"Diese Grotte gibt einen wunderbaren Ausblick auf das Meer. Hier finden wir Felszeichnungen, die uns zeigen, dass hier Menschen lebten. Sehen Sie diese Striche, die von Menschenhand herrühren. Versteinerte Muscheln deuten darauf hin, dass das Meer bis hier herauf reichte."
Antonietta Segre tritt aus der Grotte heraus. Vor ihr breitet sich ein unvergleichliches Panorama aus: zur Linken mannshohe Kakteen, zur Rechten Palmen und in der Mitte das Meer: nichts als Blau, bis zum Horizont. Dreht man sich etwas zur rechten Seite, kommt die Bucht von Menton ins Blickfeld, der wärmsten Stadt Frankreichs. In der Mitte der Bucht ankert ein große Jacht, dahinter ist der Hafen und die steil aufsteigende Altstadt von Menton zu sehen. Dass dies ein besonderes Fleckchen Erde ist, wussten die Menschen seit vielen, vielen Tausend Jahren. Die Grotten befinden sich an einer etwa 100 Meter hohen Felswand, gerade einmal 200 Meter von der französisch-italienischen Grenze entfernt. Im ligurischen Dialekt heißen sie "Balzi Rossi", zu Deutsch: "Rote Felsen".
"Diese Grotten aus Kalkstein sind durch die Erosion des Meeres entstanden. Das Meer hat diese Felsspalten geschaffen. Später wurden sie für die Menschen zu Behausungen und Begräbnisstätten."
Antonietta Segre führt uns durch das "Museum Balzi Rossi". Die dortigen prähistorischen Funde umspannen eine sehr lange Zeitperiode: von 230.000 bis 10.000 Jahre vor Christus. Die klimatischen Verhältnisse, so erzählt die Führerin, waren in dieser Zeit sehr unterschiedlich: Aus den Wärmeperioden stammen Funde von Elefanten, Leoparden und anderen Tieren, die man heute vielleicht im Senegal antreffen würde. Aus den Kältezeiten wurden Überbleibsel von Elchen, Steinböcken, Gämsen, also alpinen Tieren gefunden.
Die wertvollsten Funde sind freilich drei menschliche Skelette, die etwa 40.000 Jahre alt sind. Der sogenannte "Mensch von Menton" ähnelt dem Cro-Magnon-Menschen aus der Dordogne und ist ausgesprochen groß: Er misst zwischen 1,90 Meter und zwei Meter. Er war ein Jäger, genauer gesagt: ein Großwildjäger. Antonietta Segre:
"In einer Zeit, in der die Menschen von der Jagd auf Großwild lebten, mussten sie es mit den Tieren aufnehmen können, mussten also schnell rennen können - und entsprechend groß und stattlich waren sie gebaut."
Die Führerin zeigt ins Innere der Grotte, die sich etwa zehn Meter hoch und 20 Meter tief in die Steilwand eingegraben hat.
"Die Felszeichnungen in dieser Grotte sind in ziemlicher Höhe angebracht, weil der Erdboden damals wesentlich höher war, deshalb sind sie heute in einer Höhe von mehr als drei Metern zu sehen. Man kann sehr gut erkennen, dass die Zeichnung ein Pferd darstellt."
Offenbar lag der Meeresboden zu jener Zeit 30 Meter höher als heute und reichte bis in die Höhe der Grotten. Zu anderen Zeiten jedoch, so berichtet Antonietta Segre, sei das Meer bis zum Horizont eine fruchtbare Ebene gewesen. Dann wiederum habe es Zeiten gegeben, in denen es sehr warm und vor allem trocken gewesen sei. Zu dieser Zeit seien die Menschen von der Meeresküste hinauf in die Bergtäler gezogen, in die Kühle der Seealpen.
Wir wollen den Spuren dieser prähistorischen Menschen folgen. Anders als zu jenen fernen Zeiten hat der Besucher heutiger Tage es einfach: Er steigt in den Zug, den sogenannten "Train des Merveilles", den "Zug der Wunder", der von Nizza aus - oder auch vom italienischen Ventimiglia - durch das Tal der Roya in Richtung Seealpen fährt. Unser Ziel ist das französische Tende.
