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Götz Aly: Rasse und Klasse - Nachforschungen zum deutschen Wesen

Im vergangenen Jahr erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, am 8. Mai wird er mit dem ebenfalls renommierten Marion-Samuel-Preis ausgezeichnet. Chapeau! Der habilitierte Journalist Götz Aly verknüpft in seinen Arbeiten vortrefflich wissenschaftliche Akribie und publizistisches Engagement, leider eine Ausnahme im Wissenschafts- wie im Medienbetrieb. Im Frankfurter Fischer Verlag ist jetzt unter dem Titel "Rasse und Klasse - Nachforschungen zum deutschen Wesen" eine Sammlung der jüngsten Einmischungen des Kollegen von der Berliner Zeitung erschienen.

Elke Suhr | 28.04.2003
    "Der weiße Traum des Fürsten" wurde sie genannt, die einstige Residenzstadt derer zu Putbus auf Rügen mit ihren klassizistischen Handwerkerhäusern sowie dem Pädagogicum und einem von Schinkel entworfenen Theater in ihrem Herzen, für das ein aufgeklärter adeliger Gründervater ein Vermögen hergab. Der letzte Herr dieses vormals wohlgepflegten und weltberühmten Kleinods inmitten eines über Generationen gehegten Landschaftsparks ist im KZ Sachsenhausen ums Leben gekommen.

    Dabei ist Fürst Malte zu Putbus ein rechter ostelbischer Junker gewesen, wie er in den Geschichtsbüchern der DDR und auch in vielen der Bundesrepublik steht: ein "alter Recke" gegen die kommunistische "Gosse". Er überantwortete Reichsarbeitsführer Ley einen der schönsten Strände von Rügen für das Kraft-durch-Freude-Bad Prora, das nach dem Krieg von der Nationalen Volksarmee in Beschlag genommen wurde.

    Im Laufe der Jahre erwies sich der Fürst jedoch als eigensinnig. Er nannte die Judenverfolgung eine Sünde vor Gott und die Nazigrößen seiner Residenz "Fähnleinführer". Das wurde ebenso übelnehmerisch bei der Gestapo zu Protokoll gegeben wie die Tatsache, dass Malte von Putbus sich selbst gern als "Rittmeister" titulieren und an Nationalfeiertagen Flaggen ohne Hakenkreuz hissen ließ. Als Gegner "der Bewegung" wurde er 1944 nach mehreren politischen Prozessen in "Schutzhaft" genommen.

    Verkehrte Welt. Es waren "kleine Leute", Pächter, die Malte zu Putbus mit begehrlichem Blick auf seinen Besitz ans Messer lieferten, in einer Zeit, als der "Führer" nach dem fehlgeschlagenen Unternehmen Barbarossa ohnehin erwog, die Junker zu enteignen. Mit ihrem Land sollten die einströmenden Flüchtlinge aufgefangen und die enttäuschten kleinen Bauern entschädigt werden, die vom großen "Gut" im Osten geträumt hatten.

    Aber die Geschichte war schneller. Der Familienbesitz derer zu Putbus wurde unter sowjetischer Besatzung enteignet, zerstückelt und dem Proletariat preisgegeben. Das klassizistische Schloss ließ Ulbrichts Arbeiter- und Bauernstaat sprengen, um die Renovierungskosten zu sparen. Von der Historie der DDR wurden die zu Putbus totgeschwiegen, der eigensinnige ostelbische Junker passte so gar nicht in das "antifaschistische" Zerrbild der SED.

    Sie beschränkte sich auf die Strukturen des Großkapitals, der Kriegsmaschinerie, der Partei- und Regierungsspitzen, Industrielle und eben Junker. Sie schonte den kleinen Mann, das eigene Staatsvolk, alle Schuld musste bei Leuten wie zu Putbus liegen.

    Götz Aly hält auch dem westdeutschen Justizapparat den Spiegel vor, stellt die Unrechtslinie bloß, die von der NS-Justiz über die alten neuen Richter der jungen Republik bis zum Bundesverwaltungsgericht von heute führt. Es hat nach dem Motto "Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus" rechtzeitig ein System formalrechtlicher Winkelzüge etabliert, das sich nun aus sich selbst heraus rechtfertigt und Urteile der NS-Justiz im Namen ihrerzeit bestehender Gesetze unrevidierbar erscheinen lässt. Im Falle einer Rehabilitation des 1938 wegen "Heimtücke" angeklagten Fürsten wäre ein Präzedenzfall mit unabsehbaren Folgen in Sachen Wiedergutmachung entstanden.

    Hätten sie Malte zu Putbus als Opfer der NS-Herrschaft eingestuft, dann wäre die Enteignung seines nach heutigen Normen fast unermesslichen Landbesitzes unrechtmäßig gewesen und das Besitztum hätte an dessen Erben zurückgegeben werden müssen. Und weil sie das nicht wollten, vielleicht aus wohlerwogenen Gründen nicht wollten, mussten sie ein ehrabschneidendes Urteil schreiben.

