" Willkommen Herr Grass. Warum jetzt erst?"
Wickert und Grass sitzen in roten Ledersesseln einander gegenüber, auf dem Balkon eines weißen Hotels. Im Hintergrund der Park. Der Wind rauscht kräftig in den Bäumen, eine Wespe umschwirrt die Männer, ein Telefon klingelt im Hintergrund, Grass hustet. Eine fast dilettantische, jedenfalls asketische Inszenierung, die sich auf das Gespräch konzentriert, zu dem auch die etwas verschliffene Artikulation eines sichtlich entspannten Moderators gehörte. Etwas zu viel des ästhetischen Understatements bot allenfalls die Kameraführung. Doch "Wickerts Bücher" könnte mit dieser unprätentiösen Art eine schöne Ergänzung zu den schon existierenden Literatursendungen in den Hauptprogrammen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens werden, Denis Schecks "Druckfrisch" und Elke Heidenreichs "Lesen".
Ein lockerer Wickert blieb zugleich am Ball. Er ließ mit seiner entscheidenden ersten Frage nicht locker: Warum erst jetzt?
" Das lag bei mir begraben ... Ich dachte, das reicht."
Wickert reichte es nicht aus. Er bohrte nach, zählte die in den vergangenen Tag schon reichlich aufgelisteten Gelegenheiten auf, bei denen Grass, auch zur eigenen Erleichterung, hätte Farbe bekennen können. Doch der Befragte blieb scheinbar unbeugsam. Im Buch stehe alles. Mehr habe er nicht zu sagen. Basta. Doch zwischendurch verstreut kleine Sätze, die aufhorchen ließen.
" Ich war jetzt erst in der Lage das zu machen. Wer richten will, mag richten."
Grass stellte also die Frage seiner Schuldhaftigkeit zur Disposition.
" Dazu will ich nichts Verteidigendes sagen. Das würde auch schwer fallen."
Zu seinem Verschweigen - man muss es wiederholen, so beiläufig war es formuliert - "will ich nichts Verteidigendes sagen. Das würde auch schwer fallen." Der Literaturnobelpreisträger und politisch-moralische Mahner der Republik Günter Grass weiß also selbst nicht, wie er sein Verschweigen entschuldigen kann. Ein Bekenntnis, das man auch auf seine ihm vorgeworfene Doppelmoral ausweiten darf? Dass er diejenigen über Jahrzehnte verurteilte, die ihre eigene und die Verstrickung der Deutschen mit der Nazizeit verschwiegen - wie er selbst die seinige in Bezug auf die Waffen-SS. Diese zweite entscheidende Frage nach einer möglichen Doppelmoral und der Diskreditierung der moralischen Autorität von Günter Grass ex post stellte Ulrich Wickert leider nicht. Dass es auch nicht um die literarästhetischen Aspekte des Buches ging, ist angesichts der politischen Brisanz auch in einer Literatursendung zweitrangig.
Mit wenigen versteckten Wörtern hat Günter Grass also einen kleinen Schritt zur Seite getan und ist von dem Sockel hinab gestiegen, auf den er sich hat bereitwillig heben lassen. Seine Freunde von der SPD und des linksintellektuelle Mainstreams der vergangenen Jahrzehnte von Ralf Giordano bis Franz Müntefering wollen ein Denkmal schützen, das abgetreten ist. Darum muss es die konservative Intelligenz auch nicht mehr stürzen. Für die junge, nach-68er Generation einschließlich ihrer Kunstschaffenden war Grass noch nie eine Leitfigur.
So geht die Geschichte ihren Gang: Mit der Wiedervereinigung Deutschlands ging die Nachkriegszeit zu Ende. Mit der Entschädigung der Zwangsarbeiter wurde die letzte materielle Schuld abgegolten. Mit dem Einsatz deutscher Soldaten im Balkankrieg machte sich die Außenpolitik tauglich für Verantwortung in der Völkergemeinschaft. Durch die Diskussionen um den Bombenkrieg auf deutsche Städte und um die Vertreibungen lösten sich die Verkrampfungen eindimensionaler Geschichtsbetrachtung. Und mit Günter Grass' jüngstem Bekenntnis ist das weite Feld für einen gleichberechtigten und differenzierten Diskurs eröffnet.