Im Bahnhof von Ventimiglia herrscht hektisches Treiben. Hier treffen Bergwanderer auf Sonnenurlauber und französische Hausfrauen auf marokkanische Straßenverkäufer. Der Bahnhofslautsprecher gibt seine Verlautbarungen abwechselnd auf Französisch und italienisch bekannt.
Die sogenannte Tendabahn ist eine außergewöhnliche Bahnstrecke: Man fährt von Italien durch Frankreich nach Italien, von Ventimiglia über Tende nach Cuneo. Die Strecke ist so steil, wie in Europa sonst nur die Rhätische Bahn. Die Planung der Trasse geht auf Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Aufgrund zahlreicher Grenzstreitigkeiten wurde die Verbindung aber erst 1928 eingeweiht. Wenn die Trasse gerade mal nicht über eine Brücke fährt, führt sie durch einen der 83 Tunnel, davon einige Kreiskehrtunnel, die 360 Grad in den Berg gehauen sind, nur um Höhe zu gewinnen.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden mehrere Brücken zerstört, sodass die Bahn erst 1979 wieder eröffnet werden konnte. Auf die kriegerische Vergangenheit verweisen auch mehrere Schießscharten und Festungsanlagen an Tunnelportalen. Bevor die Bahn den Hauptkamm der Seealpen unterhalb des Colle di Tenda unterquert, steigen wir in dem gleichnamigen Städtchen aus, das auf Französisch Tende heißt.
Wir machen uns auf ins "Tal der Wunder". Gemeint ist ein Hochgebirgstal, das man von Tende oder Saint Dalmas aus in einem mehrstündigen Fußmarsch erreicht. Der Weg windet sich steil ein Seitental entlang, streift Lärchenwälder und Almwiesen. Schließlich erreichen wir die Baumgrenze und gelangen in eine grandiose Felsenwelt: einige Gletscherseen, Gras und niedrige Flechten, ansonsten nur Steine, Steine, Steine.
Hier oben, in der abgeschiedenen Bergwelt des 2800 Meter hohen Mont Bégo, haben Menschen vor 5000 Jahren geheimnisvolle Symbole in die Felsen geritzt. Über 40.000 Felszeichnungen haben sie mit Quarzsteinen in den Sandstein gepunzt. Offenbar verstanden sie die von Gletschern glattpolierten Felsen als Schreibtafeln, auf denen sie Botschaften an ihre Götter hinterlassen konnten: Es handelt sich um eine Kultstätte im Hochgebirge, eine der bedeutendsten Fundstätten von Felsbildern in den Alpen.
Inzwischen sind dunkle Wolken aufgezogen, ein Wind kommt auf. Das kann im Hochgebirge gefährlich werden. Wir treten schnellstmöglich den Rückweg an. Das "Tal der Wunder" gehörte bis 1947 zu Italien, heute ist es Teil des französischen Nationalparks Mercantour. Acht Monate im Jahr sind die Felszeichnungen vom Schnee bedeckt, in der warmen Jahreszeit kann man geführte Wanderungen zu den Fundstätten unternehmen. Zurück in Tende informieren wir uns im hochmodernen "Museum der Wunder" über den aktuellen Kenntnisstand der Archäologen.
"Man nimmt an, dass die Menschen mit den Felszeichnungen ihren Wohlstand darstellen und zugleich gegenüber einer Gottheit um weiteres Wohlergehen bitten wollten. Die Gottheit wird mit dem Berg in Verbindung gebracht. Heilige Berge hatten immer einer hohe symbolische Bedeutung, denn der Berg stellt die Verbindung zwischen Himmel und Erde dar."
Die Archäologin Silvia Sandrone ist Italienerin und fährt täglich zur Arbeit über die Grenze. Sie ist von den 40.000 Zeichnungen fasziniert: Der Mont Bégo war ein heiliger Berg.
