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Göttinger Nachhaltigkeitskonferenz
Krieg, Gewalt, Flucht und Migration

An der Universität Göttingen fand jetzt die diesjährige Nachhaltigkeitskonferenz unter der Überschrift "Migration – Frieden - Human Security" statt. Dort ging es um den komplizierten Zusammenhang von Krieg, Gewalt, Flucht und Migration. Geplant war die Konferenz schon seit über einem Jahr - jetzt erhielt sie eine nicht geahnte Aktualität.

Von Ingeborg Breuer |
    Bewohner der Außenstelle der Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende (AfA) Ingelheim auf dem Flughafen Frankfurt-Hahn in Lautzenhausen (Rhein-Hunsrück-Kreis) sitzen am 17.08.2015 auf einer Bank vor einem Zelt.
    Migranten könnten von Terroristen missbraucht werden, wenn ihre Integration misslinge: Der Politikwissenschaftler Lothar Brock spannt einen Bogen von der Flüchtlingsproblematik über den islamistischen Terrorismus zur Frage kriegerischer Interventionen. (picture alliance / dpa / Harald Tittel)
    "Es sind geopolitische Szenarien, dass ein weiteres Zusammenwachsen Europas unwahrscheinlich geworden ist, dass nicht damit zu rechnen ist, dass es Fortschritte geben wird, sondern dass es etliche Zerfallserscheinungen in Europa geben wird."
    Dass Europa in der aktuellen Flüchtlingskrise ein schlechtes Bild abgibt, kann man jeden Tag aufs Neue den Nachrichten entnehmen. Englische Geopolitiker, so Prof. Lothar Brock, prognostizieren deshalb schon den Zerfall Europas.
    "Wo die Nationalstaaten sich gegen einen solidarischen Umgang in der Flüchtlingsfrage sperren und wenn alle nur noch ihre eigenen Interessen betreiben, dann wird es schwieriger, das Projekt Europa voranzutreiben."
    Ob er sich den Analysen der Briten anschließt, ließ der emeritierte Frankfurter Politikwissenschaftler offen. In seinem Eröffnungsvortrag auf der Göttinger Tagung "Migration - Frieden - Human Security" spannte er einen Bogen von der Flüchtlingsproblematik über den islamistischen Terrorismus zu der Frage kriegerischer Interventionen. Hoffnungsfroh stimmen die Analysen des langjährig an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung tätigen Wissenschaftlers nicht. Migration, so Lothar Brock, bringe natürlich keinen Terror hervor. Aber Migranten könnten von Terroristen missbraucht werden, wenn ihre Integration misslinge. Und Integration - misslinge in der Regel.
    "Die These ist, wo Integration oder Teilhabe, Inklusion misslingt, dass da ein Rekrutierungsfeld ist für Terroristen. Und das hat sich in einigen Staaten Europas bewahrheitet. Und wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass Integration, Teilhabe sehr viel schwerer ist, als wir das bisher vorgestellt haben und dass da sehr viel mehr Anstrengungen reingesteckt werden müssen, als wir bisher geleistet haben."
    In den Ländern mehr investieren
    Heißt konkret: Anstrengungen im Bereich der Bildung, im Gesundheitssektor und im Städtebau. Aber Lothar Brock sieht auch:
    "Wenn wir auf der einen Seite sagen, wir stehen am Rande dessen, was wir tun können, dann müssen wir auch sagen, wir müssen die Zahl der Flüchtlinge begrenzen. Das wird ja auch getan, indem man sagt, man muss die in ihren Ländern halten, mehr investieren. Das sind ja Maßnahmen die Ströme zu reduzieren."
    Und natürlich müsse man den Bürgerkrieg in Syrien stoppen und den IS bekämpfen. Immer häufiger in den letzten Tagen ist das Wort "Krieg" zu vernehmen. Wann aber ist Krieg zu rechtfertigen? Gibt es einen ‚gerechten Krieg'? Eine Frage, die bis auf den Kirchenvater Augustinus zurückgeht, die aber, seit in den 90er Jahren die Kriege auf dem Balkan wüteten, wieder aktuell wurde. Militärische Interventionen, so damals die Argumentation im Westen, könnten unter bestimmten Umständen als humanitäre Aktionen gerechtfertigt sein. Nach dem 11. September 2001 erweiterten die Amerikaner das zum "War on Terror".
