelli, "Giulietta e Romeo"
    Skandal im Hause der Cappelli: Giulietta hat die Hochzeit mit Tebaldo platzen lassen. Inmitten der hochzeitlichen Vorfeierlichkeiten hat sie sich ausgerechnet in Romeo verliebt - Sohn der verfeindeten Montecchi. Vater Everardo tobt, Tebaldo wird sich kurz darauf mit Romeo duellieren – und dabei sterben.
    Es ist nicht der altvertraute Shakespear’sche "Romeo und Julia"-Stoff, den Niccolò Antonio Zingarelli vertont hat in seiner Oper "Giulietta e Romeo" – vielmehr hat sein Librettist auf die "Geschichte Veronas" von Girolamo della Corte zurückgegriffen. Geblieben ist Romeos Flucht und Julias durch Gift herbeigeführter Scheintod.
    "Im Unterschied zu Shakespeare begegnen sich die Liebenden allerdings in der Gruft noch für wenige Minuten lebendig: Bevor Romeo stirbt, erwacht Julia aus ihrer Todesstarre und ruft verzweifelt. Durch ihre Schmerzensschreie eilen dann Gilberto und Everardo vorbei – und Julia nimmt sich vor den Augen des Vaters das Leben."
    Heribert Germeshausen ist Opendirektor am Heidelberger Theater und Künstlerischer Leiter des Festivals "Winter in Schwetzingen", in dessen Rahmen Zingarellis Oper "Giulietta e Romeo" läuft. Das Werk passt hervorragend in den Zyklus mit wieder ausgegrabenen Opern der "Neapolitanischen Schule", der 2011 in dem Schwetzinger Rokokotheater begonnen wurde.
    Dem Belcanto vorausgelauscht
    Auch musikalisch ist Zingarellis Oper eine hochinteressanter Fund: Immerhin wurde er drei Jahre vor Mozart geboren, starb aber erst, als Rossini seine Karriere an den Nagel gehängt hatte und sich seinen Kochrezepten widmete, nämlich 1837.
    "Er ist ein Komponist, der klangästhetisch eindeutig in der neapolitanischen Barockoper wurzelt, der aber sehr wachsam die musikalischen Entwicklungen seiner Zeit verfolgt hat und auch nach dem starken Wechsel in der Publikumsstruktur, den es nach der Französischen Revolution in der Oper gab, der dann auch zu einem komplett anderen Publikumsgeschmack führt, auch zu anderen Sujets – es waren dann nicht mehr die griechischen und römischen Helden der Antike, die die Opernsujets bestimmten, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, wie z.B. Romeo und Julia – und der das verfolgt hat und letztlich über seine Person eine Verbindung von neapolitanischen Barock über die Klassik bis in den Belcanto des 19. Jahrhunderts bildet."
    Musik: Niccolò Antionio Zingarelli, "Giulietta e Romeo"
    Dem Belcanto vorausgelauscht etwa sind die Spitzenton-Kadenzen, die Niccolò Antonio Zingarelli seinen Sängern 1796 bereits zutraut – und die exzellente Sängerdarstellerin Emilie Renard macht in Schwetzingen als Giulietta darin wunderbare Figur. Sonst überwiegt in der Oper der typisch barock-klassische Einschlag der "Neapolitanischen Schule". Eine Art "Dolce Vita" in Tönen, findet Dirigent Felice Venanzoni:
    "Alles ist bequem, alles ist locker. Man regt sich zwar auch auf, aber nicht zuviel! Diese Eleganz der Linie, der Melodie, des Belcanto – das ist wie am Strand: Einfach in der Sonne liegen und genießen, was kommt! Aufregungen gibt es in der Oper nur kurz, aber viel weniger als das Elegante, Melodische, tief Inhaltliche – und wenn man will, Leidende! Aber es gibt keine Verzweiflung! Es ist so wie: Wir weinen ein bisschen, aber nicht zu viel – wir sind halt aus Neapel!"
    Das Stimmen-Phänomen Kangmin Justin Kim
    "Geweint" und gehadert wird vor allem in den Rezitativen - Überbleibsel aus der barocken Opera Seria: Emotion pur, wenn Romeo die scheinbar tote Giulietta in ihrer Gruft aufsucht – ein Bravourstück für Countertenor Kangmin Justin Kim:
    Musik: Niccolò Antionio Zingarelli
    Der koreanisch-amerikanische Countertenor Kangmin Justin Kim ist ein stimmliches Phänomen – und auch darstellerisch glaubhaft. Zwischen "himmelhochjauchzend" und "zu Tode betrübt", läuft sein Romeo in Schwetzingen zunächst als Halbstarker mit 50er Jahre-Haartolle, Bomberjacke und kurzen Goldhosen herum - ehe er in langen Hosen und Hemd schließlich zum Mann herangereift ist. Bernsteins "Westside-Story" lässt optisch bei ihm grüßen – während die übrigen Kostüme auch mal die Halskrausen und Wämse des 16. Jahrhunderts herbeizitieren. Zeitlos aktuell ist der tragische Liebesdramen-Stoff schon immer gewesen – und darum auch immer schon bekannt. Das ist nun zugleich das Problem von Zingarellis Oper:
    "Leider muss man sagen, dass die Dramaturgie in dieser Oper nicht so gut fokussiert ist wie später dann. Die Situationen werden eher angedeutet als entwickelt! Das ist halt Belcanto – die Hauptsache ist der Gesang! Auch die Rezitative, die eher kurz sind, haben kaum eine innere Entwicklung! In zwei Takte wird das ganze Leid von Romeo und Giulietta erzählt – und dann folgt auch schon ein schönes Duett! Das war es halt, was das Publikum damals hören wollte!"
    Oper mit dramaturgischen Schwächen
    Zingarellis Oper wirkt wie eine Aneinanderreihung von Tableaux vivants aus dem Julia- und Romeo-Stoff. Das Regieteam aus Nadja Loschky und Thomas Wilhelm erweckt sie im Rokokotheater Schwetzingen allerdings temporeich zum Leben: Szenen gehen nahtlos ineinander über, indem die Figuren einfach einen transparenten Vorhang zuziehen - und davor dann die nächste Szene anstimmen. Plausibel auch das psychologische Gespür der Regisseure, mit dem sie Zingarellis flache Charaktere rund formen. Verzichten können hätten sie allerdings auf das kindliche Alter Ego Julias, das immer mal wieder über die Bühne läuft und, reichlich süßlich, Luftballons steigen lässt. Insgesamt aber gelingt ein spannender Opernabend, der nicht zuletzt von dem schlanken, historisch informierten Tonfall belebt wird, den Felice Venanzoni gemeinsam mit dem Philharmonischen Orchester Heidelberg anschlägt – Bravi.
    Musik: Niccolò Antionio Zingarelli