"Bei dieser Felszeichnung sind die Füße nach außen gerichtet, das heißt, wir haben es mit einem Menschenabbild zu tun. Denn die Füße sind so wie bei uns. Wenn wir aber Abbildungen mit Füßen sehen, die nach innen gerichtet sind, dann soll das bedeuten, sie können fliegen. Es sieht aus, als flögen sie. Das heißt, wir nehmen an, dass sie Gottheiten sein sollen."
Die Archäologen fanden heraus: Die Felszeichnungen des Mont Bégo waren keineswegs gelangweilte Spielereien einsamer Hirten. Silvia Sandrone zeigt auf eine besonders gelungene Felszeichnung, die ein Gesicht darstellt. Es ist kein naturalistisches Abbild, sondern ein magisches Bild: der sogenannte "Zauberer des Mont Bégo".
"Es könnte eine Verbindung zwischen dem Stiergott und dem Gewittergott sein. Das könnte sein. Die Felsen sind reich an metallischen Mineralien, Eisen, Magnesium und so weiter. Sie haben einen hohen Grad an Radioaktivität, deshalb kommt es hier zu sehr vielen Gewittern und Blitzen, die von den Metallen in der Erde angezogen werden. Bei uns stößt die warme Mittelmeerluft der Cote d'Azur auf die kalte Bergluft. Wenn dann noch die Felsen voller Metall und Radioaktivität sind, muss man sich nicht wundern, warum sie so viele Blitze anziehen."
In der Tat, die heftigen Gewitter haben wir kennengelernt. Nicht auszuschließen, dass die Hirten der Bronzezeit in der verlassenen Berggegend des Mont Bégo den Gewittergott anflehten. Die beiden Dolche des "Zauberer des Mont Bégo" könnten Sinnbilder für den Blitz sein: Er wird als der gefürchtete "Blitzschleuderer" verehrt. Für die Menschen der Bronzezeit muss der Berg ein unheimlicher Ort gewesen sein. Silvia Sandrone:
"Daher auch die Bezeichnung 'Tal der Wunder': Gemeint ist damit nicht wunderbar, sondern eher etwas, was verwunderlich ist, was zu fürchten ist, was den Besucher in Erstaunen versetzt."
Nicht von ungefähr gibt es neben dem "Tal der Wunder" auch ein "Tal der Hölle", einen "Gipfel des Teufels" und ein "Tal der Hexe". Wir treten aus dem Museum heraus auf die "Avenue des 16. September 1947". An diesem Tag fand eine Volksabstimmung statt: 97 Prozent der Bewohner von Tende stimmten dafür, die Nationalität zu wechseln und sich Frankreich anzuschließen. Maria Oberto, eine alte Bewohnerin Tendes, erinnert sich noch gut:
"Ich glaube, die meisten haben wegen der Arbeit für Frankreich gestimmt. Wir sind immer runter zum Arbeiten nach Nizza gefahren, immer. Meine Mutter stammte aus Limone Piemonte, mein Vater aus Tende. Sie haben sich in Nizza kennengelernt, weil beide dort gearbeitet haben. Das Vaterland ist schön und gut, aber arbeiten und was zum Essen zu haben, ist doch etwas anderes."
Heute hat Maria Oberto ein Museum der bäuerlichen Welt eingerichtet. Man sieht dort zum Beispiel einen Halsschutz für Hunde, damit Wölfe ihnen nicht in den Hals beißen, oder einen Käfig für Katzen.
"Die Hirten setzten die Katze in den Käfig rein, wenn sie das Tal runterstiegen. Denn im Oktober, spätestens November wanderten sie runter an die Riviera und kamen erst im Mai wieder hoch in die Berge. Alle jungen Leute gingen im Winter runter an die Küste zur Arbeit, nur die Alten blieben oben und passten auf das Vieh auf. Damals waren die Riviera und die Cote d'Azur vom Wintertourismus geprägt, nicht so wie heute. Es gab dort viele Engländer, meine Großmutter hatte noch bei einer englischen Familie gearbeitet. Jeden Winter ging sie zusammen mit ihrer Schwester runter nach Menton, um in einer englischen Villa zu arbeiten. In Nizza gibt es die Promenade des Anglais - der Name kommt nicht von ungefähr. Die kamen aus England."