    "Da hat gerade aus amerikanischer Sicht die Lehre vom gerechten Krieg einen neuen Impuls bekommen. Und man hat gesagt, es ist ein gerechter Krieg gegen den Terrorismus aufzustehen, da darf uns das Völkerrecht nicht behindern, mit der Lehre vom gerechten Krieg haben wir unseren eigenen Kompass. Wenn Sie anfangen solche Kriterien zu formulieren, öffnen Sie gleichzeitig die Möglichkeit zur Legitimation von Gewalt."
    Der Afghanistan- und der Irakkrieg zeigten, dass die Kriege gegen den Terror diesen noch verstärkten. Und seit Amerikaner, Briten und Franzosen Gaddafi in Libyen beseitigt haben, herrscht auch dort Anarchie. Andererseits: Das Nicht-Eingreifen des Westens in den Syrien-Krieg war auch keine Alternative.
    "Das ist ein Dilemma, die Amerikaner sagen, you are damned if you do and damned if you don't. Sie sind verdammt, ob sie dies oder das machen. Die Erfahrungen in den letzten Jahren waren in der Tat katastrophal und es gibt keinen einfachen Ausweg. Es gibt auch nicht den Ausweg, wir ziehen uns zurück. Die Amerikaner haben das ja versucht, Obama. Dann ist er wieder reingezogen worden in den Irakkrieg und zwar in einer Form, die auf eine Militarisierung der Konfliktbearbeitung hinausläuft in einer Zeit, wo wir genau das Gegenteil wollten."
    Fehlhandeln in der arabischen Welt
    Auch wenn dem Westen sein Fehlhandeln in der arabischen Welt vorgeworfen werden kann, stellt sich zugleich die Frage, was denn ein richtiges Handeln sein könnte. Meistens, so sieht es aus, wird der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben.
    "Das hat sich in der Ägyptenpolitik gezeigt. Mit Mubarak hat man zusammengearbeitet. Als er gestürzt wurde, hat man gesagt, wir müssen uns umorientieren. Mursi, die Muslimbrüder, man hat ja teilweise versucht mit ihnen zusammenarbeiten, weil man gedacht hat, das sei eine islamische Alternative zum Terror auf der einen Seite, zu der Mubarakpolitik auf der anderen Seite. Das ist in Ägypten schlecht angekommen, wo man uns gesagt hat, ihr habt keine Ahnung von dem, was in Ägypten abgeht, wir müssen eine Alternative suchen. Und das endete im Sisi-System, das wir jetzt haben."
    Koloniales Trauma aufarbeiten
    Auch Lothar Brocks Ideen für ein "richtiges" Handeln scheinen vage. Keine hegemonialen Interventionen des Westens in Krisenländern, sondern Stärkung von lokalen Kräften? Den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten ernst nehmen und einhegen? Das ablehnende Verhältnis der arabischen Welt zum Westen nachvollziehen?
    "Es kommt darauf an, dass die arabische Welt ihr koloniales Trauma aufarbeitet. Denn was wir feststellen, ist, dass auch auf solche Terrorattacken wie jetzt in Paris, gibt es in der arabischen Welt keine großen Solidaritätserklärungen. Es gibt 1.000 Verschwörungstheorien, dass es der Mossad getan hat, der CIA getan hat. Es wäre ja gefährlich, wenn die arabische Welt sagen würde, die Lösung für unsere Selbstwertprobleme liegt in der Anwendung von terroristischer Gewalt. Also müssen wir uns bemühen, einen neuen Anlauf zu nehmen, was in der arabischen Welt vor sich geht, das verstehen wir bisher nicht. Das ist aber schwer, was ich so leicht sage, weil die Politik handeln muss. Wenn die Wissenschaftler kommen und sagen, ihr müsst das koloniale Trauma aufarbeiten, dann hilft das in der gegenwärtigen Situation nicht."
    Die Ratlosigkeit nimmt offensichtlich zu. Aber Resignation widerspricht natürlich der Aufgabe von Politik: Lösungsansätze auch dann zu suchen, wenn die Situation verfahren ist.
    "Also bleibt nur, dass man sagt, wo wir handeln können, müssen wir handeln. Das Nichtstun ist keine Alternative."