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Goethes Rätselparodie der Romantik

Eine neue Lesart" von Goethes bestem Buch: nichts Geringeres verspricht die vorliegende Arbeit in ihrem Untertitel selbstbewußt. Die Verfasserin hält ihr Versprechen. Das ist ver- und bewundernswert. Haben doch Tausende von sekundärliterarischen Abhandlungen die Wahlverwandtschaften aus- und ihnen mitunter auch einiges "untergelegt". Und es ist auch wiederum nicht verwunderlich. Hat Goethe doch nach eigener Aussage so viel in seinen Roman "hineingeheimnißt", daß Generationen von Literaturwissenschaftlern genug zu tun haben, um in romantischer "Annäherung" an den unendlich sich entziehenden Sinn alle Allusionen und Tiefenschichten des Romans freizulegen.

Jochen Hörisch |
    Bewunderswert ist die Arbeit durch zwei selten vereinigte Qualitäten. Erstens durch die Luzidität und die interne Stimmigkeit ihrer Detailanalysen (dazu gleich mehr). Und zweitens dadurch, daß diese Details tatsächlich zu einer generell "neuen Lesart" der Wahlverwandtschaften führen. Und das will etwas heißen - auch dann, wenn, wie sollte es anders sein, die neue Lesart so neu freilich auch wiederum nicht ist. Aber sie macht eine bislang völlig minoritäre Lektüre des Romans stark: die nämlich, die auf seine parodistischen Elemente hinweisen. Daß etwa die Gestalt Mittlers geradezu überdeutlich parodistische Züge trägt, konnte nur Interpreten entgehen, die à tout prix den Wahlverwandtschaften erhabene Stilqualitäten zusprechen wollten. Daß sich Goethe sehr ernste Scherze nicht nur im Faust, sondern auch in seinem besten Buch erlaubt, zeigen, worauf Bersier nicht eigens eingeht, die systematischen Doppeldeutigkeiten gerade vieler Schlüsselsätze des Romans. Um nur drei zu nennen: der Schlußsatz, der sarkastisch mit dem konditional-temporalen Doppelsinn des Wortes "wenn" spielt ("Welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen" - falls: werden sie aber nicht); der berühmte Satz im vorletzten Kapitel ("Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden" - das Lösungswort werden Eduard und Ottilie nicht finden, wohl aber wird sich ihr Leben gemeinsam auflösen); und der Eingangssatz, den Bersier glänzend interpretiert.

    Damit sind wir auch schon im Zentrum von Bersiers Argumentation. Die doppelte Namensnennung am Romananfang "Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard ..." ist, wie durch eben diese Doppelung schon angedeutet wird, übercodiert. Eduard - so heißt der Titelheld in Jacobis Roman "Eduard Allwills Papiere", der moralische Gegenspieler zur Titelfigur von Tiecks "William Lovell", der Titelheld von Sophie Mereaus Briefroman "Amanda und Eduard", Julius’ Freund in Schlegels "Lucinde" und auch der sittsame Empfänger von Schleiermachers "Vertrauten Briefen über die Lucinde". In seiner Wunderhorn - Rezension hat Goethe einen kaum mehr geheim zu nennenden Wink gegeben, daß sich ihm im Namen Eduard die Romantik ironisch inkarnierte. Dort heißt es: "Wir können jedoch unsere Vorliebe für diejenigen (Lieder) nicht bergen, wo lyrische, dramatische und epische Behandlung dergestalt ineinander geflochten ist, daß sich erst ein Rätsel aufbaut und sodann mehr oder weniger und wenn man will epigrammatisch auflöst. Das bekannte ‘Dein Schwert, wie ist’s vom Blut so rot, Eduard, Eduard!’ ist besonders im Originale das Höchste, was wir in dieser Art kennen."

    Auf die Parallele zwischen dieser Rezension und dem Wahlverwandtschaften-Beginn hat bereits Norbert Oellers hingewiesen. Es ist aber Bersiers Verdienst, nun eine solche Fülle von Allusionen auf die Romantiker und insbesondere auf Friedrich Schlegel und seine Schriften auszubreiten, daß ihre These hohe Plausibilität gewinnt: "Der entschiedenste Verfechter der modern-romantischen Liebes- und Eheauffassung der Wahlverwandtschaften und geistige Urheber ihrer ironisch-reflexiven Schreibart Friedrich Schlegel würde gleichzeitig als geistiger Zieladressat des Romans hervorteten." Um nur einige wenige Anspielungen zu nennen: Auf Schlegels Studium-Essay geht das Obstbaugleichnis des Romanbeginns zurück, auf seine Indien-Schrift spielt schon der Romantitel an, auf das Athenäum-Fragment 132 nimmt Eduards Charkterisierung als Narziß Bezug, auf Schlegels Stolberg-Rezension spielt Goethe gleich mehrfach an, die Figur des Architekten parodiert die (später so genannten) Nazarener und ihren Mentor (eben Schlegel) und so geht es fort.

    Insgesamt ist die Darlegung verblüffend schlüssig - selbst dann, wenn man in einzelnen Punkten widersprechen mag und muß. So im Hinblick auf die Gestalt Mittlers, für die gewiß eher Schleiermacher als Schlegel unfreiwillig Modell gestanden hat. Aber so fern sind beide Deutungen ja nicht voneinander entfernt. Schwer zu bestreiten ist die Quintessenz der Arbeit, die "das Unerhörte" (feststellt): es war der altgewordene Klassiker Goethe, der das ästhetische Tauziehen zwischen Jenaer Romantik und Weimarer Klassik mit einem parodistischen Roman listig entschied." Und zwar (hier wäre größere Entschiedenheit der These angezeigt), indem er die ironisch-transzendentalpoetische Frühromantik gegen den zum Katholizismus konvertierten Romantiker ausspielt. Goethe hat den vollendeten frühromantischen Kunstroman geschrieben, den die Jenaer wohl postuliert und poetologisch programmiert, nicht aber vorgelegt haben. Bersiers Arbeit kommt aufgrund origineller Befunde zu einem Resultat, das nur dann originell ist, wenn man allzu strikt der Opposition Weimar vs. Jena bzw. Klassik vs. Romantik verpflichtet ist: Goethe ist der Beste - der beste deutschsprachige Autor sowieso, aber eben auch der beste Frühromantiker.