Der Abschied konnte durchaus kurzweilig sein, vor allem wenn er mit einem Kuss der Geliebten verbunden war, wie es in einem Lied aus Tende heißt.
Antonietta Segre tritt aus der Grotte heraus. Vor ihr breitet sich ein unvergleichliches Panorama aus: zur Linken mannshohe Kakteen, zur Rechten Palmen und in der Mitte das Meer: nichts als Blau, bis zum Horizont. Dreht man sich etwas zur rechten Seite, kommt die Bucht von Menton ins Blickfeld, der wärmsten Stadt Frankreichs. In der Mitte der Bucht ankert ein große Jacht, dahinter ist der Hafen und die steil aufsteigende Altstadt von Menton zu sehen. Dass dies ein besonderes Fleckchen Erde ist, wussten die Menschen seit vielen, vielen Tausend Jahren. Die Grotten befinden sich an einer etwa 100 Meter hohen Felswand, gerade einmal 200 Meter von der französisch-italienischen Grenze entfernt. Im ligurischen Dialekt heißen sie "Balzi Rossi", zu Deutsch: "Rote Felsen".
"Diese Grotten aus Kalkstein sind durch die Erosion des Meeres entstanden. Das Meer hat diese Felsspalten geschaffen. Später wurden sie für die Menschen zu Behausungen und Begräbnisstätten."
Antonietta Segre führt uns durch das "Museum Balzi Rossi". Die dortigen prähistorischen Funde umspannen eine sehr lange Zeitperiode: von 230.000 bis 10.000 Jahre vor Christus. Die klimatischen Verhältnisse, so erzählt die Führerin, waren in dieser Zeit sehr unterschiedlich: Aus den Wärmeperioden stammen Funde von Elefanten, Leoparden und anderen Tieren, die man heute vielleicht im Senegal antreffen würde. Aus den Kältezeiten wurden Überbleibsel von Elchen, Steinböcken, Gämsen, also alpinen Tieren gefunden.
Die wertvollsten Funde sind freilich drei menschliche Skelette, die etwa 40.000 Jahre alt sind. Der sogenannte "Mensch von Menton" ähnelt dem Cro-Magnon-Menschen aus der Dordogne und ist ausgesprochen groß: Er misst zwischen 1,90 Meter und zwei Meter. Er war ein Jäger, genauer gesagt: ein Großwildjäger. Antonietta Segre:
"In einer Zeit, in der die Menschen von der Jagd auf Großwild lebten, mussten sie es mit den Tieren aufnehmen können, mussten also schnell rennen können - und entsprechend groß und stattlich waren sie gebaut."
Die Führerin zeigt ins Innere der Grotte, die sich etwa zehn Meter hoch und 20 Meter tief in die Steilwand eingegraben hat.
"Die Felszeichnungen in dieser Grotte sind in ziemlicher Höhe angebracht, weil der Erdboden damals wesentlich höher war, deshalb sind sie heute in einer Höhe von mehr als drei Metern zu sehen. Man kann sehr gut erkennen, dass die Zeichnung ein Pferd darstellt."
Offenbar lag der Meeresboden zu jener Zeit 30 Meter höher als heute und reichte bis in die Höhe der Grotten. Zu anderen Zeiten jedoch, so berichtet Antonietta Segre, sei das Meer bis zum Horizont eine fruchtbare Ebene gewesen. Dann wiederum habe es Zeiten gegeben, in denen es sehr warm und vor allem trocken gewesen sei. Zu dieser Zeit seien die Menschen von der Meeresküste hinauf in die Bergtäler gezogen, in die Kühle der Seealpen.
Wir wollen den Spuren dieser prähistorischen Menschen folgen. Anders als zu jenen fernen Zeiten hat der Besucher heutiger Tage es einfach: Er steigt in den Zug, den sogenannten "Train des Merveilles", den "Zug der Wunder", der von Nizza aus - oder auch vom italienischen Ventimiglia - durch das Tal der Roya in Richtung Seealpen fährt. Unser Ziel ist das französische Tende.