    Verkehrte Welt. Der ostelbische Junker wird von einem der höchsten deutschen Gerichte – in der Tradition der DDR-Justiz - nicht als Verfolgter anerkannt, weil eine Rückenteignung böses Blut, viel Geld, bürokratischen Aufwand und Nachfolgeprozesse gekostet hätte. Götz Aly klagt das an, räumt aber gleichzeitig ein, dass die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone in der "Logik der Geschichte" gelegen habe. Das Stöbern im Irrgarten historischer Einzelheiten ist Götz Alys Weise der Wahrheitssuche. Im Feuilleton schaut er dem Nazismus gern unter den Rock und deckt Dinge auf, die deutsche Linke mit romantischem Sentiment für die "Arbeiterklasse" peinlich berühren. Zu diesem Blick von unten habe ihn der "antifaschistische" Gutmensch östlicher Prägung angespornt, der typische Leserbriefschreiber der "Berliner Zeitung".

    Er weiß Bescheid, was er als gut oder böse, faschistisch oder antifaschistisch wertet; (...) er interessiert sich für Geschichte, weil er sie als Spiegelsaal seiner Überzeugungen sieht.

    Im "Irrgarten" einzelner Biographien und Episoden habe er die "Demut" vor der Geschichte und den Grenzen der Gewissheiten gelernt - bestimmt Götz Aly den eigenen Standort zwischen Fußnotenfronten und engagiertem Journalismus. Er suche nach der persönlichen Verantwortung, aber auch nach eigensinnigen Formen des Widerstandes, die historischen "Schulen" hüben wie drüben gegen den Strich gingen und noch immer unter den Tisch fielen. Rein zufällig hat er seine Geschichten aus der Geschichte wohl kaum gefunden. Er schöpft vielmehr aus dem Vollen einer großen empirischen Forschungsarbeit, die es ihm erlaubt, das systematisch Abstrahierte auf den Einzelfall zu bringen.

    "Klasse und Rasse" – der Titel des Sammelbandes - markiert die zentrale These, von der Götz Aly ausgeht: niemals vorher oder nachher habe in Deutschland soviel Einklang zwischen Volk und Führung bestanden wie in den Jahren 1933 bis 1945. Das Erfolgsrezept der Nazis sei das ständige Herstellen von Spannung durch Widersprüche gewesen: etwa zwischen der Erfüllung der Gerechtigkeitssehnsucht der proletarischen Massen und der Fortexistenz der besitzenden Klassen oder zwischen dem Aufstiegswillen der nachdrängenden jungen Zwischenkriegsgeneration und der Integration der alten Eliten.

    In der Tendenz brach der Begriff Rasse den Begriff Klasse. Das - so meine These – machte den Nationalsozialismus immer wieder mehrheitsfähig. (...) In einer Orgie von Krieg und Expansion, Zerstörung und Selbstzerstörung erfüllten sich die gegen Klassenschranken gerichteten Ziele der Volksgemeinschaft.

    Beeindruckend ist die Bandbreite der Themen, die Götz Aly in seinem Sammelband präsentiert. Sie reicht von einer Geschichte der deutschen Rumänienpolitik über die Vertriebenenverbände bis hin zu einem durch den 11. September veranlassten Vergleich zwischen Bin Laden und Ernst Jünger. Er offenbart, dass der nekrophile Mythos von Terror und Heldentod im Kampf gegen alte Eliten, Klassen oder Gesellschaften keine Erfindung "des Bösen" in Gestalt muslimischer Fundamentalistenführer ist, sondern im Deutschland der Zwischenkriegszeit sein Pendant findet.

    Im Kern kehrt Götz Aly zum klassischen Leitsatz zurück, dass die Geschichte eine Geschichte der Generationskämpfe sei. Auch wenn das NS-Regime systemkonforme alte Eliten größtenteils integriert habe, darin stimmt Götz Aly mit Michael Wildts Studie über die "Generation des Unbedingten" überein, habe es seine aktive Gefolgschaft aus der nachdrängenden Jugend rekrutiert, die sich selbst noch beweisen wollte. Als ehrgeizige Vollstrecker und Praktiker der "Endlösung" sei sie zur eigentlichen Triebkraft von Krieg und Massenmord geworden, den Hitler selbst nur zögerlich ins Auge gefasst habe.

    Nie zuvor hatte sich die junge Intelligenz vom Abitur an so ungehindert entfalten können. Kompromiss war dieser Generation ein Fremdwort, eine Schwäche der parlamentarisch-liberalistischen Systemzeit. Widerspruch galt ihr als Kritikastern, Zweifel als Schwäche. Jeder Expansionsschritt des Deutschen Reiches bedeutete individuellen Aufstieg, Entfaltung der eigenen Wünsche und der sozialen Utopie.