Im Bahnhof von Ventimiglia herrscht hektisches Treiben. Hier treffen Bergwanderer auf Sonnenurlauber und französische Hausfrauen auf marokkanische Straßenverkäufer. Der Bahnhofslautsprecher gibt seine Verlautbarungen abwechselnd auf Französisch und italienisch bekannt.
Die sogenannte Tendabahn ist eine außergewöhnliche Bahnstrecke: Man fährt von Italien durch Frankreich nach Italien, von Ventimiglia über Tende nach Cuneo. Die Strecke ist so steil, wie in Europa sonst nur die Rhätische Bahn. Die Planung der Trasse geht auf Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Aufgrund zahlreicher Grenzstreitigkeiten wurde die Verbindung aber erst 1928 eingeweiht. Wenn die Trasse gerade mal nicht über eine Brücke fährt, führt sie durch einen der 83 Tunnel, davon einige Kreiskehrtunnel, die 360 Grad in den Berg gehauen sind, nur um Höhe zu gewinnen.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden mehrere Brücken zerstört, sodass die Bahn erst 1979 wieder eröffnet werden konnte. Auf die kriegerische Vergangenheit verweisen auch mehrere Schießscharten und Festungsanlagen an Tunnelportalen. Bevor die Bahn den Hauptkamm der Seealpen unterhalb des Colle di Tenda unterquert, steigen wir in dem gleichnamigen Städtchen aus, das auf Französisch Tende heißt.
Wir machen uns auf ins "Tal der Wunder". Gemeint ist ein Hochgebirgstal, das man von Tende oder Saint Dalmas aus in einem mehrstündigen Fußmarsch erreicht. Der Weg windet sich steil ein Seitental entlang, streift Lärchenwälder und Almwiesen. Schließlich erreichen wir die Baumgrenze und gelangen in eine grandiose Felsenwelt: einige Gletscherseen, Gras und niedrige Flechten, ansonsten nur Steine, Steine, Steine.
Hier oben, in der abgeschiedenen Bergwelt des 2800 Meter hohen Mont Bégo, haben Menschen vor 5000 Jahren geheimnisvolle Symbole in die Felsen geritzt. Über 40.000 Felszeichnungen haben sie mit Quarzsteinen in den Sandstein gepunzt. Offenbar verstanden sie die von Gletschern glattpolierten Felsen als Schreibtafeln, auf denen sie Botschaften an ihre Götter hinterlassen konnten: Es handelt sich um eine Kultstätte im Hochgebirge, eine der bedeutendsten Fundstätten von Felsbildern in den Alpen.
Inzwischen sind dunkle Wolken aufgezogen, ein Wind kommt auf. Das kann im Hochgebirge gefährlich werden. Wir treten schnellstmöglich den Rückweg an. Das "Tal der Wunder" gehörte bis 1947 zu Italien, heute ist es Teil des französischen Nationalparks Mercantour. Acht Monate im Jahr sind die Felszeichnungen vom Schnee bedeckt, in der warmen Jahreszeit kann man geführte Wanderungen zu den Fundstätten unternehmen. Zurück in Tende informieren wir uns im hochmodernen "Museum der Wunder" über den aktuellen Kenntnisstand der Archäologen.
"Man nimmt an, dass die Menschen mit den Felszeichnungen ihren Wohlstand darstellen und zugleich gegenüber einer Gottheit um weiteres Wohlergehen bitten wollten. Die Gottheit wird mit dem Berg in Verbindung gebracht. Heilige Berge hatten immer einer hohe symbolische Bedeutung, denn der Berg stellt die Verbindung zwischen Himmel und Erde dar."
Die Archäologin Silvia Sandrone ist Italienerin und fährt täglich zur Arbeit über die Grenze. Sie ist von den 40.000 Zeichnungen fasziniert: Der Mont Bégo war ein heiliger Berg.
"Bei dieser Felszeichnung sind die Füße nach außen gerichtet, das heißt, wir haben es mit einem Menschenabbild zu tun. Denn die Füße sind so wie bei uns. Wenn wir aber Abbildungen mit Füßen sehen, die nach innen gerichtet sind, dann soll das bedeuten, sie können fliegen. Es sieht aus, als flögen sie. Das heißt, wir nehmen an, dass sie Gottheiten sein sollen."
Die Archäologen fanden heraus: Die Felszeichnungen des Mont Bégo waren keineswegs gelangweilte Spielereien einsamer Hirten. Silvia Sandrone zeigt auf eine besonders gelungene Felszeichnung, die ein Gesicht darstellt. Es ist kein naturalistisches Abbild, sondern ein magisches Bild: der sogenannte "Zauberer des Mont Bégo".
"Es könnte eine Verbindung zwischen dem Stiergott und dem Gewittergott sein. Das könnte sein. Die Felsen sind reich an metallischen Mineralien, Eisen, Magnesium und so weiter. Sie haben einen hohen Grad an Radioaktivität, deshalb kommt es hier zu sehr vielen Gewittern und Blitzen, die von den Metallen in der Erde angezogen werden. Bei uns stößt die warme Mittelmeerluft der Cote d'Azur auf die kalte Bergluft. Wenn dann noch die Felsen voller Metall und Radioaktivität sind, muss man sich nicht wundern, warum sie so viele Blitze anziehen."
In der Tat, die heftigen Gewitter haben wir kennengelernt. Nicht auszuschließen, dass die Hirten der Bronzezeit in der verlassenen Berggegend des Mont Bégo den Gewittergott anflehten. Die beiden Dolche des "Zauberer des Mont Bégo" könnten Sinnbilder für den Blitz sein: Er wird als der gefürchtete "Blitzschleuderer" verehrt. Für die Menschen der Bronzezeit muss der Berg ein unheimlicher Ort gewesen sein. Silvia Sandrone:
"Daher auch die Bezeichnung 'Tal der Wunder': Gemeint ist damit nicht wunderbar, sondern eher etwas, was verwunderlich ist, was zu fürchten ist, was den Besucher in Erstaunen versetzt."
Nicht von ungefähr gibt es neben dem "Tal der Wunder" auch ein "Tal der Hölle", einen "Gipfel des Teufels" und ein "Tal der Hexe". Wir treten aus dem Museum heraus auf die "Avenue des 16. September 1947". An diesem Tag fand eine Volksabstimmung statt: 97 Prozent der Bewohner von Tende stimmten dafür, die Nationalität zu wechseln und sich Frankreich anzuschließen. Maria Oberto, eine alte Bewohnerin Tendes, erinnert sich noch gut:
"Ich glaube, die meisten haben wegen der Arbeit für Frankreich gestimmt. Wir sind immer runter zum Arbeiten nach Nizza gefahren, immer. Meine Mutter stammte aus Limone Piemonte, mein Vater aus Tende. Sie haben sich in Nizza kennengelernt, weil beide dort gearbeitet haben. Das Vaterland ist schön und gut, aber arbeiten und was zum Essen zu haben, ist doch etwas anderes."
Heute hat Maria Oberto ein Museum der bäuerlichen Welt eingerichtet. Man sieht dort zum Beispiel einen Halsschutz für Hunde, damit Wölfe ihnen nicht in den Hals beißen, oder einen Käfig für Katzen.
"Die Hirten setzten die Katze in den Käfig rein, wenn sie das Tal runterstiegen. Denn im Oktober, spätestens November wanderten sie runter an die Riviera und kamen erst im Mai wieder hoch in die Berge. Alle jungen Leute gingen im Winter runter an die Küste zur Arbeit, nur die Alten blieben oben und passten auf das Vieh auf. Damals waren die Riviera und die Cote d'Azur vom Wintertourismus geprägt, nicht so wie heute. Es gab dort viele Engländer, meine Großmutter hatte noch bei einer englischen Familie gearbeitet. Jeden Winter ging sie zusammen mit ihrer Schwester runter nach Menton, um in einer englischen Villa zu arbeiten. In Nizza gibt es die Promenade des Anglais - der Name kommt nicht von ungefähr. Die kamen aus England."
Der Abschied konnte durchaus kurzweilig sein, vor allem wenn er mit einem Kuss der Geliebten verbunden war, wie es in einem Lied aus Tende heißt.